Der Internationale Strafgerichtshof hat Haftbefehl gegen Wladimir Putin erlassen. Der russische Präsident soll sich für die Kriegsverbrechen in der Ukraine verantworten, insbesondere die Verschleppung von Kindern wird ihm vorgeworfen. Für viele Experten ist es ein starkes politisches Signal, einige poltern auf Twitter, dass dann doch auch US-Präsidenten angeklagt werden müssten, für die meisten von uns ist es vor allem ein Schauspiel auf der Bühne der Mächtigen, das sehr weit weg erscheint.
Spannend finde ich, dass ich mich schon einmal mit diesem Thema auseinandergesetzt habe, wenn auch mit anderen Vorzeichen. Der Autor Marc Elsberg hat all dies nämlich in seinem Thriller "Der Fall des Präsidenten" mehr oder weniger exemplarisch durchgespielt. Daher hier sozusagen aus aktuellem Anlass meine Rezension zu diesem Roman, die ich vor zwei Jahren schrieb als Marc Elsberg (zusammen mit Dietmar Wunder als Sprecher) bei uns beim Mordsharz-Festival zu Gast war:
Am Flughafen in Athen wird der ehemalige US-Präsident verhaftet. Im Auftrag des Internationalen Strafgerichtshofs. Kriegsverbrechen werden ihm vorgeworfen. Völlig unerwartet und schockierend für alle Anwesenden, ein internationaler Skandal, wenn die Welt es mitbekommt. Daher werden sofort alle diplomatischen Strippen gezogen, um den Staatsmann so schnell wie möglich und vor allem mit so wenig Aufsehen wie möglich aus seiner misslichen Lage zu holen, notfalls eben mit Drohungen, die das politische und wirtschaftliche Miteinander der USA und Europas auf die Probe stellen.
Doch in der heutigen Zeit lässt sich eine solch nie dagewesene Ungeheuerlichkeit natürlich nicht vertuschen, ein Video taucht im Internet auf und verbreitet sich rasend schnell. Jetzt heißt es, im Hintergrund klug zu agieren, um eine Eskalation, vor allem aber einen Prozess gegen den Präsidenten und damit gefühlt gegen den Hüter der freien Welt zu verhindern.
Allein diese Ausgangslage in Marc Elsbergs Thriller „Der Fall des Präsidenten“ ist ebenso gewagt wie absurd. Gewagt, weil in der Realität so schlicht unvorstellbar, absurd, weil natürlich die Frage gestellt werden muss, warum gerade die USA den Internationalen Gerichtshof in Den Haag nicht anerkennen. Dabei ist der Hintergrund wie so oft bei Marc Elsberg ebenso real wie brandaktuell, die Trump-Regierung hatte die Chefanklägerin mit Sanktionen belegt, allein schon, weil sie mögliche US-Kriegsverbrechen in Afghanistan untersuchte.
Diese Diskrepanz zwischen dem Anspruch der USA als Hüter der freien Welt und dem kalten Hinwegsetzen über internationale Statuten treibt Elsberg auf die Spitze. Seine Anklägerin nennt er Dana Marin, verpasst ihr eine persönliche Motivation durch Kindheitserfahrungen im Kosovokrieg und spielt die Verhaftung des in diesem Fall fiktiven Präsidenten gut recherchiert durch.
Vor Gericht wird ganz im Stil des klassischen Gerichtsthrillers verhandelt, ob es überhaupt zur anklage kommen darf, hinter den Kulissen werden die diplomatischen und auch militärischen Möglichkeiten ausgelotet. Zudem tobt in den Medien und damit in der Öffentlichkeit ein Krieg um die Deutungshoheit dieser Angelegenheit und natürlich werden Dana Marin und alle in ihrem Umfeld diffamiert, eingeschüchtert und bedroht.
Wie immer in seinen Büchern entwirft Marc Elsberg ein Szenario, das im Grunde schon morgen eintreten könnte und spielt es konsequent und sehr detailliert durch. Alles, was er schreibt, wirkt akribisch wirklichkeitsnah konstruiert, was es umso erschreckender macht und abseits der eigentlichen Handlung viele Fragen zum fragilen Gefüge der internationalen Politik und eben insbesondere zur Rolle der USA in der Welt aufwirft. Es geht letztlich um nicht weniger als den Kampf zwischen Macht und Moral, wohl eines der wichtigsten Themen unserer Zeit oder der Menschheit überhaupt.
Besonders erfreulich ist aber, dass Marc Elsberg mit Dana Marin eine lebensecht wirkende Hauptfigur geschaffen hat, die nicht nur ihre Funktion als Mittlerin für den Leser erfüllt. Besonders eine Szene, in der Dana sich mit dem Taxi zum Gericht fahren lässt und dabei mit dem Fahrer ins Gespräch kommt, zeigt, dass ihm auch die kleinen, zwischenmenschlichen Szenen gelingen. Der Taxifahrer macht deutlich, dass er nicht auf ihrer Seite ist, weil er sich vor den Konsequenzen eines solchen Prozesses fürchtet. Natürlich weiß er, dass die Kriegsverbrechen in Afghanistan zu verurteilen sind, ist aber fest überzeugt, dass man immer nur die Kleinen hängt, während man die Großen laufen lässt, und dass ein Prozess gegen die USA die nächste Wirtschaftskrise nach sich zieht, von der dann auch er und seine Familie betroffen sein wird.
In Szenen wie dieser wird immer wieder deutlich, wie brisant das Thema ist, weil es um äußerst plausible Szenarien geht, die genau wie in Elsbergs anderen Büchern „Blackout“, „Zero“, „Helix“ und „Gier“ letztlich jeden Einzelnen betreffen können. Er legt mit seinen Thrillern den Finger in Wunden, die viele vielleicht nicht als solche erkennen und regt damit immer wieder wichtige Diskussionen an.
Auf jeden Fall bin ich gespannt, ob diese Fiktion im Falle Putin zum Teil wahr werden wird. Und ganz aktuell ist übrigens Marc Elsbergs neuester Thriller "°C - Celsius" erschienen, in dem es um die Erderwärmung geht, auf den ich auch schon äußerst neugierig bin.
Der Eurovision Song Contest oder damals noch Grand Prix Eurovision de la Chanson hat mich schon als Kind fasziniert. Sehr gut kann ich mich noch an einen Abend erinnern als ich bei Bibi, einer guten Freundin der Familie übernachtet habe – damals liebte ich es an den Wochenenden bei Oma und Opa, meiner Großtante oder anderen Erwachsenen zu übernachten, weil es einfach ein Abenteuer war – und wir abends keinen Zeichentrickfilm, sondern den Grand Prix geguckt haben.
Bibi war eine alleinstehende Lehrerin, vor allem Künstlerin, ein wenig exzentrisch und für mich eben anders als viele andere damals. Vor allem aber liebte ich es, dass sie mich nicht wie ein
kleines Kind behandelte, sondern ich mich bei ihr ernstgenommen und dementsprechend erwachsen fühlte. So auch an diesem Abend als ich die bis in die Nacht dauernde Show ganz selbstverständlich
und ohne Diskussionen bis zum Ende mit ihr ansehen durfte.
Außerdem begeisterte mich das Konzept, dieser internationale Wettstreit, dieser Blick über den spießig deutschen Tellerrand hinaus, kurzum ich fühlte mich erwachsen und weltgewandt wie selten
zuvor. Ehrlich gesagt weiß ich heute nicht mehr, welcher deutsche Song damals teilnahm oder wer den Contest gewann, aber das war ja auch nebensächlich, ging es doch um Völkerverständigung, um
Einblicke in fremde Kulturen und um die große weite Welt des internationalen Showgeschäfts.
Diesen Status hat der ESC für mich im Grunde immer behalten, wenn vielleicht auch mit kleinen Abstrichen in der B-Note. Auf jeden Fall aber habe ich die Show viele Jahre lang gesehen, ein besonderes Highlight war dabei das Public Viewing in einer Kirche. Das Gotteshaus feierte 300-jähriges Bestehen, es sollte etwas Besonderes werden und im Sinne des grenzenlosen Miteinanders gab es eine Predigt mit dem Tenor, dass wir ja alle Gottes Kinder sind und Grenzen etwas absolut Weltliches und eben Menschengemachtes, bevor dann gemeinsam auf einer großen Leinwand der ESC geguckt wurde.
Mich persönlich freute, dass damals Bonnie Tyler für das Vereinigte Königreich antrat, die meisten anderen drückten Cascada für Deutschland die Daumen, gewonnen hat am Ende Emmelie de Forest mit
„Only Teardrops“, ehrlich gesagt bis heute einer der besseren Siegertitel. Auf jeden Fall war auch das für mich wieder ein unvergesslicher Abend und letztlich auch eine Bestärkung darin, dass ich
ein zusammenrückendes Europa als tolle Idee ansehe, während mir Nationalstolz ehrlich gesagt ziemlich fremd ist.
Nun ist der ESC sicher vielmehr Medienspektakel als gesellschaftsprägend, trotzdem mag ich die Idee dahinter nach wie vor und bin auch nach wie vor überzeugt, dass solche Events über Grenzen
hinweg wichtig sind. Es mag sein, dass sie bei einigen genau wie beispielsweise Fußball auf internationaler Ebene den Nationalismus nur noch mehr fördern, bei mir bewirkte es immer klar das
Gegenteil. Ich beschäftigte mich dadurch mehr mit mir fremdem Musikgeschmack, versuchte zu verstehen und war ehrlich gesagt äußerst selten Fan der deutschen Beiträge und Teilnehmer.
Das änderte sich in diesem Jahr. Lord of the Lost höre und mag ich seit zehn Jahren, genaugenommen seit einem Festival, bei dem ich die Band damals live erlebte und ziemlich begeistert war. Noch spannender wurde es für mich als Nik dort als Drummer einsteig, Nik, den ich kenne, seit er quasi Nachbar meiner Ex-Freundin war, und der auch heute wieder kaum drei Straßen von mir entfernt wohnt.
Ja, bei diesem ESC bin ich parteiisch, allerdings mag ich auch „Blood & Glitter“ sehr, den Song und auch das gesamte Album. So war es selbstverständlich, dass wir am vergangenen Freitag zum
Vorentscheid unsere eigene kleine ESC-Party gefeiert und Lord of the Lost die Daumen gedrückt haben. Ganz abgesehen vom Ergebnis war es fast wieder so schön und so spannend wie damals bei Bibi.
Noch viel spannender fand ich allerdings am nächsten Tag etliche Kommentare auf Social Media. Manche fanden die Musik schlicht zu laut, okay, das ist einfach der persönliche Geschmack. Andere
wünschten sich Nicole zurück, also das typische Früher-war-alles-besser-Gejammere, was ich immer schon ziemlich unerträglich finde. Wieder andere regten sich über die Kostüme auf, die Band und
der Song waren ihnen zu wenig deutsch, zu divers, zu linksgrünversifft, was auch immer.
Da frage ich mich dann immer, ob der Song wirklich der Auslöser ist oder ob solchen Leuten nicht im Grunde alles recht ist, um gegen die da oben etc. zu hetzen. Normale Bürger würden sich nicht von den „pinken Herren“ vertreten lassen wollen, twitterte Frauke Petry. „Keine Sorge, Frauke, euch ‚normale Bürger‘ vertreten wir auch nicht. Haben wir nie, werden wir nie“, antworteten Lord of the Lost. Auch ich konnte es mir nicht verkneifen, das zu kommentieren und schrieb: „Naja, Frau Petry, Lord of the Lost wurden von einer Mehrheit gewählt. Das wurden Sie schon länger nicht mehr, oder?“
Eigentlich mag ich mich an sowas ja gar nicht beteiligen, denn es bringt ja doch nichts. Allerdings finde ich es immer wieder unerträglich, wenn alles, was den eigenen Dunstkreis übersteigt, erst
einmal abgelehnt oder gar verteufelt wird. Vor allem, wenn es nur um neue Musik geht oder um vegane Schnitzel oder von mir aus auch um Gendersternchen.
Haben wir keine wirklichen Probleme? Ja, die Frage ist rhetorisch. Aber ich frage mich immer mehr, warum sich Menschen über Kleinigkeiten derart ereifern und letztlich Lager bilden, die zu tiefen
Rissen in unserer Gesellschaft führen. Da frage ich mich dann, ob wir nicht noch viel mehr Eurovision Song Contes brauchen, um zumindest in Sachen Musik toleranter zu werden. Und noch viel mehr
„Blood & Glitter“, denn da heißt es im Text: „We are all from the same blood.“
Das Spiel „Hogwarts Legacy“ erscheint am kommenden Freitag und sorgt schon seit Wochen für Schlagzeilen. Weil es im Harry Potter-Universum spielt und weil dessen Schöpferin J. K. Rowling sich seit längerer Zeit immer wieder kritisch gegenüber Transpersonen äußert. Für viele steht nun die Frage im Raum, ob das Spiel aufgrund der transphoben Haltung der Autorin boykottiert werden sollte.
Das Thema ist so viel komplexer als diese eine Fragestellung. Es fängt damit an, dass Rowling nicht gegen Transmenschen an sich wettert, sondern vor allem behauptet, das biologische Geschlecht
sei nun einmal ein Fakt. Das brachte ihr in der öffentlichen Diskussion die Bezeichnung „TERF“ ein, Trans-Exclusionary Radical Feminism, also eine radikale Feministin, die Transfrauen nicht als
Frauen ansieht. Mit verschiedensten Äußerungen auf Social Media befeuerte die Autorin die Diskussion immer wieder, was auch immer wieder aufgegriffen wurde.
Hierzu bleibt festzustellen, dass das Transgender-Thema in der öffentlichen Diskussion noch relativ jung und damit für viele Menschen ein völlig unbekanntes Feld ist. Durch das Gendern und
insbesondere das Sternchen, das explizit non-binäre Menschen einbeziehen soll, ist es auch bei uns immer wieder präsent, wenn es um Sprache und Diskriminierung gilt.
Da es eben eine noch relativ junge Diskussion ist, möchte ich an dieser Stelle klarstellen, dass auch ich längst nicht genug darüber weiß, um es kompetent aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und mich daher lediglich als Sprach- und Literaturwissenschaftler herantaste. Das aber möchte ich auf jeden Fall tun, weil es mir wichtig erscheint und offenbar ja auch für sehr viele Menschen ein Reizthema ist.
Letzteres wurde in der vergangenen Woche besonders deutlich, als der Streamer Gronkh auf Twitch ankündigte, er wolle „Hogwarts Legacy“ nach Release spielen. Allein das brachte ihm harsche Kritik
ein. Vermutlich werde er aufgrund der Brisanz einen Spendenstream daraus machen und Geld für eine Organisation für die Rechte von Transmenschen sammeln, führte er aus. Da er dennoch weiter
angefeindet wurde, stellte er klar, dass es ihm keinesfalls darum gehe, J. K. Rowling zu unterstützen oder ihrer Meinung eine Plattform zu bieten (zumal sie mit dem Spiel an sich nichts zu tun
habe), diese Frau sei ihm egal.
Genau dieser letzte Satz, dass J. K. Rowling in seinem Leben keine Rolle spiele, wurde wiederum auf Social Media aufgegriffen, wo ihm verschiedene Menschen nun eine transphobe Haltung
unterstellten. Wem Transpersonen egal sind, fördere damit die Diskriminierung, so die Argumentation. Twitter brannte förmlich, aber gut, Twitter brennt ja eigentlich immer.
Interessant an dieser Episode ist, welche großen Kreise eine kleine Äußerung plötzlich ziehen kann, wie viel zwischen den Zeilen doch immer wieder interpretiert wird, wovon Menschen sich
angegriffen bzw. getriggert fühlen und dass es letztlich vor allem jene waren, die ohnehin gegen Transmenschen hetzen, die sich nun bestätigt fühlten. Warum? Weil die ja schlicht alles nutzen, um
sich als Opfer darzustellen... oder so ähnlich.
Aus Sicht des Sprachwissenschaftlers möchte ich nun hierzu anmerken, dass unsere Sprache sich immer schon parallel zur Gesellschaft entwickelt, also in einem stetigen Wandel ist. Immer mal wieder werden solche sprachlichen Entwicklungen in ein Regelwerk gegossen, aber vor allem bildet sie uns Menschen ab, unsere Gesellschaft und damit auch alles, was für diese Gesellschaft ein Thema ist.
Wenn nun gesellschaftlich darüber diskutiert wird, ob Frauen benachteilig werden und ob das auf homosexuelle Menschen noch mehr und auf Transpersonen am allermeisten zutrifft (ja, die Darstellung
ist verkürzt), dann schlägt sich das auch immer in der Sprache nieder. Es ist somit kein Wunder, dass in den vergangenen Jahren über die Sichtbarkeit weiblicher Berufsbezeichnungen oder auch über
das Gendersternchen diskutiert wird. Welche Formen sich letztlich durchsetzen, wird allein die Zukunft zeigen.
Dass diese sprachlichen Unklarheiten diskutiert werden, ist gut und richtig. Nur so kann sich Sprache entwickeln, nur so kann sich auch eine Gesellschaft entwickelt, weil die letztlich auch durch
ihre Sprache geprägt wird. Warum solche Diskussionen aber oft derart verbittert geführt werden, erschließt sich mir nicht. Warum sich Menschen durch ein Sternchen persönlich angegriffen fühlen,
kann ich schlicht nicht nachvollziehen.
Aus literaturwissenschaftlicher Sicht geht es bei „Hogwarts Legacy“ um die Frage nach der Trennung von Werk und Autor. Lässt sich beides unabhängig voneinander betrachten? Ganz klar ja. Solange das Werk nicht eindeutig die Ideologie der Autor*in bedient, kann es erst einmal für sich stehen.
Auf der anderen Seite kann eine gewisse Haltung selbstverständlich auch so schwer wiegen, dass es subjektiv nicht mehr möglich ist, ein Werk zu mögen, wenn die Autorin oder der Autor eine Haltung
vertritt, die ich so gar nicht teile. Allerdings glaube ich, dass wir mit solchen strikt ablehnenden Urteilen vorsichtig sein müssen, erst recht in einem Fall, in dem die Autorin (Rowling) mit
dem Werk (Hogwarts Legacy) direkt kaum noch etwas zu tun hat.
Wenn ich nämlich anfange, alles zu boykottieren, an dem jemand beteiligt ist, dessen Meinung zu irgendetwas nicht gefällt, dann bleibt am Ende nicht viel übrig. Müsste ich dann nicht auch Disney
boykottieren, weil Walt so gar kein Problem mit den Nazis hatte?
Genau diese letzte Frage stellte ich kürzlich auch auf einer Plattform im Netz und bekam zu meiner Verwunderung folgende Antwort: „Was du findest finden andere ganz anders und wer gibt dir das
Recht zu sagen daß es anders empfunden werden muss. Dein empfinden ist deins und das andere das andere. Wenn mir bei Transen schlecht wird und dich das aufgeilt kannst du mir das nicht aufzwingen
weil wer bist du? :) Kapiert?!“ Nee, hab ich nicht kapiert.
Wenn ich das richtig sehe, schulde ich euch noch den letzten Teil meiner Begegnung mit Boris Pistorius in der Erstaufnahmestelle. Die Geschichte muss ja noch ihr würdiges Finale finden oder eben die Erklärung, warum mir dieser Tag so in Erinnerung geblieben ist. Hier kommt es also:
In der Konferenz sprach Boris Pistorius dann über die 600 Plätze, die es in der Unterkunft eigentlich gab und über die 850 Menschen, die zu jenem Zeitpunkt im Spätsommer 2014 dort lebten. Doch er verwehrte sich gegen die Aussage, das Boot sei voll und plädierte stattdessen für mehr Geld für die Aufnahme von Flüchtlingen und eine Erweiterung der Aufnahmekapazitäten, um die auf uns zukommenden Engpässe wenigstens einigermaßen in den Griff zu bekommen. Vor allem sollten die Kommunen vom Bund mehr unterstützt werden, da sie diejenigen seien, bei denen sich steigende Flüchtlingszahlen am deutlichsten bemerkbar machen. Dazu müssten dann eben auch ein paar Gesetzesänderungen auf den Weg gebracht werden.
Damals war Pistorius einer der ersten, zumindest aber einer der entschlossensten Politiker, die so argumentierten. Auf große Resonanz trafen seine Forderungen bekanntermaßen nicht. Heute frage ich mich immer noch, warum die Politik nicht schon viel früher reagiert hat, nicht schon viel früher weitere Flüchtlingsunterkünfte geschaffen hat und vor allem nicht viel mehr in Bewegung setzte, um den Bürokratiestau bei den Asylanträgen und bei den elementaren Voraussetzungen für die Integration in unserem Land abzubauen. Hätte das nicht von Anfang an viel mehr Bereitschaft in der Bevölkerung geschaffen, die Entscheidungen mitzutragen?
Nach der Pressekonferenz machte ich mich jedenfalls schnell auf den Weg zu unserem Basar, wo mittlerweile großer Andrang herrschte. Ich möchte fast sagen, die Kleidung wurde den Damen aus der Hand gerissen, doch das stimmt einfach nicht. Die meisten Menschen aus aller Herren Länder hielten geduldig die Hand auf, lächelten und bedankten sich wortreich in Sprachen, die wir nicht verstanden. Viele von ihnen nahmen die Klamotten genau unter die Lupe, untersuchten, ob sie passten und gaben sie anderen, wenn das nicht der Fall war. Mich rührten vor allem die großen Kinderaugen, die leuchteten, wenn sie Kuscheltiere oder anderes Spielzeug in die Hand gedrückt bekamen.
Minister Pistorius gab währenddessen den Fernsehleuten ein paar schnelle Interviews, dann kam er tatsächlich zu unserem Stand herüber. Und er nahm sich sogar Zeit, einige Worte mit den Damen zu wechseln. Frau B. erzählte von ihrer Erfahrung mit den Asylanträgen und fragte, warum der Staat den Flüchtlingen dafür nicht einen Begleiter zur Seite stellen könne. Leider gebe es dafür kein Geld, antwortete Pistorius sinngemäß, die Flüchtlinge seien grundsätzlich auf sich allein angewiesen. „Deshalb ist es ja so wichtig, dass es ehrenamtliche Helfer wie Sie gibt.“
Vielleicht war es dieser Moment oder vielmehr diese Erkenntnis, die mir zeigte, dass das, was diese Gemeinde und andere taten, keinesfalls ein Selbstzweck war. Vielmehr war es der wichtigste Baustein, um ein programmatisches „Wir schaffen das“ Wirklichkeit werden zu lassen. Selbst wenn der Staat Flüchtlinge aufnimmt und sie damit vor Krieg, Hunger und Verfolgung bewahrt, ist das immer nur der erste Schritt. Der zweite besteht darin, ihnen einen wirklichen Neuanfang zu ermöglichen. Und der kann nur gelingen, wenn zu den offensichtlichen Voraussetzungen auch die weniger sichtbaren hinzukommen.
Der 27. Januar sei nicht nur ein in die Vergangenheit gerichteter Gedenktag für die Opfer des Holocaust, sondern auch für die Gegenwart von Bedeutung, sagte Dr. Elke Gryglewski, Leiterin der Gedenkstätte Bergen-Belsen und der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten. "Seit 2015 haben wir eine Partei im Bundestag, die Erinnerungskultur infrage stellt", begründete sie ihre Aussage, außerdem einen sich immer weiter in der Gesellschaft ausbreitenden Rassismus. Allerdings sei das zu einfach, um zu begründen, warum das Erinnern in unserer Gesellschaft wichtig ist.
Dr. Gryglewski war im Eichsfeld-Gymnasium Duderstadt zu Gast, wo sie am Vormittag gemeinsam mit ihrer Kollegin Marie Kuehnel, FSJ an der Gedenkstätte Bergen-Belsen, einen Workshop zur Gedenkkultur in der Bundesrepublik und zum Erinnern in der Region anbot und am Abend im Forum des Schulzentrums einen Vortrag hielt. Beides ist Teil einer großen ökumenischen Gedenkwoche, wie Pastor Johann-Hinrich Witzel erläuterte.
Mit einem Budget der Hanns-Lilje-Stiftung stellte er verschiedene Veranstaltungen auf die Beine, um die Bedeutung der Aufarbeitung und des Gedenkens für den Kirchenkreis Harzer Land bzw. das Eichsfeld herauszustellen und um "Licht ins Dunkel des Vergessens zu bringen", wie er sagte. Die Stadt Duderstadt und eben die Schule waren sofort mit dabei.
Jene Menschen, derer gedacht wird, wurden im Nationalsozialismus ermordet", betonte Dr. Gryglewski, die Folgen dieser Verbrechen seien in den Familien der Opfer wie auch der Täter bis heute spürbar. Zwar sei die Jugend von heute damals nicht dabei gewesen, viele haben auch keine Eltern und Großeltern mehr, die von dieser Zeit aus eigenem Erleben berichten können, doch gerade das mache eine Auseinandersetzung damit so wichtig.
Dabei gelte auch zu bedenken, dass viele von der Ideologie des Nationalsozialismus überzeugt waren oder vielen tatenlos hingenommen haben, auch später noch. Viele Täter bekleideten auch in der Zeit nach 1945 wieder hohe Ämter, andere flohen und wurden nie zu Rechenschaft gezogen. "Viele Nazis waren noch sehr einflussreich", so die Referentin.
Doch war eigentlich Täter? Waren es die, die tatsächlich an Gräueltaten beteilig waren oder auch die, die wegschauten und sie somit zuließen? Diese Frage sei nicht so leicht zu beantworten. "Das System hatte viele Schreibtischtäter und Mitwisser", sagte Elke Gryglewski, "ich glaube, dass die Täter*innen viel zu gut davongekommen sind." Die Schäler hätten sie am Vormittag bereits nach dieser Einschätzung gefragt. Die Ideologie lebte jedenfalls fort und viele Opfer wie beispielsweise Sinti und Roma, blieben Opfer.
In der anschließenden Diskussion, die ebenfalls sehr auf die Schüler zugeschnitten war, aber durchaus auch die vielen anderen Besucher einbezog, ging es dann unter anderem um die Frage nach der Aufarbeitung in unseren Nachbarländern. Mit dortigen Gedenkstätten kooperiere man natürlich, erläuterte Dr. Gryglewski, doch sei die Situation in den Niederlanden, in Frankreich, in Polen jeweils eine spezifische und somit auch die Aufarbeitung. Wichtig sei ihr aber, das es geschieht, auch um die Demokratie heute zu stärken.
So kamen in dieser Diskussionsrunde viele persönliche Erfahrungen und auch weitere Fragen auf, die zunm einen deutlich machten, dass längst nicht alles beantwortet ist, und zum anderen, dass Erinnern lebendig ist und die Geschichte tatsächlich bis heute Auswirkungen auf uns hat. Daher gibt es auch weitere Veranstaltungen zum Gedenktag, so beispielsweise ein Konzert des Klezmer-Projekt-Orchesters am Freitag, 27. Januar, ab 20 Uhr im Schulzentrum sowie die Ausstellung "Christliche Märtyrer", die zum Wochenende dann in die St. Servastius-Kirche umziehen wird.
Bevor ich nun allerdings Nebelkerzen werfe und vor mich hinschwurble, möchte ich euch noch eine Anekdote erzählen, an die ich im Zusammenhang mit Boris Pistorius immer denken muss. Diejenigen, die diesen Blog von Anfang an verfolgen, kennen die Geschichte, trotzdem möchte ich sie euch noch einmal erzählen.
Irgendwann im Sommer 2015 besuchte ich erstmals eine Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete. Ein Pastorenehepaar hatte eine Kleidersammlung ins Leben gerufen. Sie hatten einer Flüchtlingsfamilie bei den Anträgen beim Bundesamt für Migration in Braunschweig geholfen und sich dabei ein Bild von den Unterkünften machen können. „Wir erlebten Menschen, die trotz Dolmetscher mit der deutschen Bürokratie überfordert waren und Kinder, die seit ihrer Flucht nichts besaßen außer den Kleidern, die sie am Leib trugen“, erzählte mir Pastorenehefrau B.
Kurzerhand riefen sie in der Gemeinde zu einer Kleiderspende auf, bei der Kartons für zwei große Transporter zusammenkamen. Die Landesaufnahmebehörde erlaubte einen Basar auf ihrem Gelände, allerdings mussten die Initiatoren alles selbst organisieren. Alles, was ich tun konnte, war zuzusichern, dass ich mitkommen und über das ehrenamtliche Engagement berichten würde. „Könnten Sie dann vielleicht auch einen der Transporter fahren?“, fragte mich Pastor B. Außer ihm waren es nun einmal überwiegend Helferinnen und kaum eine traute sich mit einem größeren Gefährt als dem eigenen Pkw vom Harz aus in die große Stadt zu fahren. Wenn ich ehrlich war, hatte ich seit meiner Zivizeit auch keinen Transporter mehr durch Innenstädte manövriert, doch ich sagte natürlich zu. Wann bekommt man als Journalist schon mal die Gelegenheit zu praktischer Arbeit?
Tatsächlich kamen wir schließlich auch gut auf dem Gelände an und während Pastor B. und seine Damen den Basar vorbereiteten, machte ich mich auf den Weg zur Pressekonferenz des Niedersächsischen Innenministers, der zufällig an diesem Tag auch in der Einrichtung war. Auf dem Weg dorthin kam ich an Kasernengebäuden vorbei, aber auch an auf den Rasenflächen aufgebauten Containern. Dicht an dicht standen sie, dazwischen Wäscheleinen, Kinderwagen und manches mehr, was jetzt im Sonnenschein nach Alltag aussah. Vorstellen, wie man als Familie in so einem Container über mehrere Wochen leben konnte, wollte ich mir jedoch lieber nicht.
Vorm Eingang des Hauptgebäudes hatten sich schon Kollegen vom NDR, ZDF und RTL mit ihren Kameras und andere von der Braunschweiger Zeitung oder der Hannoverschen Allgemeinen positioniert, dass ich auf die Gästeliste gerutscht war, konnte kaum mehr als ein glücklicher Zufall sein. „Und für wen sind Sie hier?“, fragte mich die nette Security-Dame. „Ich schreibe für den Kirchenkreis Harzer Land“, antwortete ich wahrheitsgemäß und werde wohl nie die irritierten Blicke der anderen Journalisten vergessen.
„Philipp?“, fragte ich nur irritiert. Dass er jetzt Pressesprecher im Innenministerium war, wusste ich nicht, vor ein paar Jahren, damals in Osnabrück, war er jedenfalls noch einer der jüngsten meiner Dozenten an der Uni gewesen. Somit gab es für die Kollegen der großen Medien die zweite Überraschung als ich nämlich nicht nur so dreist war, um ein paar exklusive Fotos des Ministers mit unseren ehrenamtlichen Helferinnen zu bitten, sondern auch noch als Antwort bekam: „Na okay, ich sehe mal, was ich für dich machen kann.“
Fortsetzung folgt...
Boris Pistorius wird neuer Verteidigungsminister. Das las ich heute als erste Schlagzeile und weiß ehrlich gesagt noch nicht, ob ich mich darüber freuen soll. Pistorius war von 2006 bis 2013 Osnabrücker Oberbürgermeister, anschließend dann Innenminister von Niedersachsen. Er machte in der Vergangenheit durch zum Teil markige Worte zum Thema Islamismus, Abschiebung von Gefährdern und zur Asyl- und Flüchtlingspolitik sowie zu Rechtsextremismus und -populismus auf sich aufmerksam.
Fakt ist für mich, dass seine Vorgängerin Christine Lambrecht sich nun wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert hat und wenn sie bei ihrem Abtreten dann auch noch den Medien die Schuld geben will, dem Amt offenbar schlicht nicht gewachsen war. Da Pistorius soweit ich das beurteilen kann innerhalb seiner Partei, der SPD, eine gute Reputation hat, ist sein Schritt auf die politische Bundesebene keine allzu große Überraschung.
Nun lebte ich noch in Osnabrück als Pistorius dort noch Bürgermeister war. Soweit ich das beurteilen kann, hat er keinen schlechten Job gemacht, ganz im Gegenteil. Das gilt ebenso für seine Arbeit als niedersächsischer Innenminister. Er hatte eine klare Linie, deutliche Positionen, hat sich hier insbesondere immer wieder für bessere Bedingungen für die Polizei und die Rettungskräfte stark gemacht.
Als Lokaljournalist habe ich natürlich immer nur einen eingeschränkten Blickwinkel, aber insbesondere als er im vergangenen Jahr bei der hiesigen Feuerwehr zu Gast war, hatte ich den Eindruck, dass sein Ansehen dort ganz gut ist und vor allem diskutierte er sehr offen mit den Leuten und konnte auch zuhören, was bei Politikern ja nun mal eine eher seltene Eigenschaft ist.
„Seit ich im Amt bin, ist vieles nicht leichter geworden“, sagte Pistorius, seitdem gab es immer wieder politische und zivile Herausforderungen wie die Integration von Flüchtlingen in unsere Gesellschaft, die Flut im Ahrtal oder einen Angriffskrieg auf europäischem Boden. All das betrifft nicht nur die „große Politik“, sondern auch viele Einsatzkräfte und Ehrenamtliche vor Ort. Durch Putins Krieg und nicht zuletzt den Klimawandel werden die Herausforderungen nicht geringer, schloss er und betonte, dass wir auf Katastrophen welcher Art auch immer vorbereitet sein sollten, weshalb er auch die Investitionen in die Bundeswehr für absolut richtig hält. „Wir haben in den letzten dreißig Jahren verlernt, mit Gefahren zu leben“, sagte er, jetzt scheint eine andere Zeit angebrochen zu sein.
Ob er wirklich etwas von Außenpolitik, von der Bundeswehr, vom Job als Verteidigungsminister versteht, weiß ich schlicht nicht. Allerdings brauchen wir in Zeiten eines andauernden und vermutlich noch lange andauernden Krieges in der Ukraine in diesem Amt jemanden, der überlegt ist, und der auch etwas davon versteht oder zumindest einen weiten Blick auf diesen Konflikt und alles, was damit zusammenhängt hat.
Da ich grundsätzlich das Gefühl habe, dass unsere Regierung vor allem mit sich selbst zu tun hat, mit dem Zusammenspiel der Koalitionspartner, mit der geschlechtergerechten Besetzung von Posten, damit, überhaupt eine klare Linie zu finden, hoffe ich einfach, dass Boris Pistorius mit Blick auf die Sache und nicht auf die Personalkonstellation berufen wurde. Immerhin verliere ich als Niedersachse einen guten Innenminister und es wäre schade, wenn ich dafür einen schlechten Verteidigungsminister bekäme.
Wisst ihr, was das erste Youtubevideo war? Es hieß „Me at the zoo“ und zeigte einen jungen Mann vor dem Elefantengehege im San Diego Zoo. Cool sei, dass die Elefanten so einen langen Rüssel haben, sagte er, dann war es nach 19 Sekunden auch schon wieder vorbei. Um die Elefanten und ihre Rüssel soll es hier aber nicht gehen, sondern um den Videoersteller, der niemand anders war als Jawed Karim, Mitgründer der heute millionenfach genutzten Website.
Was überraschen mag: Jawed Karim ist Deutscher. Er wurde 1979 in Merseburg geboren, sein Vater Naimul stammt aus Bangladesh und arbeitete hier als Chemiker, seine Mutter Christine kommt ganz aus meiner Nähe, aus Wernigerode, ist heute Assistenz-Professorin in Minnesota. Ihren Mann lernte sie während des Studiums kennen.
Die Familie reiste 1982 aus der DDR aus, weil sie sich dort nicht mehr willkommen fühlte. „Wir passten nicht ins Bild“, sagte Christine Karim vor einigen Jahren der Zeit in einem Interview, „„Die Leute sagen mir jetzt immer, was für ein Glück, dass ihr raus durftet. Ich wäre aber eigentlich gern geblieben, das war ja meine Heimat.“ Doch auch Westdeutschland sollte nicht für immer ihre Heimat bleiben.
Der Grund für das Auswandern in die USA waren zum einen ein Jobangebot für Naimul Karim, zum anderen die ausländerfeindliche Stimmung in Deutschland und ganz konkret die fremdenfeindlichen Übergriffe in Hoyerswerda, Rostock und Mölln. So kam Jawed 1992 in die USA, studierte Informatik und gründete mit mit 26 Jahren gemeinsam mit Chad Hurley und Steve Chen Youtube. Ein Jahr später wurde die Videoplattform an Google verkauft, Jawed erhielt laut Wikipedia für seine Anteile 64 Millionen US-Dollar, mit denen er kurz darauf ein Unternehmen gründete, das Studenten finanziell unterstützt, ihr eigenes Start-Up aufzubauen.
All das hätte mit einigen veränderten Vorzeichen also auch in Deutschland stattfinden können und wer weiß, vielleicht würde Jawed Karim dann heute Frank Thelen den Rang als bekanntester Investor Deutschlands und Internet-Wirtschaftsexperte streitig machen. Wäre ja nicht das Schlechteste. Doch die Geschichte lief eben anders. „Das war 1992 eine schlimme Situation in Deutschland“, sagte Christine Karim im zitierten Interview. Ganz anders in Minnesota: „Die Leute interessierten sich für uns. Wir waren jetzt Einwanderer und wollten ein Teil dieser Gesellschaft werden.“
Besonders dieser letzte Satz sagt doch unglaublich viel aus. Zum einen wollte die Familie Teil der Gesellschaft werden, in die sie ausgewandert waren. Das ist genau jener Punkt, den viele Konservative und Rechte den Zuwanderern und Geflüchteten hierzulande immer wieder absprechen. Zum anderen sagt Christine Karim aber auch, dass die Leute dort sich für sie interessierten. Wohlgemerkt damals, im Amerika vor Bush Junior und Trump.
Der Journalist, Kolumnist und Diplom-Theologe Stephan Anpalagan griff die Geschichte Jawed Karims jetzt auf Twitter im Zusammenhang mit den Diskussionen um die Silvesternacht auf. „Dass Deutschland für Spitzenforscher, Fachkräfte und Experten so unattraktiv ist, hat 0,0% mit „Bürokratie“ oder mit „hohen Steuern“ zu tun, wie Friedrich Merz suggeriert. Es hat zum einen damit zu tun, dass englischsprachige Expats in Deutschland keine Perspektive haben“, schreibt er, „Zum anderen lesen Fachkräfte aus dem Ausland all diese Diskussionen um „Migrationshintergrund“, „gescheiterte Integration“, „Sozialtourismus“ und ähnlichem mit.“
All das schrecke viele ausländische Fachkräfte ab, jede Querdenker-Demo, jeder Neonazi-Anschlag, aber auch die politischen und medialen Diskussionen, in denen sich auf der einen Seite „fest verankerter Rassismus in der Mitte der Gesellschaft“ offenbare. Deutschland könne, so mutmaßt Anapalagan, seit Jahrzehnten die technologische Vorherrschaft in weiten Teilen der Industrie innehaben und eine Sogwirkung für Software-Entwickler haben, wenn denn der Rassismus nicht wäre. Klingt für mich plausibel.
Bei aller Diskussion um integrationsunwillige Jugendliche in der zweiten und dritten Generation ist dies eben die andere Seite. Es kann selbstverständlich darüber diskutiert werden, ob unsere Migrationspolitik richtig ist, ein einseitiges Migrantenproblem, wie es populistisch häufig und gerade jetzt wieder dargestellt wird, haben wir allerdings nicht, wohl aber ein Fachkräfteproblem und - da müssen wir eben dfen sprichwörtlichen Elefanten im Raum nun doch noch ansprechen - auch ein Rassismusproblem.
Zum Glück erlebe ich in meinem Job als Journalist immer wieder Momente, die mir zeigen, dass nicht alles schlecht ist, dass auch Nachrichten nicht immer negativ sein müssen. Genau diese positiven Themen suche ich mir gezielt raus und hoffe, dass ich mit solcher Berichterstattung auch einige Leser positiv beeinflussen kann. Konstruktiven Journalismus nennt man das im Fachjargon.
Vor einigen Wochen wandte sich der Mountainbiker und Youtuber NoHandMTB an mich, weil er gerne einen Text haben wollte, mit dem er an klassische Medien und auch an mögliche Sponsoren herantreten kann. Wir machten ein Interview, das wir an mehrere Bike-Magazine schickten, offenbar hat es doch Wirkung gezeigt. Zumindest hat er jetzt mit einem Sponsor eine besondere Aktion für Obdachlose umsetzen können. Über die möchte ich euch berichten, weil ich es wirklich stark finde, Reichweite im Netz auf eine solche Weise zu nutzen:
Reichweite im Internet nutzen, um Gutes zu tun. Einige große Youtuber wie LeFloid oder Gronkh tun das mit Spendenstreams wie Loot für die Welt bzw. Friendly Fire, die viele tausend Zuschauer erreichen. Solche Events kann Niko alias NoHandMTB noch nicht auf die Beine stellen. Trotzdem möchte er seine Bekanntheit und insbesondere das Sponsoring durch größere Firmen nutzen, um auch denjenigen Gutes zu tun, die von vielen vergessen werden.
Niko betreibt seinen Youtubekanal NoHandMTB seit etwa zwei Jahren und hat inzwischen mehr als 100.000 Abonnenten. Denen zeigt er Tricks mit dem Bike, mal lustige, mal bekloppte Challenges in Berlin und alles, was sich eben auf zwei Rädern so anstellen lässt. In letzter Zeit werden immer mehr Unternehmen auf ihn aufmerksam, unterstützen ihn beispielsweise mit E-Bikes, die er in seinen Videos testet.
Als der Hersteller Fiido mit ihm Kontakt aufnahm, schlug Niko den Marketing Managern passsend zur Weihnachtszeit eine Spendenaktion für Obdachlose vor. Etwas Ähnliches hatte er auf eigene Kosten schon einmal gemacht, jetzt wurde er dabei unterstützt, insgesamt 500 Euro in warme Kleidung, Decken, Desinfektionsmittel, Zahnpflegeprodukte und einiges mehr zu investieren und die Überraschungspakete mit Hilfe von zwei Freunden an Obdachlose zu verteilen.
Dabei war es dann nicht nur der eigentliche Materialwert, sondern auch die Geste, die Zuwendung, das Gespräch. So vertraute einer der Beschenkten den Jungs an, dies sei sein erstes Weihnachtsgeschenk seit 20 Jahren, denn so lange lebe er schon auf der Straße. Wenn Menschen, die so am Rande der Gesellschaft leben, plötzlich anfangen, aus ihrem Leben zu erzählen, dann sind das Begegnungen, die sich wohl nicht planen lassen, und für junge Influencer ist es die Erfahrung, wie privilegiert sie sind und diese Position nutzen können.
„Neben spaßigen und unterhaltsamen Themen finde ich es wichtig, dass man als Person des öffentlichen Lebens seine Vorbildfunktion wahrnimmt und seine Zuschauer positiv beeinflusst“, sagt Niko. In dieser sieht er sich so oder so, da die sozialen Medien seiner Meinung nach einen Einfluss auf Jugendliche haben wie nie zuvor. „Manchmal würde ich mir wünschen, dass Spendenaktion und gute Taten zum Trend werden würden“, zieht er Bilanz jener Aktion, die vielleicht die Welt nicht rettet, aber da hilft, wo Hilfe benötigt wird.
Er hofft, dass seine Aktion, die er natürlich auch im Video festgehalten hat, viele Nachahmer findet und meint damit sowohl Content Creator als auch Unternehmen, die solche Ideen finanziell möglich machen. So utopisch ist sein Wunsch ja gar nicht, denn bei den eingangs genannten Spendenstreams kommen inzwischen Millionen zusammen und die Initiatoren ziehen von Jahr zu Jahr größere Firmen mit ins Boot. Insofern darf man gespannt sein, wie sich Nikos Idee noch weiterentwickelt.
Nikos Video gibt es hier:
Nikos Kanal findet ihr hier: https://www.youtube.com/@NoHandMTB
Nur kurz nach dieser Geschichte schrieb ich eine andere, doch ziemlich ähnliche. Diesmal allerdings für die Kirche:
Über gemeinsame Freunde lernten Sina und Rebekka sich damals kennen. Die Freundschaft wurde enger, seit zehn Jahren sind sie nun ein Paar. Ihre Liebe war stark, doch sie wollten auch eine Familie, sprich ein eigenes Kind. Außerdem gab es das eigene Haus, ein weiteres Kind und seit kurzem sind die beiden auch verheiratet.
„So ganz klassisch ist es bei uns ja nicht“, sagen sie lächelnd, „die Reihenfolge ist irgendwie verkehrt herum.“ Hat aber vielleicht auch damit zu tun, dass insbesondere das Kinderkriegen für sie mit mehr Hürden verbunden ist als bei anderen Paaren. Vor allem eben bürokratisch.
Als der Kinderwunsch zwischen beiden ausgesprochen war, entschieden sie schnell, dass Rebekka ihr Kind bekommen sollte und informierten sich über die medizinischen wie rechtlichen und logistischen Möglichkeiten. Bald war ihnen klar, dass sie dafür nach Dänemark gehen wollten, weil dort alles etwas einfacher war als hier. Erst als Rebekka dann wirklich schwanger war, erzählten sie es im Familien- und Freundeskreis, wo die Reaktionen überrascht, aber positiv waren, wie sie heute lächelnd berichten.
Ihr Sohn Lennart wurde geboren, lernte schnell, dass er eben zwei Mütter und andere Kinder Mutter und Vater haben. „Rebekka ist Mama und ich bin Mami“, erzählt Sina. Soweit also alles kein Problem. Wichtig war ihnen, dass der Spender für ihre Tochter Liva der gleiche war wie bei Lennart, damit die Kinder blutsverwandt sind. Auch das kein Problem, vom Stress, Beruf und Kinder unter einen Hut zu bekommen, mal abgesehen.
Doch damit fingen die Probleme im Grunde auch an. Sina hatte nämlich nicht automatisch Rechte an ihren Kindern und um überhaupt das Verfahren für die Adoption einleiten zu können, mussten sie verheiratet sein. Zwar wurden sie in ihrem Umfeld – Sina ist in der Uniklinik in Göttingen und Rebekka Heimleitung im Landhaus am Rotenberg in Pöhlde – unterstützt, doch auf dem Papier hinkt die Gleichberechtigung dem Wunsch noch hinterher.
„Gleiche Rechte gibt es nicht“, sagen beide kühl und erzählen dann von Besuchen des Jugendamtes, das häufig zu ihnen kam, um nach dem Rechten zu sehen und ihnen somit ein Gefühl von Misstrauen vermittelte. Um rechtlich besser dazustehen, muss Sina ihre Kinder adoptieren, doch das kann sie erst, wenn beide verheiratet sind.
Natürlich war das nicht der einzige Grund, warum die beiden sich an Pastorin Alexandra Heimann wandten, um auch diesen bedeutenden gemeinsamen Schritt zu gehen. Sie wollten auf jeden Fall kirchlich heiraten, das ist ihnen durchaus wichtig, genau wie die Taufen für die Kinder. Zu ihrer Überraschung war diesmal alles ganz unproblematisch. „Für mich war es eine Hochzeit wie jede andere“, sagt Alexandra Heimann ganz selbstverständlich.
Rebekka und Sina erinnern sich jedenfalls gerne an diesen großen Tag ihrer Liebe. Beide im weißen Kleid, alles sehr festlich und dennoch locker und authentisch, so beschreiben sie die Trauung. „Es war einfach schön, Alexandra hat das toll gemacht“, sagt Sina und Rebekka fügt hinzu: „Die Kirche ist da offenbar weiter als viele andere, dort wurden wir ganz normal behandelt.“
Schon vor der Veröffentlichung machte ich mich auf Reaktionen auf diesen Text gefasst, unsere Superindententin übrigens auch.
Fortsetzung folgt...
In den letzten Wochen hab ich ziemlich viele Texte über homosexuelle Paare geschrieben. Hat sich eben so ergeben. Ein Influencer-Paar als Tiotelstory für den Eseltreiber, für die Kirche über die erste Trauung zweier Frauen in unserem Kirchenkreis, über eine schwule "Promihochzeit". Eigentlich ganz normale Texte über ganz normale Leute. Dennoch war ich von einigen Fakten, die ich bei der Recherche zu hören bekommen habe, und auch von manchen Reaktionen überrascht. Doch erst einmal möchte ich euch die Texte präsentieren, den ersten über Luke und Ferhat, die als "Justanormalcouple" in social media bekannt sind:
Luke und Ferhat sind ein Paar. Ein ganz normales Paar. Als „Justanormalcouple“ sind sie auf Instagram, TikTok und Youtube präsent und haben dort tausende Follower. Dabei tun sie eigentlich gar nichts anderes als ihren Alltag zu dokumentieren, einen Alltag als schwules Paar, der für viele offenbar doch nicht so normal ist, wie wir uns das für unsere Gesellschaft wünschen.
In ihren Videos thematisieren sie genau das. Zum einen ihre Ehe und unterschiedliche gemeinsame Erlebnisse, zum anderen die Skepsis von außen, dass eine homosexuelle Beziehung ja ohnehin nicht lange halten könne bis hin zu klaren Anfeindungen. Vorwürfe kämen von Leuten, die nichts mit gleichgeschlechtlichen Paaren zu tun haben, aber nicht nur. „Leider kommt sowas aus beiden Ecken, ich glaub sogar aus der Szene sogar noch ein Stück mehr“, sagt Luke.
In den Kommentaren werde die Meinung von manchen Menschen sehr deutlich, sagen sie, was sie anfangs wirklich schockierte. „Anfangs dachten wir noch: Warum sind die denn so gemein“, erzählen sie, „doch jetzt sitzen wir meist mit 'ner Tüte Chips auf dem Sofa und lesen es uns in aller Ruhe durch.“
Schön, wenn sie mit Hasskommentaren so entspannt umgehen können, doch das macht die Sache an sich nicht besser. Immerhin wurden es sogar Morddrohungen formuliert, erzählt Ferhat, oft heiße es „wir wissen, wo du wohnst“ oder etwas in der Art, was diese Leute damit bezwecken wollen, wissen sie nicht. Statt ihren genauen Wohnort in den Videos kenntlich zu machen, sagen sie inzwischen nur noch, dass sie im Harz leben, ein bisschen Vorsicht schwingt eben doch immer mit, weil man ja nie wissen kann, wer die Kommentarschreiber sind und welche Absichten sie haben.
Positive Reaktionen gab es zum Glück aber auch von Anfang an, also jene, die es mutig finden, dass beide ihre Liebe in einer Öffentlichkeit im Netz dokumentieren. Meist sind auch das fremde Menschen, die sie auf den Plattformen entdecken und ihnen dann folgen. „Unsere Freunde und Bekannten sind eher so die Stillen“, sagt Luke. „Genau, die fragen zwar mal, wie es läuft, wenn wir uns sehen“, ergänzt Ferhat, „aber die richtig positiven Reaktionen bekommen wir von sozusagen 'Harcorefans'.“
Das sind jene, die ihren Alltag in den Videos in kleinsten Schritten mitverfolgen, die viele Fragen stellen und darauf natürlich antworten bekommen, die die beiden Jungs aus dem Internet also sozusagen in ihren eigenen Alltag mitnehmen. „Es wird immer schwieriger, aber wir beantworten jede ernstgemeinte Nachricht“, sagen beide, denn schließlich wollen sie ihren Zuschauer*innen ja etwas mitgeben, ihnen vielleicht auch in gewisser Weise ein Vorbild sein.
Allein der Name „Justanormalcouple“ hat ja schon eine Message, genau die wollen sie auch verbreiten, dass es eben völlig normal ist, wenn zwei Männer sich lieben, sie eben ein normales Paar sind und so auch wahrgenommen werden wollen, genau wie sie auch anderen wünschen, dass es ihnen so geht. „Luke kam auf den Titel“, räumt Ferhat ein, „er ist da echt der Kreativere.“
Als beide sich kennenlernten, hatten sie zunächst kein Interesse aneinander, berichten sie weiter, später änderte sich das dann zum Glück doch, es entwickelte sich zuerst eine Freundschaft. Als dann eigentlich geplant war, dass Luke von Göttingen nach Köln zieht, lief auf einmal alles in andere Bahnen, beide merkten, wie wichtig ihm der andere war, aus Freundschaft war Liebe geworden.
Sechs Jahre ist das nun her, Ferhats Familie war anfangs ziemlich geschockt, denn er war zu diesem Zeitpunkt ungeoutet und für seine Eltern war es eine völlig neue Welt. „Meine Eltern sind hier geboren und so deutsch wie ich“, erläutert er, „aber es hat trotzdem seine Zeit gebraucht.“ Bis heute gebe es immer mal wieder Punkte, in denen es zu Reibereien kommt, doch er ist überzeugt, den richtigen Weg gegangen zu sein bzw. zu gehen.
„Es ist was anderes als sie für ihren Sohn erwartet haben, aber wir sind ja trotzdem normal“, bekräftigt Luke. Stimmt ja auch, denn sogar Enkelkinder könnten irgendwann kommen. „Wir wollen auf jeden Fall Kinder“, schneidet Ferhat das Thema an. Luke hat den Wunsch ebenfalls. Vielleicht nicht sofort, aber irgendwann soll es so sein.
Sie sind sich dessen bewusst, dass es deutlich schwerer als bei Heteropaaren ist, ein Kind zu adoptieren. „Wenn du ein Kind adoptierst, kommt das Jugendamt und stellt dir deine Bude auf den Kopf, bei uns wird eben dreimal so gründlich geguckt“, sagt Ferhat. Es gebe viele, die sich von diesen bürokratischen Hürden abschrecken ließen, weiß er, auch in den Ämtern gebe es viel Homophobie.
„Das ist noch viel Arbeit“, bedauert Luke. Auch das sei ein Grund, warum sie mit social media angefangen haben, sagen sie, um solche Dinge Menschen näherzubringen, um auf einiges aufmerksam zu machen, was in unserer modernen Gesellschaft eben doch noch nicht zufriedenstellend läuft. „Viele sagen: sprecht doch nicht so viel darüber, dann stört es auch keinen“, sagt Ferhat, „Nein, genau das Gegenteil ist der Fall. Je häufiger ein homophober Mensch einem homosexuellen Paar begegnet, desto mehr wird es normal für ihn.“
Fortsetzung folgt...
„Deutschlands großem Afrikaner“ lautet die Inschrift auf dem Wissmann-Denkmal im Bad Lauterberger Kurpark. Seit Jahrzehnten gibt es Widerstand gegen diese Darstellung Hermann von Wissmans als bedeutendem Forscher der Kolonialzeit. Insbesondere der Verein Spurensuche Harzregion setzt sich in jüngster Zeit für eine ehrliche Auseinandersetzung ein und veröffentlichte jetzt eine Broschüre in Unterstützung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Fabiana Kutsche, Dr. Stefan Cramer, Dr. Friedhart Knolle, Brigitte Maniatis und Martin Struck trugen biografische Daten, Dokumente zur Einordnung des eins geehrten Offiziers und auch eine Chronologie des Widerstandes gegen das Denkmal wie auch gegen die nach Wissmann benannte Straße zusammen. „Er gilt als Afrika-Forscher, aber er ist gewiss kein Afrika-Forscher“, sagt Dr. Friedhart Knolle sehr deutlich.
Wissmann zeichnete sich durch große Brutalität in seiner Zeit als Kolonialbeamter in den deutschen Kolonien Ostafrikas aus, wurde Ehrenmajor und in den preußischen Adelsstand versetzt, doch noch zu Lebzeiten fallen gelassen. Zu seiner Zeit ließ er Aufständler nach der Zwangskolonialisierung erhängen, so dass eine mindestens fünfstellige Zahl von Toten auf sein Konto gehe, so Knolle.
Dr. Stefan Cramer, der selbst viele Jahre in der Entwicklungshilfe und für politische Stiftungen in Afrika und anderen Erdteilen tätig war, zeichnet kein positiveres Bild des Geehrten. „In der deutschen Psyche hat sich die Kolonialzeit nie tief eingegraben“, sagt er. Wie auch in der Geschichte anderer Staaten sei Afrika ein „Tatort“ der Ausbeutung und des Mordes.
Wissmann wurde zwar als Afrikaforscher geehrt, habe aber nie wissenschaftlich publiziert, sondern lediglich subjektive Berichte verfasst. Stattdessen bereitete er die militärische Unterwerfung vor, sei jedoch auch kein großer Militär gewesen, sondern definitiv ein Kriegsverbrecher, der von vielen schon zu Lebzeiten als Söldnerführer bezeichnet worden war.
Anders als in späteren Darstellungen sei er auch kein Aktivist gegen Sklaverei gewesen, was seine Kooperationen mit arabischen Sklavenhändlern beweisen. Sein Engagement gegen die Sklaverei sei lediglich ein vorgeschobenes Argument zur Bewilligung öffentlicher Gelder gewesen, tatsächlich befreite er die Sklaven nicht, sondern ließ sie schlicht umbringen.
Einzig zugute zu halten sei ihm sein Einsatz für die Natur und die Wildtiere, denn er richtete erste Wildreservate ein, wodurch er den Ursprung heutiger Nationalparks schuf. Dies jedoch ging bei ihm, so Cramer, auf Kosten der Einheimischen, so dass sein Fazit nach der gemeinsamen Arbeit mit Fabiana Kutsche, die gebürtige Osteroderin und jetzt Doktorandin an der Universität Köln ist, sehr eindeutig ausfällt.
Bei der Präsentation der Broschüre in der KGS Bad Lauterberg ergänzte Brigitte Maniatis die zusammengetragenen Fakten mit einigen Passagen aus dem Roman „Nachleben“ des Literaturnobelpreisträgers Abdulrazak Gurnah, der die Lebensumstände ostafrikanischer Sklaven zur Zeit der deutschen Kolonialherrschaft aus Sicht eines kleinen Jungen schildert. Von Aufständen, die grausam niedergeschlagen werden, ist dort die Rede, von abgeschnittenen Köpfen und am Straßenrand am Galgen hängenden Leichen. All das erscheint so viel plausibler als die Jahrzehntelang geltende Erinnerungskultur, die mit dem Denkmal dokumentiert wird.
Vor einigen Tagen wurde ich auf eine Veranstaltung bei uns in der Innenstadt aufmerksam gemacht. Eine Kundgebung gegen Rechts, eine Putzaktion der sogenannten Stolpersteine, die an die Juden in der Stadt und ihre Ermordung durch die Nazis erinnern. Eigentlich, so wurde mir erzählt, war eine Demo der Querdenker geplant, doch man sei ihnen mit der Anmeldung für die Kundgebung zuvorgekommen. Allein das gefiel mir. Natürlich wollte ich auch darüber berichten, also hier jetzt mein unkommentierter Pressetext:
Am Mittwochvormittag zogen die „Omas gegen Rechts“ gemeinsam mit Schülern verschiedener Schulen los, um in der Osteroder Innenstadt die Stolpersteine zu reinigen. Im Gedenken an die Pogrome in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurden die Kurzbiografien jener Jüd*innen verlesen, die in den Häusern wohnten, vor denen die 14 Stolpersteine heute an ihr Schicksal erinnern.
Den Omas geht es vor allem darum, dass die Enkelgeneration nicht vergisst, zu welchen Grausamkeiten die Nazis damals fähig waren, dass sie Menschen jüdischen Glaubens und mit jüdischen Vorfahren sowie andere politische Gegner systematisch ermordeten. Die gemeinsame Putzaktion ist ihr deutliches Zeichen, dass sich solch geschürter Hass nicht wiederholen darf und auch, dass die breite Masse dabei nicht tatenlos zusehen darf.
Am, Abend gab es dann eine Kundgebung auf dem Kornmarkt. Für das Fernsehen wurden die Steine noch einmal geputzt, vor allem aber begrüßte Martin Struck im Namen des Aktionsbündnisses für Solidarität und Demokratie viele Organisationen und Menschen, die dafür eintreten, dass rechte Kräfte keine Deutungshoheit über die Geschichte erlangen, den Holocaust verharmlosen oder auch heute wieder Hass auf bestimmte Gruppen schüren.
Etwa 120 Bürger*innen hatten sich auf dem Kornmarkt eingefunden, noch einmal wurden von den Omas gegen Rechts die Biografien der einst in Osterode lebenden Jüd*innen vorgelesen, es folgten Reden von Michael Lühmann, Landtagsabgeordneter der Grünen, Sebastian Bornmann, stellvertretender Landrat, Bürgermeister Jens Augat, Sven Ludwig, DGB, Ursel Bremer, Omas gegen Rechts, sowie Moritz Dicty von Bunt statt Braun.
Inhaltlich gingen alle in die gleiche Richtung. Heute müssen wir wachsamer sein als damals, dürfen nicht zusehen, wenn an den Pfeilern der Demokratie gesägt wird. Unsere pluralistische freie Gesellschaft ist ein hohes Gut, für das wir eintreten müssen, gegen jede Hetze, gegen menschenverachtende Ideologien und gegen eine Verharmlosung der Nazi-Vergangenheit.
Ursprünglich sollte zur gleichen Zeit und am gleichen Ort eine sogenannte Querdenker- oder Selbstdenkerveranstaltung stattfinden. Die Anhänger verbreiten Fake News, untergraben die Demokratie, so Martin Struck, beispielsweise angestachelt von einer Ärztin aus Duderstadt. Gemeint ist Carola Javid-Kistel, die als Impfgegnerin in vorderster Front stand und gegen die schließlich seitens der Staatsanwaltschaft ermittelt wurde, so dass sie vor der Polizei flüchtete.
Diesen Menschen dürfe man nicht das Feld überlassen, so Martin Struck, und müsse gleichzeitig die Ahnungslosen Mitläufer aufklären. Jeder, der einen abgewandelten Judenstern mit der Aufschrift „ungeimpft“ trage, verharmlose den Holocaust. „Die Juden konnten den Stern nicht einfach abnehmen, die Entfernung stand unter drakonischen Strafen.“
Soweit also mein Bericht über die Aktion. In den sozialen Netzwerken, allem voran Facebook gab es von der Gegenseite natürlich die entsprechenden Kommentare, zum Teil hasserfüllt, zum Teil angepisst, auf jeden Fall voller ideologischem Mist und Fake News, was ich hier gar nicht wiedergeben möchte. Unterm Strich war es für mich ein Zeichen dafür, dass die demokratische Mehrheit in unserer Gesellschaft nicht schweigen darf, sondern aktiv werden muss. Ja, wie sagte Esther Bejarano: "Erinnern heißt handeln."
Manchmal möchte ich sogar glauben, dass es gar keine Kriege geben würde, wenn wir in der Welt keine Machtstrukturen hätten. Dann könnten alle Menschen friedlich nebeneinander leben und jeder wäre nur darauf bedacht, dass ihm keiner allzu sehr auf den Sack geht und dementsprechend auch er keinem allzu sehr auf den Sack geht. Allerdings sollten uns schon erbitterte Nachbarschaftsstreitigkeiten um über den Zaun wachsende Bäume etc. eines Besseren belehren. Wir sind wohl ebenso dazu geboren, mit anderen um unser Recht zu streiten wie so viel Macht wie möglich zu erlangen.
Gerade der Punkt mit dem Streiten ist mir in den letzten Jahren immer wieder deutlich bewusst geworden. Es fing damit an, dass damals viele um die Aufnahme von Flüchtlingen stritten, meiner Meinung nach deutlich erbitterter als je zuvor und auch immer weniger darum bemüht, Kompromisse zu finden.
Diejenigen, die damals noch vereinzelt gewettert haben, Deutschland dürfe nicht zu viele Geflüchtete aufnehmen und die Ausländer seien schuld an unserem Niedergang, haben sich meiner Meinung nach in den Jahren seit 2015 immer mehr ideologisiert, organisiert und dann radikalisiert. Unsere Gesellschaft hat sich deutlich gespalten, sowohl im Persönlichen wie auch in Politik und Medien.
Rechte Parolen wurden salonfähig, es kamen Verschwörungstheorien vom großen Bevölkerungsaustausch bis hin zu Q-Anon hinzu und die jeweiligen Lager rückten immer mehr zusammen und dabei voneinander weg. Inzwischen gibt es genug Menschen, mit denen ich nicht mehr politisch oder gesellschaftlich diskutieren möchte, da ich alle Argumente ja bereits kenne und das Gefühl habe, dass Gespräche kaum mehr möglich sind.
In den Medien haben sich sogenannte Schwurbelkanäle tatsächlich etabliert, Fake News werden von einigen geradezu bis aufs Blut verteidigt, es scheint zum einen jenes Weltbild zu geben, das auf Wissenschaft basiert und unsere Welt so anerkennt, wie sie eben ist, zum anderen eines, dass einer wie auch immer definierten guten alten Zeit hinterhertrauert, alles infrage stellt, was nicht ins Bild passt und alles anzweifelt bis hin zur Kugelerde. Gut, es gibt noch Abstufungen, bei der flachen Erde und Chemtrails oder Echsenmenschen geht nicht jeder mit, aber grundsätzlich kommt mir unsere Gesellschaft inzwischen zweigeteilt vor.
Genau das fühlt sich eben anders an als 2015. Als Putin in die Ukraine einmarschierte, zeigten sich viele sofort solidarisch, es gab wie eingangs beschrieben dieses wunderbare Gefühl der Solidarität angesichts eines skrupellosen Kriegsverbrechers. Von einigen anderen kam jedoch in den ersten Tagen gar nichts oder nur Rumgeeier. Anschließend wurde Verständnis für Putin bekundet, während sie sich gegen die NATO und unsere Bundesregierung stellten. Und dann kamen immer mehr Fake News.
Den Anfang machten die bekannten politischen Akteure, ebenso die üblichen Schwurbler auf Twitter, Youtube und vermutlich Telegram. Es ist erstmal das übliche „Dagegen um jeden Preis“, wie auf Knopfdruck das Gegenteil der Mehrheitsmeinung, egal, wie unfassbar absurd das auch sein mag. So bezeichnete Bodo Schiffmann Putins Angriffskrieg als „Selbstverteidigung“ und übernimmt damit wie einige andere dessen Propaganda, dass die Ukraine der eigentliche Aggressor sei.
„Ist er schon so tief darin, dass er den Schwachsinn, den er redet, selber glaubt?“, fragt sich Sinan in seiner Youtube-Show „Sinans Woche“ (https://youtu.be/f-eAaeaHXNU) und stellt damit jene Frage, die auch ich mir bei vielen Querdenker-Vordenker so häufig stelle. In besagtem Video zeigt Sinan übrigens auch noch zahlreiche andere Statements von eben jenen, bei denen ich erwartet habe, dass sie alle einer Meinung und natürlich weit entfernt von der Mehrheitsmeinung sind, und bei denen ich immer wieder das Gefühl habe, dass sie das in erster Linie tun, weil sie damit ihrer empörten Anhängerschaft Futter bieten wollen.
Das hat es so 2015 meiner Meinung nach noch nicht gegeben oder, um es mit einer Kriegsmetapher auszudrücken, damals waren die Fronten innerhalb unserer Gesellschaft noch nicht so verhärtet. Inzwischen ist offenbar nichts mehr zu absurd als dass es nicht jemanden gibt, der im im Brustton der Überzeugung behauptet, ganz egal, ob nun der Krieg insgesamt als Fake der Eliten dargestellt wird oder aber zwischen den guten ukrainischen (weil arischen?) und den bösen arabischen und afrikanischen (weil nicht arischen?) Flüchtlingen unterschieden wird.
Als wenn der Krieg als solches nicht schon schlimm genug wäre, bringen mich solche Statements oder auch bewussten Provokationen, bringt mich solch offener Fremdenhass und Antiislamismus wirklich zum Kotzen. Da trauere ich beinahe selbst schon der guten alten Zeit hinterher, jener Zeit als wir uns 2015 noch über rassistische Äußerungen empört haben, statt wie heute schulterzuckend zu denken: Na, guck doch, von wem es kommt, war ja nicht anders zu erwarten.
Krieg macht sprachlos, macht fassungslos. Aus meinem Blickwinkel betrachtet. Die Nachrichten der letzten Tage machen mich wütend, ängstlich und unsagbar traurig. In der Ukraine macht der Krieg aber noch viel mehr, er nimmt Menschen die Heimat, Kindern die Zukunft, er tötet. Das ist für mich, der ich in einer Zeit des sicheren Friedens in Europa aufgewachsen bin, ebenso grauenhaft wie unbegreiflich.
Allerdings lassen die Bilder, die wir derzeit in den Tagesthemen und im heute journal sehen mich an den Beginn des Krieges damals in Syrien denken. Daran, wie hilflos ich mich damals fühlte und doch unbedingt etwas tun wollte. Nicht, um mein Gewissen zu beruhigen, nein, weil die Menschen mir leid taten und ich mich in gewisser Weise schämte, durch puren Zufall in einem Land des nahezu unbegrenzten Wohlstands zu leben.
Somit denke ich auch oft an die Zeit als D. und F. mit ihren Kindern vor nun inzwischen sechs Jahren hierher kamen und wir sie unterstützten, in diesem fremden Land Fuß zu fassen und es zumindest ein Stück weit zu verstehen. Ehrlich gesagt glaube ich ja, dass uns das ganz gut gelungen ist (das zeigt nicht zuletzt, wie selten ich momentan noch etwas hier für den Blog schreibe).
Inzwischen kommen wieder Menschen zu uns, Menschen, die vor dem Krieg fliehen, die alles verloren haben, denen erst einmal jede Perspektive fehlt und die auf unsere Hilfe angewiesen sind. Wieder einmal bewundere ich jeden, der Friedensgebete organisiert, Geld spendet oder gar mit einem voll bepackten Fahrzeug an die Grenze fährt. Sowas nötigt mir Respekt ab, insbesondere diejenigen Menschen, die gleich von Anfang an zupacken und ohne jeden Zweifel handeln.
Diese Hilfsbereitschaft vieler hat mich schon damals überrascht und irgendwie glücklich gemacht, weil sie meinen Glauben in die Menschheit wieder hergestellt hat. Diese Erkenntnis, dass wir in der Not eben doch alle zusammenrücken und plötzlich nicht Unterschiede, sondern Gemeinsamkeiten und individuelle Bedürfnisse zählen. Zugegeben, wir gehörten damals nicht zu den ersten, die sich um eine Flüchtlingsfamilie gekümmert haben, doch immerhin zu denen, die das sehr lange und sehr intensiv taten und ja bis heute tun. D. und seine Familie danken es uns noch heute, wir sind zu engen Freunden geworden und inzwischen weiß ich, wenn ich mal Hilfe brauch, sie wären sofort bedingungslos für mich da.
Das ist ein schönes Gefühl und auch genau das Gefühl, was bei einigen politischen Bekundungen, bei vielen Aktionen und für mich ganz besonders bei den Friedensgebeten, die mir persönlich wirklich viel Kraft geben, genau wie damals aufkommt. Ein Gefühl der Nächstenliebe unter den Menschen, ein Gefühl, dass wir uns gegenseitig Halt und Hoffnung geben können.
Doch irgendetwas ist anders als damals. Ehrlich gesagt habe ich lange gebraucht, um mir klar zu werden, warum ich das so empfinde. Es ist zum einen die Angst, die viel größer ist. Weil der Krieg diesmal viel näher ist, weil es politisch gesehen die ganze Welt betrifft und ja, weil ich Putin inzwischen alles zutraue. Vor allem, seitdem in der Ukraine sogar Atomkraftwerke beschossen werden.
Früher waren die USA immer der größte Kriegstreiber der Welt für mich. Meine erste Demo war damals die gegen den ersten Irak-Krieg unter George Bush Senior. Es folgte irgendwann der Irak-Krieg von George W. Bush, von dem ich damals dachte, er sei der schlimmste vorstellbare Präsident und könne aus purer Gedankenlosigkeit die Welt in Schutt und Asche legen. Damals wurde ich beinahe Fan von Gerhard Schröder wegen seinem klaren Nein zu den Einsätzen. Ja, es ist schon erstaunlich, wie Menschen und Überzeugungen sich in ein paar Jahrzehnten ändern können.
Auch in der Zeit des arabischen Frühlings und den Eingriffen der USA in so vielen Staaten war ich von deren Außenpolitik und insbesondere der Arroganz als Weltpolizei absolut angewidert. Besonders schließlich im Vergleich mit Donald Trump war Wladimir Putin für mich immer noch die bessere Alternative.
Heute muss ich diese Meinung revidieren und gelange zu der Ansicht, dass zu viel Macht oder eine zu lange Zeit an der Macht wohl in jedem Menschen das Schlimmste zutage fördert und ihn definitiv größenwahnsinnig macht. Krieg ist ja nun mal immer nur ein Krieg der Mächtigen und nie, wirklich nie der Krieg eines Volkes gegen ein anderes.
Fortsetzung folgt...
Also gut, jetzt muss ich ein bisschen weiter ausholen. Tatsächlich gab es eine Folge, die ich wirklich gut fand, zumindest größtenteils. Darin ging es um einen jungen Mann, der bei der Polizei auftauchte, um jemanden des Mordes anzuklagen. Jener Mörder nämlich, so erklärte er Derrick, sei kurz nach dem Krieg gemeinsam mit seinem Großonkel über die Zonengrenze geflohen, so jedenfalls war es geplant. Doch der Großonkel, seines Zeichens Juwelier, habe Diamanten für einen Neustart im Westen bei sich gehabt und als er seinem Begleiter davon erzählte, brachte dieser ihn um und wurde dank des Startkapitals schließlich selbst zum erfolgreichen Geschäftsmann.
Jetzt etliche Jahre später wollte der junge Mann Rache und bat Derrick, den Fall aufzuklären, da Mord ja nach den neuesten Gesetzen nicht mehr verjähre. Der hat da ganz offensichtlich nicht so richtig Bock drauf, sieht stattdessen den Ankläger – übrigens gespielt von Mathieu Carrière – äußerst kritisch. In einem Dialog erklärt Carrière dann, dass doch jemand die Verantwortung übernehmen müsse, jemand den ganzen Mist in der Welt aufräumen müsse. Derrick antwortet, es sei nicht Aufgabe der Polizei, aufzuräumen, sondern für Ordnung zu sorgen.
Und eben diese Ordnung störte der absolut unsympathische und penetrant auftretende Linke nun mal. In der Folge setzte Carrière dem inzwischen gealterten Geschäftsmann ordentlich zu, so sehr, dass der sich am Ende das Leben nahm, aber in einem Abschiedsbrief erläuterte, er habe den Großonkel nicht umgebracht, das sei jemand anderes gewesen, er habe sich nur die Diamanten unter den Nagel gerissen. In der letzten Szene warf Derrick dem Neffen dann vor, nun habe er sich jedoch schuldig am Tod eines Menschen gemacht.
Harter Tobak. Grundsätzlich Stoff für spannende gesellschaftliche Diskussionen, auch heute noch. Gut, in den späten 70ern oder frühen 80ern waren die meisten wohl der Ansicht, es sei besser, die dunkle Vergangenheit ruhen zu lassen und die bequeme Ordnung nicht zu stören. Heute sind wir vermutlich eher der Auffassung, dass solche Taten aufgeklärt werden müssen. Darüber lässt sich sicher streiten.
Gestritten wurde natürlich auch in den Kommentaren. Darüber, ob Mathieu Carrière extrem unsympathisch ist, oder es nur spielt, vor allem aber darüber, ob die Polizei in einer solchen Situation hätte ermitteln müssen. Viele sahen die Schuld beim Neffen, der den alten Mann nötigte, nach heutiger Rechtslage wohl zum Stalker wurde, ihn also in den Selbstmord trieb. Einige wenige verteidigten seine Absichten und wurden dafür von anderen angefeindet.
Ein Kommentar deutete die Folge als moralische Parabel, die besagt, man solle niemanden vorverurteilen. „Tja und doch geschieht es täglich in immer höherem Maßstab“, antwortete jemand anderes darauf, „Ich sage nur, die AfD als Nazis zu beschimpfen, alle, die nicht an den Klimawandel glauben, zu diffamieren, und auch aktuell alle Nicht-Maskenträger an den Pranger zu stellen.“ Uff... that escalated quickly.
Noch härter war allerdings die Antwort auf einen Kommentar, der anmerkte, dass die Haltung Derricks heute, nachdem bekannt ist, dass Darsteller Horst Tappert wie auch Drehbuchautor Herbert Reinecker im Zweiten Weltkrieg Soldaten der Waffen-SS gewesen sind, vielleicht mit anderen Augen gesehen werden könne. Wörtlich sprach der Kommentierende von Tapperts „Jugendsünden“. Allein bei diesem Begriff musste ich schlucken, wenn auch aus anderen Gründen als jemand, der zu diesem Kommentar eine Antwort verfasste. „Jugendsünden? War doch keine Sünde. Darauf kann und sollte er stolz sein. Oder hat die Propaganda und Umerziehung so gut funktioniert bei Ihnen?“
Wow, das ist wirklich krass. Klar, kann auch ein Troll sein, doch nach allem, was ich so in den Kommentaren meiner guilty pleasure-Serie gelesen habe, könnte es genauso gut auch ernst gemeint sein. Oder ist es sogar der Grund dafür, dass einige diese Serie heute derart in den Himmel loben? Dieses ganze „Früher war alles besser“ ist vielleicht gar nicht nur verklärte Nostalgie. In Verbindung mit der auffallend harsch geäußerten Kritik an der links-grün-versifften Regierung und den heutigen links-grün-versifften Medien stell ich mir als links-grün-versiffter Journalist inzwischen die Frage, ob Horst Tappert dank seiner „Jugendsünden“ für einige Ewiggestrige nicht sowas wie ein Held ist, den sie verehren und in seiner Kommissarsrolle deshalb so feiern.
Dann wäre Derrick sowas wie der Attila oder der Xavier für Nostalgiker oder wie? Und vielleicht ist es ja gar kein Zufall, dass einige der auffälligsten Kommentierenden auch auf etlichen anderen Kanälen zu finden sind, die für meinen Geschmack guilty, aber definitiv kein pleasure sind. Also ich glaub, ich such mir doch lieber ein anderes Trash-Format oder guck einfach wieder bei so Systemlingen wie Gronkh oder LeFloid rein. Oder bei den ganzen Dashcam-Kanälen, die übrigens auch auf seltsame Weise süchtig machen können... doch das ist ein anderes Thema.
In letzter Zeit habe ich ein neues „guilty pleasure“ entdeckt. Nein, nicht Fortnite zocken, die Bild lesen oder das Dschungelcamp gucken, sondern Derrick. Alte Folgen aus den 70ern bis 90ern auf Youtube. „Harry, fahr schon mal den Wagen vor“, ihr wisst schon.
Der Satz soll ja angeblich nie gefallen sein, dafür aber hab ich eine Folge gesehen, in der Derrick in seiner Wohnung mit einem Informanten redet und dabei Harry ganz selbstverständlich und lapidar bitter: „Mach uns doch mal einen Kaffee.“ Wann habt ihr zuletzt in eurer Wohnung einen Kollegen von euch gebeten, einem Gast von euch einen Kaffee zu machen?
Okay, einige von euch ahnen vielleicht bereits, warum es mein guilty pleasure ist. Der Begriff bedeutet ja, dass man an etwas Gefallen findet, obwohl man erkennt, dass es – nun ja – vielleicht nicht die höchste Qualität hat. Trash TV eben oder in die Jahre gekommene und schlecht gealterte Krimiserien.
Nun war Derrick damals ja eine angesehene und überaus erfolgreiche Serie. Das beweisen vor allem die Kommentare unter den Videos. „So schön, diesen oder jene noch mal zu sehen, das waren noch echte Schauspieler“ oder „Damals kamen die Krimis noch ohne Geballer und Gewalt aus, sowas gibt es heute gar nicht mehr“ oder „Die sprechen alle so deutlich, nicht das Genuschel von heute“. Gut, wer nur Til Schweiger-Filme guckt, der muss sich nichts wundern, dass er nix versteht. Und ja, die Besetzung der Serie war schon hochkarätig, gar keine Frage.
Aber diese Drehbücher! Und diese Dialoge! Okay, eines nach dem anderen und zuerst ein Beispiel: Erst vor ein paar Tagen hab ich eine Folge gesehen, in der Derricks Nachbar bei ihm klingelt, ein Oberstudienrat, der den Kommissar bittet, doch die Hefte aus seiner Wohnung zu holen, die er dort auf dem Schreibtisch hat liegen lassen. Derrick ist mäßig irritiert, klingelt an der Wohnungstür des Nachbarn und stellt fest, dass die Frau des Lehrers ihren Liebhaber zu Besuch hat. Darum traut sich der Ehemann auch nicht rein.
Okay, skurril, aber nun denn. Dann jedoch ist der Lehrer in seiner Klasse, ich vermute mal eine Oberstufenklasse und klagt seinen Schülern sein Leid. Die trösten ihn, regen sich über seine Frau auf, so sehr, dass sie ihn später in seiner Wohnung besuchen und auf ihn einreden, er dürfe sich das nicht gefallen lassen. Naja und dann nimmt die Geschichte ihren Lauf, der Liebhaber wird tot aufgefunden, Derrick ermittelt gegen die Schüler, stellt am Ende fest, dass der Lehrer durch deren Zuspruch endlich den Mut fand, den Widersacher aus dem Weg zu räumen.
Ganz im Ernst: Wer schreibt sowas?!? Vor allem aber dient die völlig an den Haaren herbeigezogene Geschichte eben meist nur als Trägermaterial für die pseudointellektuellen moraltriefenden Dialoge, die die Fans der Serie wohl damals wie heute als große Schauspielkunst ausgelegt haben. Immer und immer wieder geht es um die Verrohung in der Welt, eigentlich immer mit dem Unterton, dass ja früher alles besser war, das alles verpackt in wohlklingende Phrasen, die Derrick und Harry nach Möglichkeit auch noch mehrmals wiederholen, damit sie auch der letzte Zuschauer mitbekommt und sich den großen Fragen des Lebens stellen kann, wie beispielsweise der, ob jemand als Täter geboren wird oder die Umstände ihn dazu machen.
Eine wirkliche Antwort gibt es selten, dazu trieft jede einzelne Folge vor entsetzlicher Langeweile, das sind meist die Momente, wo ich dann nebenbei zu den Kommentaren runterscrolle. Die sind jedenfalls alles andere als langweilig, denn hier wird meist wie gesagt in den höchsten Tönen geschwärmt. Ab und zu gibt es auch einige negative oder zumindest kritische Anmerkungen, die dann jedoch sofort von mehreren Fans wortreich gekontert werden.
Zum Beispiel hab ich einen Kommentar gelesen, in dem jemand anmerkte, dass damals ja offenbar in jeder Folge Alkohol getrunken und geraucht wurde, vor allem in Stresssituationen. Ja, fällt mir auch immer wieder auf, ist sicher bei Derrick kein Einzelfall, auf jeden Fall bin ich froh, dass sich die Produktionen dahingehend verändert haben. Nicht so die Fans der Serie. Als Antwort stand nämlich wortwörtlich darunter: „Wenigstens das hat die linksgrüne Verbotsmafia noch nicht verboten“.
Ups, wo kommt denn plötzlich der politische Einschlag her? Alles andere als ein Einzelfall. In einer anderen Folge wurde angemerkt, dass eine weibliche Figur ja ziemlich nervig sei und dazu vielleicht auch ein bisschen dumm, wenn sie nicht ahne, was um sie herum passiert oder so, also der Fall war jedenfalls ziemlich durchschaubar. Die Antwort aus dem Nichts darauf: Na und, so nervig und dumm wie Claudia Roth sei sie noch lange nicht, die sei viel schlimmer. What???
Fortsetzung folgt...
Am zweiten Tag liefen wir tatsächlich fast die gesamte Halbinsel Manhattans ab. Vom Crysler Building bis zur Upper East Side und zurück bis zum Trump Tower – über dessen Bauherrn lasse ich mich hier jetzt nicht aus, dessen schlimmste Zeiten haben wir inzwischen ja zum Glück hinter uns.
Nur wo du zu Fuß warst, bist du wirklich gewesen, soll ja Goethe gesagt haben und auch, wenn er das moderne New York nicht kannte, konnten wir ihn darin nun wirklich bestätigen. Vom Empire State Building, nun wieder das höchste Gebäude der Stadt, hatten wir einen tollen Blick, in den Straßen unten sahen wir viel Alltägliches und da wir wegen der drückenden Hitze in den Häuserschluchten viel Durst, aber wenig Geld hatten, kamen wir in den Läden in kleinen Seitenstraßen auch ab und zu mit ganz normalen New Yorkern ins Gespräch.
Die Offenheit und das Interesse an unserer Herkunft – „are you from Sweden“ machte uns besonders stolz – und unseren weiteren Urlaubsplänen festigte mehr und mehr einen positiven Eindruck der Menschen hier, der so gar nicht zu dem sich abschottenden und rachsüchtigen Bild passte, das die Vereinigten Staaten mehr und mehr charakterisierte.
An Tag drei stand dann der Besuch der Freiheitsstatue und von Ground Zero an. Erstere enttäuschte mich, vor allem, weil schon die Überfahrt mit dem Boot eine rein touristische und damit überteuerte Angelegenheit war, für die nur der Blick auf die Skyline entschädigte. Nie vergessen werde ich allerdings das Gefühl, das ich am Rande dieser mehrere Stockwerke bis zu den U-Bahn-Strecken hinabgehenden Baustelle unvorstellbaren Ausmaßes hatte, wo vor wenigen Monaten ein bis heute nicht fassbarer Terroranschlag eines der Wahrzeichen der Stadt in Schutt und Asche gelegt hatte.
„Einige Straßenecken weiter entdeckten wir das Schaufenster eines Klamottenladens, in dem noch alle Kleidungsstücke so dalagen wie unmittelbar nach dem Anschlag, voller Dreck und Schutt hinter einer zerbrochenen Scheibe, vor die einfach eine zweite gesetzt worden war, um diesen Schockmoment zu konservieren“, beschrieb ich ein weiteres Bild, das mir bis heute lebhaft vor Augen ist. Den Rückweg traten wir per Subway an, verzogen uns am Nachmittag in den Central Park und waren noch über Stunden auffallend schweigsam.
Auf unserer weiteren Reise nach Los Angeles und San Francisco lernten wir immer wieder ausgesprochen freundliche und weltoffene Amerikaner kennen, während uns übertriebene Vorsicht und Misstrauen nur an den Flughäfen auffiel. Gerade rückblickend bleibt der Eindruck, dass die vielzitierte Spaltung der Gesellschaft in den USA damals ihren Anfang nahm. Allerdings ging das beängstigend konservative Denken, das heute bei vielen in den USA herrscht, nicht von der breiten Masse der Bevölkerung aus, sondern ist meiner Meinung nach zu einem großen Teil politisch genährter Hass.
Den New Yorkern schien nach dem 11. September vor allem ein „Wir lassen uns nicht unterkriegen“ und die sprichwörtliche Freiheit im Land der unbegrenzten Möglichkeiten wichtig. Alles, was sich an Kriegen und Sehnsucht nach alter Stärke in den vergangenen zwanzig Jahren daraus entwickelt hat, könnte somit in erster Linie das Werk einiger weniger sein, die in einer Zeit der Unsicherheit Angst schürten, um ihren Einfluss und ihre Macht zu stärken.
An dieser Stelle möchte ich den Text eigentlich beenden, denn sonst kann ich es mir nicht verkneifen, mich über die Parallelen hierzulande auszulassen. Hier glaube ich ja auch, dass der Schock von 9/11 sowie etliche andere Ereignisse genutzt wurden, um Angst und Hass zu säen, um Rassismus wieder salonfähig zu machen und neue Feindbilder zu kreieren.
Nach wie vor halte ich die Mehrheit der Menschen, egal wo auf der Welt, für vernünftig, friedlich und eigentlich liebenswert. Doch ebenso nun mal auch manipulierbar, von Regierungen, von Medien und gerade in den letzten Jahren eben auch mehr und mehr von Einzelnen mit einem gewissen Einfluss, die eine ganz persönliche Agenda verfolgen. Die hatten es wohl noch nie so leicht wie heute und ich glaube auch, man sah noch nie so deutlich, welchen Schaden sie anrichten können.
Darum lasst uns doch Ereignisse wie den furchtbaren Terroranschlag auf das World Trade Center als das nehmen, was sie sind, nämlich eine verabscheuungswürdige Tat einer kleinen Gruppe von Menschen. Aber es muss kein Indiz für eine große Weltverschwörung sein und auch keine Rechtfertigung für unbegründetes Misstrauen jedem Andersdenkenden gegenüber, für von tiefen Gräben durchzogene Gesellschaften und letztlich für sinnlose Kriege.
Die meisten Menschen waren an diesem 11. September vor zwanzig Jahren ebenso entsetzt und sprachlos wie du und ich. Damit haben wir doch schon mal eine große Gemeinsamkeit, oder nicht?
Wisst ihr noch, wo ihr am 11. September 2001 wart? Jener Tag vor genau zwanzig Jahren als zwei entführte Flugzeuge in die Türme des World Trade Centers in New York krachten und sie später zum Einsturz brachten.
Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich - damals studierte ich noch und wohnte noch nicht im Harz - in den Semesterferien meine Freundin Ari für ein paar Tage besuchte. An diesem Vormittag hatte sie irgendetwas zu erledigen und ich bummelte durch die Goslarer Innenstadt. Irgendwann lief ich auch durch Karstadt und wunderte mich in der Technikabteilung, warum so viele Leute vor den Fernsehern standen. Es lief irgendein Actionfilm, dachte ich, einer mit einem Flugzeug und einer unfassbar surrealen Explosion im World Trade Center.
Den Einschlag der zweiten von Terroristen entführten Maschine sah ich dann mit Ari zusammen bei ihren Eltern, doch es wirkte immer noch so unfassbar wie bei Karstadt mit lauter fremden und ebenso sprachlosen Menschen zwischen Nokia 3310-Handys und Werbung für Silent Hill 2. Es dauerte lange bis ich wirklich begriff, was da gerade passierte, doch mir war klar, dass es ein Ereignis war, was unsere Welt veränderte.
Mit den Kreuzzügen gegen den Terrorismus wie die USA sie in den folgenden Jahren praktizierten, hatte ich so natürlich nicht gerechnet. Auch nicht mit den Verschwörungstheorien, die bei vielen Menschen offenbar das Vertrauen in jede Regierung untergraben haben und sich offenbar bis heute zeigen. Naja und ich konnte auch nicht ahnen, dass Nokia und die Grafik von Silent Hill mir eines Tages mal so veraltet vorkommen würden, eben weil die Welt seit damals sich rasanter verändert hat als jemals zuvor.
Doch das ist ein anderes Thema. Heute möchte ich mit euch zwanzig Jahre zurückreisen, das heißt eigentlich nur neunzehn Jahre. 2002 nämlich war ich zusammen mit meinem Bruder drei Wochen lang in den USA, wir haben einen Road-Trip an der Westküste entlang gemacht und hatten zuvor ein paar Tage einen Zwischenstop in New York eingelegt.
„Ground Zero ist ein unglaublich großer Krater inmitten von Wolkenkratzern und einer belebten Stadt, bei dessen Anblick ich mir nicht vorstellen kann, dass hier noch vor einem Jahr das höchste Gebäude von New York City gestanden haben soll“, schrieb ich damals in mein Reisetagebuch, bei dem ich heute froh bin, dass ich die Disziplin aufbrachte, jeden Abend wenigstens einen kurzen Abriss des jeweiligen Tages zu schreiben. Doch lasst mich anders anfangen...
Unser Amerika-Trip war lange geplant und sollte eigentlich in Kalifornien starten. Drei volle Wochen mit dem Mietwagen einfach dorthin, wohin es uns spontan zieht. Mein Bruder suchte die Wurzeln des Hip Hop und ich den Duft der weiten Welt, der mir im kleinen Osnabrück fehlte. Relativ kurzfristig entschieden wir uns dann doch, die Reise in New York beginnen zu lassen und letztlich war es diese Stadt, die uns am meisten beeindruckte, mich in ihrer Vielfalt faszinierte und uns schon auch irgendwie einen kleinen Einblick in die Seele der größten Wirtschaftsmacht der Welt gewährte.
Unser erster Blick auf die Metropole bot sich vom Flugzeug aus, unter dem sich irgendwann das Häusermeer ausbreitete, allerdings erst einmal nicht mit der bekannten Skyline, sondern in schier endlos erscheinenden Vorortsiedlungen. In die eigentliche Großstadt tauchten wir mit dem Taxi ein, das uns zu einem erstaunlich günstigen Hostel in unmittelbarer Nähe des Times Squares brachte, das wir auch damals schon übers Internet gebucht hatten. Zu Fuß machten wir uns dann daran, die Umgebung zu erkunden, der Mietwagen kam erst später ins Spiel.
„Überall um uns herum Wolkenkratzer, Neonreklamen, alles ist groß, bombastisch, typisch amerikanisch. Wir haben das Gefühl, in einer völlig eigenständigen Welt aus Fassaden, Werbung und Konsum zu sein, fühlen uns geradezu erschlagen von der Metropole“, schrieb ich am Abend. Times Square, Broadway und 42. Street lagen auf unserer Route, später dann auch der Central Park, nunmehr eine grüne Welt inmitten der Stadt. „Wir könnten hier Wochen verbringen und würden diese Stadt nicht einmal ansatzweise verstehen“, fasste ich später zusammen.
Einige Eindrücke setzten sich in drei Tagen, die wir dort waren, aber doch fest. Zum einen war da die an jeder Ecke spürbare Internationalität, die dem patriotischen Bild von Uncle Sam völlig konträr gegenüberstand. Dazu an vielen Leuchtreklamen und in zahlreichen Schaufenstern Slogans und Auslagen, die auf den 11. September im Jahr zuvor Bezug nahmen. John Lennons „Imagine all the people living life in peace“ war immer wieder zu lesen, dazwischen natürlich auch auffallend viele US-Flaggen als Zeichen des ungebrochenen Stolzes.
Fortsetzung folgt...
Wenn es regnet, dann droht garantiert eine „Jahrhundertflut“. Scheint die Sonne, gibt es ganz sicher irgendwo „Rekordtemperaturen“. Übertreibungen und Superlative gehören für die Medien zum Alltagsgeschäft, ohne sie geht es gar nicht mehr. Das gilt leider auch und insbesondere während einer globalen Pandemie, in der die Menschen eh schon verunsichert sind. Sollte also nicht wenigstens in solchen Zeiten Sachlichkeit herrschen, um keine Panik zu schüren und seltsame verschwörerische Auswüchse zu vermeiden?
Nun ja, dazu müssen wir erst einmal festhalten, dass es „die Medien“ ja gar nicht gibt. Es gibt einzelne Unternehmen, und egal, ob das der Eseltreiber, der Spiegel oder Fox News ist, sie alle sind darauf angewiesen, mit ihren Schlagzeilen Leser bzw. Zuschauer zu erreichen, ihre Nachrichten also zu verkaufen. Dass das schnell mit journalistischen und auch ethischen Grundsätzen kollidiert, zeigt uns ein großes Boulevardblatt seit Jahrzehnten geradezu BILDerbuchmäßig.
Die „Brandkatastrophe“ bringt nun einmal mehr ein als der kleine Zimmerbrand, den die Osteroder Feuerwehr zum Glück schnell unter Kontrolle bekam. Dementsprechend ist nun mal ein Killervirus spannender als die korrekte, aber eben auch komplexe Erläuterung eines Christian Drosten. Und natürlich macht es viel mehr Spaß, sich über „Covidioten lustig zu machen als sich mit wissenschaftlichen Papieren anerkannter Virologen auseinanderzusetzen.
Nun ja, das scheint sich auch unsere Politik zu denken und agiert bzw. kommuniziert in den vergangenen Monaten recht häufig auf dem Niveau eines RTL2-Nachmittagsformates. Doch um die Fehler der Politik soll es hier ja nicht gehen, sondern um die Berichterstattung darüber.
Es ist völlig klar, dass die nicht immer akademisch sein kann und bei einem solch komplexen Thema wie einem noch weitgehend unerforschten Virus und Folgen, die selbst Experten nur unzureichend abschätzen können, nicht immer richtig liegt oder wirklich alle Aspekte berücksichtigen kann. Ein Mindestmaß an Genauigkeit, an Wissenschaftskommunikation, an Unaufgeregtheit, erwarte ich allerdings ehrlich gesagt schon.
Immerhin haben wir es bei Corona und allem, was daraus folgt, mit einer Situation zu tun, die es so zuvor während unserer Lebensspanne noch nie gab. Das entschuldigt manchen Fehler, sollte aber auch der Grund für umso mehr Vorsicht und Fingerspitzengefühl sein. Ist es aber leider nicht. Weder in der Berichterstattung über das Virus an sich, noch wenn es um den Umgang und die Maßnahmen geht. Der CDU-Politiker und ehemalige Bundestagsabgeordnete Ruprecht Polenz schrieb kürzlich auf Twitter: „Vor zehn Monaten 'Pandemieweltmeister', jetzt 'Staatsversagen'. Muss es in Deutschland immer gleich der Superlativ sein – im Guten wie im Schlechten? Himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt. Gibt es auch was dazwischen?“
Ja, Herr Polenz, gibt es. Bloß verkauft sich das medial eben nicht so gut. Unter Journalisten hat sich leider herumgesprochen, dass reißerische Texte und insbesondere Headlines nun einmal die größte Aufmerksamkeit erzeugen, was ja leider auch den Tatsachen entspricht. Und Aufmerksamkeit ist nun einmal die Währung dieser Branche.
Eine Lösung wäre es sicher, unser gesamtes System so zu verändern, dass es für (Medien-)Unternehmen nicht mehr nur um Gewinn geht, doch diese Option gehört vermutlich spätestens seit dem Zusammenbruch des Kommunismus ins Reich der Märchen. Hier geht es ja aber um Nachrichten und Fakten. Ach nein, auch nicht. Hier geht es um Auflagen, Einschaltquoten und Klickzahlen.
Also müsste es vielleicht um Fakten gehen. Um Glaubwürdigkeit. Es müsste darum gehen, dass Journalisten sich ihrer Berufsehre entsinnen, Verantwortung übernehmen für das, was sie schreiben, ihren Lesern gut recherchierte Geschichten liefern und damit langjähriges Vertrauen aufbauen. Dazu wiederum gehört in einer gewinnorientierten Gesellschaft dann jedoch eine Menge Idealismus und den muss man sich leisten können.
Aber ist das wirklich so? Sicher, wir Journalisten wissen, dass eine reißerische Headline dafür sorgt, dass viele Menschen darauf aufmerksam werden. Was sich allerdings noch nicht so herumgesprochen hat, ist die Tatsache, dass es dennoch auch um langfristige Bindungen geht. Leser, Hörer, Zuschauer, wer auch immer weiß Informationen einzuordnen, lernt mit der Zeit, welche Quellen seriös und glaubhaft sind und welche bestenfalls der Belustigung dienen.
Zugegeben, das erfordert ein Mindestmaß an Medienkompetenz und vielleicht auch an Intellekt. Daher appelliere ich auch immer an alle da draußen, angesichts populistischer Parolen, Fake News und Verschwörungstheorien nicht alles zu vergessen, was sie in der Schule mal gelernt haben. Denken kann nützlich sein und Bildung ist es in jedem Fall.
Allerdings frage ich mich noch mehr, welche Leser wir Journalisten denn eigentlich ansprechen wollen. Diejenigen, die sich über jeden Skandal ereifern, die uns eigentlich nur brauchen, um Futter für ihre eigenen Stammtischparolen zu sammeln oder diejenigen, die wirklich informiert werden wollen? Vielleicht ist es ja zu idealistisch, zu naiv von mir, dennoch habe ich beim Eseltreiber immer den Anspruch an mich selbst, unterhaltsame Geschichten, neue Blickwinkel und zumindest einigermaßen vernünftig recherchierte Fakten zu liefern. Auf Jahrhundertfluten, Rekordtemperaturen und den Untergang des christlichen Abendlandes habe ich persönlich keinen Bock.
Dieser Text erschien Anfang Mai im Eseltreiber.
Wenn er sowas sagt, macht mich das meist recht demütig und ich werde mir mal wieder bewusst, welch unfassbares Glück ich habe, ausgerechnet in diesem Teil der Welt geboren worden zu sein. Dazu habe ich nichts beigetragen, ich hatte einfach richtig Schwein, in einer Zeit und an einem Ort aufzuwachsen, wo ich bisher noch keinen Krieg, keinen Hunger und auch sonst keine lebensbedrohlichen Katastrophen miterleben musste.
Das ist ganz sicher nicht mein Verdienst, nichts, worauf ich stolz sein könnte, kein natürliches Privileg meiner Abstammung oder sonst etwas. Es ist purer Zufall oder eben die Gnade Gottes oder was auch immer andere glauben mögen, auf jeden Fall ein Glück, um das mich bestimmt die Mehrheit der Weltbevölkerung beneidet. Also sollte ich dankbar sein, bin es eigentlich auch, doch auch, wenn ich mir das bewusst mache, mein Unbehagen räumt es nicht aus.
Vielmehr schäme ich mich manchmal, wenn ich D. wieder mal erklären muss, dass die deutsche Bürokratie eben sehr genau ist und vieles schlicht nicht möglich ist oder aber quälend lange dauert, weil das in unserem System nun mal so unflexibel gehandhabt wird. Vor allem schäme ich mich, wenn er wie neulich auf Facebook einen Post teilt, mit dem er ausdrücken will, wie großartig er seine neue Heimat findet, und ich ihm erklären muss, dass das leider genau von jenen Leuten kommt, die ihn am liebsten loswerden wollen.
Ja, es ist tatsächlich so passiert. Im Internet sah ich, dass er ein Bild mit Deutschlandflagge, sprichwörtlichen blühenden Landschaften und einem passenden Slogan geteilt hatte. Als ich mich später mit ihm in der Stadt traf, sprach ich ihn drauf an, wies ihn auf das Parteilogo hin, das eben auch in die blühenden Landschaften eingefügt war, und musste ihm erläutern, dass eben diese Menschen glauben, Deutschland sei nur dann so großartig, wenn Menschen wie er nicht hineingelassen werden.
In solchen Momenten schäme ich mich für mein Land und für einige Menschen hier, die dieses große Glück, in Frieden und Reichtum zu leben, offenbar für ihren eigenen Verdienst oder mindestens für ein irgendwie gerechtfertigtes Privileg halten. Ja, es mag jetzt weinerlich klingen, aber in letzter Zeit raubt mir sowas viel Kraft, vor allem, wenn ich dann noch sehe, was manche Leute auf Youtube oder sonstwo rausposaunen oder mit welchen Parolen einige auf die Straße gehen.
Die Flüchtlinge sind unser Untergang, der Klimawandel ist eine Lüge, Corona ebenso, dies ist ja keine Demokratie mehr, die geheime Weltelite hat uns im Griff, macht uns zu Marionetten und hat längst die Umvolkung in die Wege geleitet. Wenn du das immer und immer wieder hörst, dann zweifelst du am menschlichen Verstand, wirst aber auch irgendwann müde, dagegen zu argumentieren. Aber muss man dem Stuss denn nicht Fakten entgegensetzen? Was passiert, wenn diese Meinungen irgendwann von Mehrheiten geteilt werden? Ist es als Journalist denn nicht genau meine Aufgabe, mich damit auseinanderzusetzen und solche Aussagen immer und immer wieder auf ihre Wahrheit hin zu überprüfen?
Vielleicht, ich weiß es ehrlich gesagt im Moment nicht. Es raubt mir nur schlicht die Kraft, weil ich es inzwischen schlicht nicht mehr hören kann. Zum Glück bin ich ja journalistisch auch für die Kirche zuständig und darf mich mitunter anderen Themen widmen. So jetzt beispielsweise dem Erntedankfest, das in diesem Jahr wie so vieles unter besonderen Bedingungen gefeiert wird.
Auch monatelang über besondere Bedingungen zu schreiben, macht irgendwann müde, doch das ist ein anderes Thema. In diesem Fall geht es um einen Erntedankgottesdienst, über den ich schreiben soll, so dass ich mit frisch desinfizierten Händen und Maske in der Kirchenbank sitze und der Dinge harre, die da kommen.
Es geht um die Frage, ob wir angesichts einer weltweiten Pandemie denn überhaupt dankbar sein können. Eine einfach Antwort gibt es darauf wohl nicht. Doch im Gottesdienst werden von mehreren Leuten mehrere Dinge zusammengetragen, für die sie in diesen Zeiten dankbar sind. So beispielsweise für die Webcam, die es trotz Abstand möglich macht, Gemeinschaft zu erleben. Für den Einkaufskorb, den im Frühjahr viele spontan gegriffen haben, um für andere einzukaufen und der damit zum Symbol gelebter Nächstenliebe in Zeiten wie diesen geworden ist.
Der Kirchenmusiker sagt, er sei dankbar für seine Trompete, denn in den Monaten, in denen Konzerte und andere Veranstaltungen abgesagt werden mussten, hätten viele festgestellt, wie wichtig die Musik und die Kultur allgemein ist. Das sagen ihm jetzt, wo allmählich einiges wieder stattfinden darf auch einige Menschen, was ihn natürlich freut, so erzählt er. Und der Pastor hat sein Fahrrad mitgebracht als Symbol für die Entdeckung der Langsamkeit in diesen Tagen, ein intensiveres Erleben der Natur und vor allem für die Freiheit. Jene Freiheit, die er hat, weil er unterwegs sein kann und keinem strengen Lockdown unterworfen ist, aber auch die Freiheit in diesem Teil der Welt, die es manchen sogar erlaubt, eben diese Freiheit laut auf den Straßen anzuzweifeln.
Es sind nur kleine Beispiele und pointierte Aussagen, doch sie bringen mich zum Nachdenken. Vor allem dann aber die Predigt, die einen Gedanken ausformuliert, den ich so ehrlich gesagt noch nie hatte und bei dem ich mich frage, ob ich nun dankbar oder doch eher desillusioniert sein soll. Es geht um die biblische Speisung der Fünftausend, also jene Geschichte als Jesus und seine Jünger für die Menge an Zuhörern gerade einmal fünf Brote und zwei Fische hat, diese sich aber auf wundersame Weise vermehren.
Damals gab es wenig, es wurde verteilt und reichte am Ende für alle, heute hingegen gibt es Lebensmittel im Überfluss, wir könnten problemlos die ganze Welt davon ernähren, doch es scheitert an der Verteilung.
In letzter Zeit hadere ich oft mit unserem Staat, mit den Medien oder zumindest Teilen davon und letztlich auch mit der Gesellschaft. Während ich früher immer deutlicher Optimist war, davon überzeugt, dass wir Menschen alle tief in uns immer das Gute wollen, zweifle ich daran inzwischen manchmal. Während ich vor einigen Jahren noch fest davon überzeugt war, dass wir unsere Welt in großen Teilen doch immer besser machen, sehe ich inzwischen vor allem das Gegenteil und bekomme zunehmend Angst vor der Zukunft.
Das gilt für unser Land, für Europa und letztlich auch für die ganze Welt, von der ich einmal dachte, sie könnte die Zeit der Kriege irgendwann überwinden, daran jetzt jedoch stark zweifle. Andererseits habe ich mir auch immer gesagt, dass wir selbst für unser Denken verantwortlich sind und somit auch für unser Gefühl, ob das Glas halbvoll oder halbleer ist. Bei mir war es immer der Glaube, der mir Zuversicht gab, und so war es auch neulich wieder. Doch erst einmal muss ich ein bisschen weiter ausholen.
Seit D. und seine Familie nach Deutschland gekommen sind, haben sie sich hier eingelebt, unsere Sprache gelernt und stehen inzwischen finanziell auf eigenen Füßen. Dazu haben Rainer und ich einen nicht eben geringen Teil beigetragen, können wir uns ohne Übertreibung zugestehen. Ganz anders aber sieht es meiner Meinung nach mit unseren Behörden aus.
Sicher, durch diese ehrenamtliche Arbeit habe ich wirklich viele hilfsbereite Menschen kennengelernt. Aber leider auch ebenso viele Mitarbeiter in Behörden oder auf Ämtern, die ziemlich stur waren, keinen Millimeter von ihren Vorschriften abrückten und es uns und vor allem den Geflüchteten, die sich hier etwas Neues aufbauen wollen, nicht eben leichter gemacht. Außerdem habe ich immer mehr den Eindruck gewonnen, dass es sich unsere Regierung mit einem einfachen „Wir schaffen das“ doch allzu einfach gemacht hat und sich anschließend immer wieder geschickt aus der Affäre zog.
Im Mittelmeer ertrinken nach wie vor Menschen, eine klare europäische Flüchtlingspolitik gibt es bis heute nicht, stattdessen wird hilflos zugesehen wie jene, die gegen die Neubürger wettern, immer mehr Zustimmung und Anhänger bekommen. Viele Medien verhalten sich keinen Deut besser, vor allem, weil dort immer nur von „den Flüchtlingen“ als eine anonyme Masse und äußerst selten über einzelne Individuen gesprochen wird. Dabei habe ich in dieser Zeit so viele bemerkenswerte Menschen kennengelernt, die ich für mein eigenes Leben, aber auch für uns alle als Bereicherung empfinde.
Auf diese Menschen bin ich zugegangen, habe mir etliche ihrer Geschichten angehört und dabei vor allem festgestellt, wie unterschiedlich die einzelnen Schicksale doch sind. Auch einige Berichte und Reportagen konnte ich schreiben, doch eben immer nur für eine relativ überschaubare Leserschaft und offenbar auch immer nur für jene, die ohnehin ein eher positives Bild von jenen haben, die da zu uns kommen.
Viele andere erreiche ich mit solchen Geschichten nicht und erreicht offenbar auch sonst niemand mehr. Weder mit persönlichen Erzählungen dieser Menschen, noch mit nüchternen Fakten. Das ist meiner Meinung nach zum einen ein großes Versagen derer, die berichten sollten, zum anderen macht es mich entsetzlich wütend, wie viele Leute auch in meinem persönlichen Umfeld dem populistischen Narrativ vom Fremden als Sündenbock auf den Leim gehen.
Im Grunde kann ich es immer noch nicht fassen, dass in unserer angeblich so aufgeklärten Gesellschaft vieles wieder normal zu werden scheint, was ich auf der Müllkippe der Geisteshaltungen wähnte. Und die Ohnmacht, einer Spaltung der Gesellschaft entgegenzuwirken, lähmt mich manchmal regelrecht und macht mir Angst vor dem, was in den kommenden Jahren denn daraus werden soll.
Kurz gesagt, ich habe noch nie so stark wie jetzt an unserer Gesellschaft, also an ihren Strukturen und auch an den Menschen, gezweifelt. Nun ist es aber ausgerechnet D., mit dem ich häufig über Deutschland oder über die Unterschiede zwischen der arabischen Welt und Europa spreche und der mir immer wieder sehr deutlich sagt, wie sehr er die Freiheit hier schätzt, die Chancengleichheit und die Fürsorge für Schwächere.
Klar, er ist dankbar, dass er als Kurde nicht mehr offen diskriminiert wird und vor allem, dass er für S., A. und M. hier eine Perspektive in Sicherheit und langfristig sogar in Wohlstand sieht. Seiner Meinung nach, so kommt es in Gesprächen jedenfalls oft rüber, macht Deutschland alles richtig, sind alle Menschen hier erstaunlich hilfsbereit und nett und sind meine Kritikpunkte nichts im Vergleich zu den Sorgen, die er sich um seine alte Heimat und seine dort noch lebenden Verwandten und Freunde macht.
Fortsetzung folgt...
Am Wochenende habe ich mir wieder Videos, Bilder und Reportagen von der Demo in Berlin angesehen und auch mit einigen Leuten geschrieben, die dahinterstehen. Zwar musste ich mich als Marionette des Systems und Lügenpresse betiteln lassen, doch ganz ehrlich Leute, ich bin ein bisschen neidisch auf euch.
Ihr geht davon aus, dass die Elite sich ein Virus bzw. eine Pandemie ausgedacht hat, um ihre Weltherrschaft zu festigen und ein neues Zeitalter der Unterdrückung einzuleiten. Allein das ist schon mal ein toller Plot für einen Roman, muss ich zugeben.
Doch es ist ja nicht nur der Plot, es sind auch die Details, die mich als Hobby-Horrorautor vor Neid erblassen lassen. Diese Eliten, so sagt ihr, entführen Kinder, verschleppen sie in dunkle Keller, um dort sowas wie schwarze Messen zu feiern und vor allem, um ihnen Blut abzuzapfen. Dieses Kinderblut brauchen sie, um nicht zu altern, um ewig leben zu können. Schon das für sich genommen, ist brillant. Gut, eine ganz ähnliche Story gibt es schon in einem Horrorroman von John Saul, nur ist es dort eben eine kleine, verschworene vampirähnliche Gemeinschaft und nicht gleich die gesamte Weltelite, die das als geheimes Netzwerk vor den Augen der Bevölkerung verborgen hält.
Besonders cool finde ich auch die Auswahl eurer Helden für die Geschichte. Auf der einen Seite sind dort ein seiernder Sänger und ein veganer Koch, die alles aufdecken, es den Menschen gegen alle Repressionen der Medien und der Staatsmacht mitteilen und immer mehr Anhänger gewinnen. Gut, mir ist noch nicht ganz klar, wieso ausgerechnet diese beiden davon Wind bekommen und das gesamte teuflische Konstrukt durchblicken, während alle anderen sich täuschen lassen. An der Stelle würde ich im Storyboard noch einmal nacharbeiten, glaube ich.
Auf der anderen Seite habt ihr einen Präsidenten, der als Underdog an die Macht kommt und sozusagen von innen heraus mit dem ganzen verlogenen und dreckigen Pack aufräumt. Auch hier muss ich ja sagen, dass ich an der Ausgestaltung des Charakters noch ein wenig feilen würde, damit er als glaubwürdige Identitätsfigur und eben nicht eher satirisch daherkommt, doch nun gut, vielleicht ist das ja auch gewollt.
Ein Erzählstrang hat mir besonders gefallen, nämlich der, in dem eben jener Präsident selbst der anonyme Whistleblower sein soll, der die Geheimnisse der Eliten an die Öffentlichkeit trägt. Das ist ja schon nicht mehr nur Horror, sondern Stoff für einen großartigen Thriller. Aber gerade darum sollte diese Figur meiner Meinung nach kein tumber millionenschwerer Rassist sein, weil das mit der Lesersympathie dann wirklich schwierig werden kann.
Spannend finde ich auch, wie die Handlung sich dann entwickelt, nämlich dass immer mehr Menschen aufwachen, nicht mehr „Schlafschafe“ sein wollen und gegen die Diktatur der Elite protestieren und letztlich sogar Regierungsgebäude stürmen. Das wäre definitiv auch Stoff für einen Hollywood-Blockbuster. Doch auch hier muss ich sagen – ich kann den Kritiker in mir ja leider nicht ganz ausschalten – finde ich es ein wenig unglücklich gewählt, dass es überwiegend Spinner, Frustrierte, Extremisten etc. sind, die dieses ganze perfide System durchschauen.
Sicher, ihr erklärt es damit, dass die Intellektuellen, die seriösen Wissenschaftler und die Presse sowieso alle mit zur Verschwörung gehören, doch, um es vorsichtig auszudrücken, hier sehe ich doch noch einige Logiklöcher im Drehbuch. Ebenso, dass sämtliche Staaten der Welt plötzlich gemeinsam ein Virus erfinden und wirklich keiner ausschert, das ist mir als Erzählung ein wenig zu unausgegoren.
Nun gut, ihr versucht es damit zu erklären, dass all diejenigen in führenden Positionen gekauft sind, dazugehören und letztlich auch viele in der Bevölkerung, die sich gegen die Aufgeweckten stellen, dem System angehören und ganz bewusst die Unwahrheit verbreiten wollen. Sogar Rechte und andere Idioten haben sie eingekauft, um die Demonstrationen zu unterwandern und in ein schlechtes Licht zu rücken, während die Medien alles falsch darstellen und die Erwachten diffamieren wollen.
Sicher, das erzählt wunderbar die Geschichte einiger Underdogs, die sich gegen übermächtige Gegner zur Wehr setzen. Soweit kann ich das auch nachvollziehen. Doch solltet ihr nicht auf ein Happy End hinarbeiten, bei dem die Welt am Ende als befreit dasteht?
Im Moment, und so zeigten es ja auch viele Kommentare und Schilder und so weiter, sieht es ja eher aus als laufe es darauf hinaus, dass alle Schuldigen, also die Elite, die Politiker, die Medien, die Wissenschaftler, die Antifa und andere Aktivisten wie auch diejenigen Normalos, die einfach nicht eurer Meinung sind, am Ende für ihre Täuschung bestraft werden. Was wäre das denn bitte für ein Gemetzel? Und zudem sind dann ja nach dem Finale nur noch sehr wenige übrig.
Sicher, ihr sagt, es seien mehrere Millionen, die auf die Straßen gehen. Nur ist dann an dieser Stelle eure Inszenierung ziemlich misslungen, da man leider sieht, dass ihr nicht genug Statisten auf den Bildern habt. Aber okay, da kann man ja in der Post-Production mit CGI noch etwas machen. Also wenn ihr denn überhaupt au einen Hollywood-Blockbuster hinauswollt. Für de Horrorroman sind es mir wie gesagt zu viele offene Fragen. Am meisten stört mich aber nach wie vor, dass eure Protagonisten nicht unbedingt Sympathieträger sind, mir die Identifikationsfläche fehlt und viele Dialoge leider auch schlicht dumm und unausgereift sind.
Ja, mögt ihr nun sagen, da spricht der pure Neid aus mir. Zum Teil gebe ich es ja auch ganz offen zu. Selbstverständlich hätte ich diesen Roman gerne geschrieben, denn vieles darin ist so herrlich absurd, dass ich selbst nie auf die Idee gekommen wäre. Doch die Punkte, die ich angesprochen habe, hätte ich auf jeden Fall versucht, auszumerzen, da sie mir in der Summe leider wirklich zu realitätsfern erscheinen und mich emotional nicht so richtig packen.
Denkt doch einfach noch einmal über euren Plot nach, schreibt einige Dinge um, recherchiert noch ein wenig und passt das Drehbuch der Wirklichkeit an, dann wird das schon. Ach und bitte, tauscht die Hauptfiguren aus, denn die eignen sich in meinen Augen nach wie vor besser als durchgeknallte Bösewichte, denn als Helden.
Hm... wenn ich es mir recht überlege, dann bleibt am Ende doch keine so gelungene Erzählung übrig. Eher ein ziemlich wildes und an den Haaren herbeigezogenes Szenario, das an allen Ecken und enden bröckelt, wenn man genau hinsieht. Wie wär's, wenn ihr euch doch erstmal an einer kleinen Vampirgeschichte versucht oder zumindest an einer einigermaßen überschaubaren Verschwörung? Die Mondlandung war Fake, Reptiloiden sind unter uns, Bielefeld gibt es gar nicht. Sowas in der Art. Wenn das gut gemacht ist, dann ist es doch auch ganz unterhaltsam, es muss doch nicht gleich der ungelenke Versuch sein, alle Wahrheiten zu kippen.
In den vergangenen Wochen habe ich mir mal die Mühe gemach, in einige sogenannte Berichterstattungen von den Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen reinzuschauen. Bewusst nicht von etablierten Medien, sondern von denjenigen, die sich selbst gerne als alternative Medien bezeichnen und für sich in Anspruch nehmen, die einzigen zu sein, die nicht ideologisch gesteuert sind.
Im Internet und insbesondere auf Youtube gibt es ja eine Menge dieser Kanäle, die derzeit von den Demonstrationen angeblich für unsere Grundrechte berichten, über die Xavier Naidoos und Attila Hildmanns und viele andere da draußen, die die Corona-Pandemie teils für eine Erfindung halten, teils für einen vorgeschobenen Grund unserer Regierung, hier diktatorische Zustände einzuführen. Außerdem müssen wir natürlich aufpassen, weil Bill Gates uns ja alle zwangsimpfen und die Menschheit damit dezimieren will.
Nun gut, ich wollte mich möglichst neutral auf diese Form des Paralleljournalismus oder wie immer man es nennen möchte einlassen, so dass ich mir einen Kanal raussuchte, auf dem eine Liveschalte, ganz nach dem Vorbild der legendären Radiokonferenzen beim Fußball, gestreamt wurde, also immer zwischen mehreren Außenreporten in verschiedenen Städten hin- und hergeschaltet wurde. Diese Außenreportagen wurden dann von zwei Kommentatoren im Studio eingeordnet und eben koordiniert, nebenbei lief noch ein Chat, in dem Zuschauer sich rege an der Diskussion über die aktuellen Proteste beteiligten.
Zunächst einmal muss ich sagen, dass die gezeigten Bilder mich erst einmal wenig aus der Fassung brachten. In Berlin und Köln oder wo auch immer liefen die Reporter durch die Stadt und suchten nach den Orten, an denen wohl die Action stattfinden sollte und in Stuttgart stand der Korrespondent vor einem mäßig gefüllten Areal und schwadronierte darüber, dass ja letzte Woche so viel mehr los gewesen sein soll. Zwischendurch wurden Polizisten gefilmt, die irgendwo Absperrungen errichteten und vereinzelte Demonstranten, die diese Polizisten anpöbelten und in wenigen Fällen zurecht gewiesen wurden.
Letzte Woche sei so viel mehr los gewesen, hieß es jetzt auch von den beiden Herren im Studio und ebenso im Chat. Da nämlich wurde schon jetzt über die Polizeigewalt gewettert, über die böse Antifa und natürlich über das Merkel-Regime, das uns alle unterdrückt und dabei von den Systemmedien unterstützt wird. Da vor den Kameras nach wie vor wenig passierte, konzentrierte ich mich mehr und mehr auf den Chat und mehr und mehr wurde mir unwohl bei dem, was ich da las.
Eine Demokratie sei das hier schon lange nicht mehr, so der allgemeine Tenor, die Weltelite habe uns im Griff, wolle uns zwangsimpfen und Corona solle eben davon ablenken, was im Untergrund passiert. Das Stichwort sei Q-Anon antwortete mir jemand auf meine Nachfrage, es gehe dabei um aus Kinderblut gewonnenes Adrenochrom, doch im Chat sei nicht der richtie Ort, um mir das genauer zu erklären.
Im Chat war wohl allerdings der richtige Ort für Meinungsäußerungen wie: „Die Antifa ist eine Terrorgrupe von Merkel bezahlt“ oder „Mainstream-Sender werden Domonstranten wieder in den Rücken fallen“ oder „Bio-Deutsche werden verhaftet, nicht aber Hinzugereiste“. So ging es weiter, voller Hass gegen die Antifa, gegen die Presse und insbesondere gegen die Polizei und das böse System.
Während auf den Straßen immer noch nicht so viel passierte, wurden im Chat die Forderungen lauter, das nächste Mal die Demonstrationen doch nicht mehr anzumelden, denn das bringe ja nichts und man müsse härtere Geschütze auffahren, um etwas zu erreichen. Wenn doch mal eine Festnahme gefilmt wurde, kochte die Wut auf die Polizei hoch und die Festgenommenen wurden ohne Kenntnis der Situation bejubelt. Und als dann einer der Außenreporter doch noch die Wiese erreichte, auf der Attila Hildmann eine Rede halten sollte, wurde der allerdings gerade von einem südländisch aussehenden Mann argumentativ sozusagen in Grund und Boden geredet, worauf im Chat gefordert wurde: „Kann dem mal jemand eine überziehen“ und „Schlagt ihn tot“.
Das war ungefähr der Moment, wo ich es nicht weiter ertragen konnte und wegschalten musste. Tatsächlich habe ich auch noch in einige andere Livestreams reingeschaltet, wo es im Grunde nicht viel anders ablief. Oftmals wurden Passanten bzw. Demonstranten interviewt, von denen ich die wenigstens als „normale Bürger“ bezeichnen würde, denn viele hatten eindeutig entweder eine klar rechte politische Gesinnung und/oder ganz klar den Aluhut auf. Und da ist für mich leider der Punkt erreicht, wo Neutralität aufhört und wo ich immer sage, dass es nicht richtig sein kann, mit solchen Menschen gemeinsam auf die Straße zu gehen oder ihnen auch nur eine breite mediale Bühne zu bieten.
Zwei Dinge bleiben bei mir als Erkenntnis haften: Zum einen habe ich nicht zum ersten Mal festgestellt, wie gut diese angeblich alternativen Medien alle untereinander vernetzt sind und dass man über diese Netzwerke immer auch erschreckend schnell auf eindeutig rechtsextreme Kanäle stößt. Ein paar Klicks genügen und ich finde mich tief in einem Sumpf, den ich ohnehin für verfassungsfeindlich halte.
Zum anderen hat das, was bei den Befürwortern dieser Demonstrationen abgeht, in der breiten Masse nichts mehr mit Angst oder mit Überforderung durch die gegenwärtige Situation zu tun. Es scheint ausschließlich ein neues Ventil für einen schon lange schwelenden Hass zu sein und für eine Propaganda, der jedes Mittel recht ist, um ihr antidemokratisches Gift zu versprühen. Insofern halte ich all das auch nicht für tolerierbar, weil Menschen eben besorgt sind, sondern für hochgradig gefährlich.
Apropos wieder normal: im Moment habe ich das Gefühl, wir haben wieder eine Zweiteilung der Gesellschaft, und zwar in jene, die nach noch mehr Lockerungen schreien und jene, die zur Vorsicht mahnen, damit in ein paar Wochen nicht alles von vorne beginnt. Auch hier sind die Stimmen an den Rändern wieder am lautesten, meiner Wahrnehmung nach insbesondere von denjenigen, die behaupten, Bill Gates wolle die ganze Welt impfen, um sie unter seine Kontrolle zu bringen und damit die Eine-Welt-Regierung der Eliten etablieren.
Sicher, das sind Stimmen, die die große Mehrheit als Verschwörungstheoretiker abtut. Doch im Netz sind sie laut wie nie, verknüpfen diese steile These mit diversen rechten Ideologien und haben durchaus die Kraft, unsere ohnehin gespaltene Gesellschaft noch weiter auseinander zu bringen. Immerhin eine Gesellschaft, die ohnehin verunsichert ist, in einer Ausnahmesituation und ja durchaus vor einer realen wirtschaftlichen Bedrohung unbekannten Ausmaßes steht. Die Auswirkungen der Krise werden uns noch viele Jahre, vielleicht Jahrzehnte beschäftigen, der Nährboden für all diejenigen, die das System umkrempeln wollen, ist als fruchtbar wie nie.
Dementsprechend habe ich bei vielen auch das Gefühl, ihnen geht es nicht primär um ihre Grundrechte, sondern vielmehr darum, sich jetzt einer verunsicherten breiten Masse zu präsentieren, deren Ängste zu schüren und am Ende daraus Profit zu schlagen. Sei es rein finanziell, etwas durch verkaufte Kochbücher oder Musik mit schwurbeligen Texten oder was auch immer, sei es durch Einfluss, durch eine Medienblase abseits des sogenannten Mainstreams, die ja im Grunde seit Angela Merkels „Wir schaffen das“ schon existiert und für viele durchaus einträglich ist.
Die Spaltung der Gesellschaft ist also nichts Neues, neu ist nur das Ausmaß, so scheint es mir. Diese im Netz als „Covidioten“ bezeichneten Demonstranten erreichen plötzlich nicht nur ihre üblichen rechten Bubbles, sondern viel mehr Menschen – und sie prägen diese nicht nur in Bezug auf ihre politische und gesellschaftliche Meinung, sondern sähen großes Misstrauen in die Wissenschaft und damit in alles das, was eben nicht Fake News, sondern bewiesener und vor allem beweisbarer Fakt ist.
Darin sehe ich die große Gefahr, die diese Bewegungen bergen. Denn ganz ehrlich, wenn ich ein paar Wochen lang mit Mundschutz zum Einkaufen gehen muss, schränkt das meine Grundrechte nicht wirklich ein, sondern sorgt am Ende höchstens für Segelohren. Wenn aber unserer Bildung die Glaubhaftigkeit entzogen wird, dann kann das eine Gesellschaft langfristig ins Chaos stürzen.
Damit will ich übrigens noch lange nicht alles gutheißen, was an politischen Maßnahmen derzeit durchgedrückt wird. Wenn beispielsweise Selbstständige nur in ihren Betriebskosten unterstützt werden, die sich bei mir im Grunde auf einen Kugelschreiber und ein Blatt Papier belaufen, während die Autoindustrie großkotzig verkünden darf, dass eine Kürzung der diesjährigen Boni für die Aktionäre das allerletzte Mittel wäre, dann läuft da einiges schief, was meiner Meinung nach noch viel mehr angeprangert werden müsste.
Erschreckend fand ich auch, wie schnell unser wunderbares vereintes Europa über den Haufen geschmissen wurde, die Nationalgrenzen dicht gemacht wurden, wohlgemerkt bei einer weltweiten Pandemie und einem Virus, das vermutlich nicht erst einen Reisepass beantragt. Bis heute finde ich erschreckend, dass international kaum zusammengearbeitet wird, jeder plötzlich wieder mit sich selbst beschäftigt ist.
Immerhin ja so sehr mit sich selbst und der Krise beschäftigt, dass an der europäischen Außengrenze nachweislich ein Flüchtling aus Pakistan erschossen wurde und der mediale wie gesellschaftliche Aufschrei über diese Art der Grenzsicherung weitgehend ausbleibt. Ebenso könnte die Situation in den großen und medizinisch kaum darauf vorbereiteten Flüchtlingslagern zur kompletten Katastrophe werden, wenn das Virus dort richtig um sich greift. Und auf dem Mittelmeer ertrinken prozentual gesehen so viele Menschen wie nie zuvor, weil wir uns weder in der Lage sehen, zu helfen, geschweige denn dafür überhaupt ein offenes Ohr zu haben.
Das sind die Werte, die ich momentan bedroht sehe, für die aber kaum jemand seine Stimme erhebt. Verantwortung, weil wir nun mal zu den Reichsten dieser Welt gehören, Hilfsbereitschaft, weil die uns nicht arm macht, anderen aber das Leben rettet, und Nächstenliebe, weil wir doch angeblich ein Land christlicher Werte sind. All das vermisse ich in den letzten Wochen stark. Zugunsten eines seltsamen Struggle of the Fittest, der mir ehrlich gesagt Angst macht.
Dabei sind all die guten Ansätze im Kleinen, im Zwischenmenschlichen ja da. Vielleicht sollten wir die Corona-Krise jetzt einfach als Chance begreifen, um uns unserer Werte bewusst zu werden und um ganz aktiv zu entscheiden, welche Rolle wir als diejenigen, die im schlimmsten Fall der Fälle vermutlich am längsten überleben würden, in der Welt und im Leben spielen wollen.
Ein paar Wochen der Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Pandemie liegen jetzt hinter uns. Ein paar Wochen steht das öffentliche Leben nun mehr oder weniger still, wir spüren, dass wir vieles, was wir für selbstverständlich hielten, von einem Tag auf den anderen vermissen können. Es ist eine Situation, die noch vor wenigen Wochen unvorstellbar schien. Doch in solchen Extremsituationen zeigt sich das Wesen des Menschen, heißt es, und durchaus auch das einer Gesellschaft.
Am Anfang wurde Corona von vielen als Panikmache abgetan, während andere, nun ja, Panik verbreiteten. So weit, so normal. Doch schon da gab es im Grunde nur zwei Lager. Die berühmte Mitte, die nicht sofort weiß, ob das Virus komplett harmlos oder unweigerlich tödlich ist, und erst einmal abwartet, was verschiedene Experten sagen, die war wie so oft nicht zu hören. Ganz ähnlich war es dann bei den drastischen politischen Maßnahmen, die mehr oder weniger den Stillstand des öffentlichen Lebens anordneten.
Den einen war das viel zu lasch und sie forderten den konsequenten Lockdown, die anderen sahen sich in ihren Grundrechten eingeschränkt und riefen die Diktatur aus. Allerdings muss man hier auch zugeben, dass es durchaus eine Mehrheit gab, die mit #bleibzuhause zu Solidarität und Besonnenheit aufriefen, besonders – und das hat mich wirklich positiv überrascht – in den sozialen Netzwerken. Diese Stimmen gibt es auch nach wie vor, ich vermute sogar, dass sie auch immer noch die Mehrheit ausmachen.
Doch die Stimmen von den Rändern werden eben lauter. Interessant dabei finde ich, dass bestimmte populistische Parteien erst einmal die Regierung beschimpften, sie hätte viel zu spät gehandelt, während sie selbst schon viel früher eindeutige Maßnahmen ergriffen hätten. Seltsam, dass sie diese Maßnahmen zuvor nicht wenigstens zur Diskussion stellten, und seltsam auch, dass sie, als sie damit wenig Gehör bei ihren Anhängern fanden, ziemlich schnell umschwenkten und laut tönten, es sei doch bloß eine normale Grippewelle und alles viel zu übertrieben. Aber gut, das spricht für sich, denke ich.
Viel interessanter fand ich, dass nach dem Ausbremsen der Wirtschaft zwar die Solidarität beschworen wurde, jedoch im Detail jeder nur danach fragte, wie denn nun seine Branche unterstützt werde, was der Staat für ihn tun werde, oft verbunden mit dem Vorwurf, alle anderen seien ja viel besser dran. Zugegeben, als selbstständiger Journalist habe ich mir auch Sorgen gemacht, da ich ohne Aufträge, und das sind nun mal überwiegend Berichte über öffentliche Veranstaltungen, nun mal auch kein Einkommen habe. Doch es war schon erschreckend, wie eng der Horizont bei manchen wurde und die weltweite Pandemie plötzlich auf die eigenen beruflichen Einschränkungen heruntergebrochen werden konnte. Selbst globale Unternehmen mussten ja plötzlich Mietzahlungen aussetzen, weil die Milliardengewinne nicht mehr ganz so sprudelten.
Ganz zu schweigen von denen, die plötzlich wie irre Klopapier horten mussten, damit... ja, warum eigentlich. Ehrlich gesagt habe ich das bis heute nicht verstanden und bin bloß froh, dass Klopapier kein Mindesthaltbarkeitsdatum hat und auch noch tadellos ist, wenn diese Leute ihren Vorrat in dreißig Jahren ihren Enkeln vererben.
Auf der anderen Seite gibt es dann aber die, die plötzlich kreativ wurden. Da gibt es Menschen, die einen ehrenamtlichen Einkaufsservice für ältere und kranke Menschen anboten, damit diese sich nicht der Gefahr einer Ansteckung aussetzen müssen. Es gibt (überwiegend) Frauen, die hörten, dass in Krankenhäusern, bei Pflegediensten etc. die Schutzmasken knapp wurden und zu nähen begannen. Und es gibt beispielsweise die Jugendlichen, die in der Zeit, in der sie eh nicht zur Schule können, die Ausgabe bei der Tafel übernommen haben, weil diejenigen, die das sonst tun, eben selbst zur Risikogruppe gehören.
Kurz gesagt, es ist teils unglaublich, wie schnell Bewegung in die Gesellschaft kam und da sind all die kreativen Ideen von Kulturschaffenden noch nicht einmal eingeschlossen. Musiker veranstalten Wohnzimmerkonzerte, die sie in die Welt streamen, Autoren entdecken, dass auch Lesungen online funktionieren und sogar und vor allem die Kirche geht mit Videoandachten und einigem mehr ganz ungewohnt moderne Wege.
An einem Abend habe ich beispielsweise an einem Stream teilgenommen, bei dem der Streamer ein Rollenspielbuch vorgelesen hat und im Chat dann gemeinsam über die jeweiligen Entscheidungsmöglichkeiten in der Geschichte abgestimmt wurde. Es war ein interaktiver Spieleabend mit Freunden und für mich ein großartiges Format, das ich auch gerne häufiger miterleben möchte, wenn alles wieder normal ist.
Fortsetzung folgt...
Alles fühlt sich so surreal an. Die Stadt ist nahezu menschenleer, nur vor der Apotheke stehen drei Menschen vor der Tür Schlange. Nun ja, eine Schlange mit ziemlich großem Abstand. Weil das nun mal das Gebot der Stunde ist. Darum dürfen ja auch nur zwei Kunden gleichzeitig hinein. Nur durch diesen Abstand zu anderen Menschen lässt sich die Pandemie einigermaßen in den Griff bekommen, heißt es. Ich hoffe, die Virologen liegen damit richtig.
Als Dauerzustand ist dieses an die Zombieapokalypse erinnernde Szenario nämlich nicht empfehlenswert, finde ich. Obwohl ich ja auch sagen muss, dass wir es relativ gut getroffen haben, wenn die Zombies nur Klopapier hinterherjagen und von allen Menschen mindestens einen Meter Abstand halten. Überhaupt habe ich das Gefühl, dass weitestgehend Solidarität vorherrscht, von den üblichen Panikmachern oder Verschwörungstheoretikern einmal abgesehen.
Auch vor der Apotheke standen wir Kunden geduldig an bis jemand heraus kam und der nächste eintreten konnte. Als ich an der Reihe war, stellte ich mich vor die Plexiglasscheibe, die als Spuckschutz diente und orderte in aller Ruhe eine Flasche Hustensaft. D. hatte mich nämlich angerufen und darum gebeten, ihm und den Kindern den Hustensaft vorbeizubringen.
Die Mädchen waren letzte Woche schon krank gewesen, jetzt ging es ihnen wieder besser, doch sie hatten M. angesteckt, der nun hustete und Fieber hatte. Auch D. selbst war nicht ganz auf dem Posten und war schon beim Arzt gewesen, der ihn umgehen krank geschrieben hatte. Von Corona keine Rede. Auch nicht als ich wegen der Kinder beim Kinderarzt angerufen hatte.
Die Sprechstundenhilfe ließ sich die Symptome schildern, die mich ehrlich gesagt schon ein wenig beunruhigten, sie jedoch nicht aus der Fassung brachten. Wir sollten Fiebersaft geben, riet sie, und erst einmal beobachten. „Und wenn es bis Montag nicht besser ist, melde ich mich noch einmal bei ihnen“, schlug ich vor. Sie jedoch wehrte ab. „Nein, melden sie sich nur, falls es noch schlimmer wird.“ Na super. Wie sollte ich denn übers Telefon entscheiden, ob es schlimmer wurde?
F. und D. behielten zum Glück auch die Ruhe, kauften Fiebersaft und bekamen das Fieber so auch tatsächlich herunter. Das beruhigte uns alle erst einmal. Heute Morgen aber rief D. bei mir an und meldete, das Fieber sei nun zwar weg, doch er bekomme M.s Husten nicht in den Griff. „Warst du denn in der Apotheke und hast Hustensaft gekauft?“, fragte ich. Nun ja, er habe es versucht, erklärte er mir, dreimal sei er in einer Apotheke gewesen und habe versucht zu erklären, was sein Kind plagte. Da ihm aber das Wort Hustensaft nicht eingefallen sei, habe er dreimal Fiebersaft bekommen und wisse jetzt nicht mehr weiter.
Tatsächlich musste ich darüber erst einmal lachen, sagte dann aber schnell zu, den Einkauf für ihn zu erledigen. „Aber ich werde nicht lange bei euch bleiben, sondern dir nur an der Tür das Medikament überreichen“, warnte ich ihn vor. Er verstand, bedankte sich und war erst einmal beruhigt. Ich weniger, denn ich ahnte schon, dass es nicht so leicht werden würde.
In der Apotheke allerdings ist es sehr leicht, ich lege das Geld auf den Tresen, eine Tüte wird mir rübergeschoben, alles ohne Körperkontakt, aber auch ohne überzogene Angst, sondern einfach ruhig und vorsichtig. Ja sicher, ich hätte die Tüte nun auch bei D. vor die Tür stellen und mich vom Acker machen können, bevor er öffnete. Da ich mich aber wenigstens kurz erkundigen will, ob er alles richtig verstanden hat, was gerade an Maßnahmen angesagt ist, möchte ich doch mit ihm sprechen und das eben auch mit Augenkontakt, damit ich sicher sein kann, dass er am Ende nicht ebenso ratlos dasteht wie in der Apotheke.
Als er die Tür öffnet, sind die Kinder natürlich sofort da, springen an mir hoch und umarmen mich. Sicher nicht im Sinne eines Kontaktverbotes und ganz sicher eine wahre Einladung vor Viren, doch wie sollte ich erklären, dass sie mich nicht berühren dürfen? Ich hoffe einfach drauf, dass ich es bis nach Hause schaffe, mir nicht unbewusst im Gesicht herumzufuchteln und dass gründliches Händewaschen dann ausreicht.
M. freut sich über den Hustensaft, von dem F. ihm auch sofort einen Löffel verabreicht. Dann wendet er sich schnell wieder D.s Smartphone zu, auf dem er offenbar als Entschädigung spielen darf. Im ersten Moment denke ich, ich sehe nicht richtig. Der kleine M. zockt routiniert eine Runde PUBG, ballert Gegner weg und hält mir das Ergebnis dann stolz unter die Nase.
„Meinst du, dass das das richtige Spiel für ihn ist?“, frage ich D. Der lächelt verlegen, schüttelt den Kopf und erklärt dann aber: „Die Kinder dürfen nicht in die Schule, dürfen nicht raus und sich mit Freunden treffen, was soll ich machen?“ Ja, ich verstehe ihn. „Außerdem – das“, fügt er bedeutungsschwanger hinzu, „das ist nur ein Spiel.“ Auch hier verstehe ich, was er meint und beschließe, das Thema damit gut sein zu lassen.
Für D. und F. ist es aber noch nicht so ganz abgehakt. Wir reden erst eine Weile über die Pandemie, über die Maßnahmen, die in Deutschland ergriffen werden, dann aber kommen wir auf die Flüchtlingslager zu sprechen. Hier sitzen wir in unseren Häusern fest und müssen uns vielleicht wirtschaftliche sorgen machen. Das alles ist schlimm genug. Viele Lager aber sind hoffnungslos überfüllt, es gibt mancherorts nicht mehr ausreichend sauberes Trinkwasser, von Hygienevorschriften und medizinischer Versorgung einmal ganz abgesehen.
Auf dem Weg nach Hause lasse ich mir all das noch einmal durch den Kopf gehen. Sicher, für uns ist es eine unbekannte Situation voller Angst. Dort aber muss es sich wirklich wie die Zombieapokalypse anfühlen, wenn jemand das Virus einschleppt und weder etwas gegen die Ausbreitung, noch gegen die Symptome getan werden kann. Ehrlich gesagt will ich es mir gar nicht genauer vorstellen. Ich hoffe nur, dass wir bei all unseren eigenen Sorgen all diejenigen nicht vergessen, für die die Pandemie noch viel bedrohlicher ist.
Was ist denn da bei unseren Nachbarn in Thüringen los? Sicher, die Wahl im Oktober brachte das Ergebnis mit sich, dass ausgerechnet die Partei, die politisch am weitesten links steht und die Partei des rechten Spektrums die meisten Stimmen haben. Dass das schwierig für eine Regierungsbildung ist, muss nicht extra erklärt werden. Doch muss das denn gleich dazu führen, dass sich sämtliche Parteien selbst zerlegen?
Zunächst gab es Anfang des Monats jene unsägliche Wahl zum Ministerpräsidenten, bei der der Kandidat der kleinsten Fraktion im Landtag sich am Ende völlig überrascht gab, dass die Rechten lieber ihn wählen als den „Klassenfeind“ zu akzeptieren. Der Tabubruch war da, ein Aufschrei ging durch die Republik und sämtliche Erklärungsversuche der FDP wirkten einfach nur lächerlich und hilflos.
An dieser Stelle sei aber auch ganz ernsthaft erwähnt, dass der Tabubruch des Paktierens mit den Rechten in den Medien, aber vor allem auch in der Bevölkerung eine Empörung lostrat, die einmal deutlich zeigte, wie die Mehrheit in diesem Land denkt und auch, dass solch ein Aufschrei der breiten Masse durchaus etwas bringt. Hätte es diesen nicht gegeben, wäre nämlich Thomas Kemmerich immer noch thüringischer Ministerpräsident, ins Amt gehoben von der AfD und damit durchaus Vorbild für andere, denen auch alles egal ist, wenn sie bloß ein Stück vom Kuchen der Macht abbekommen können.
Gerade für die CDU ist all dies eine durchaus existenzielle Frage. Wollen sie in Koalitionsfragen auch künftig auf ihrer klaren Ablehnung der Linken beharren? Das könnte aber bedeuten, dass sie früher oder später direkt oder indirekt mit den Rechten zusammenarbeiten und damit Linke und AfD auf eine Stufe stellen. Oder erkennen sie an, dass die Linke zwar viele grundsätzliche Themen komplett anders beurteilt, aber ja immerhin eine demokratische Partei ist, während die andere Seite durch die Duldung von Faschisten in ihrer Mitte dem sicher nicht entspricht? Genau das ist die Kernfrage, die insbesondere die CDU für sich zu klären gehabt hätte.
Statt einer Antwort trat dann aber wenig später die Vorsitzende zurück und lenkte die Diskussion damit von Landes- auf Bundesebene, von einer Auseinandersetzung über die Frage des Umgangs mit den Rechten hin zu einer Personaldebatte. In dieser zeigte sich, dass die Partei derzeit wenig zu bieten hat, wohl aber großes Potenzial, sich in internen Machtkämpfen aufzureiben. Ein Schelm, wer dabei an die letzten Jahre der SPD denkt, die damit in Thüringen ja immerhin noch acht Prozent der Wähler für sich begeistern konnten.
Nun meldete sich der frühere Ministerpräsident Bodo Ramelow zu wort, sicher auch nicht ganz uneigennützig, aber immerhin mit einem lösungsorientierten Vorschlag, der ausgerechnet die noch frühere CDU-Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht ins Spiel brachte. Sicher, damit setzte er der CDU sozusagen die Pistole auf die Brust, indem er eigentlich fordert, sie sollen sich jetzt entscheiden, ob sie lieber mit den Linken oder den Rechten zusammenarbeiten.
Von Ramelow ist das ein durchaus kluger Schachzug, denn zum Einen bringt es die Regierungsbildung weiter, zum Zweiten fordert er die CDU zu einer klaren Aussage auf und zum Dritten ist dies natürlich eine generell für die Linken nicht ganz unbedeutende Frage für die politische Arbeit der nächsten Jahre. Leider eierte die CDU erst einmal nur herum, wirklich klare Aussagen blieben aus.
Ausgerechnet Christine Lieberknecht selbst ist es nun, die zur Vernunft mahnt und ganz offen eine Zusammenarbeit mit der Linken fordert. Weil es endlich weitergehen muss, weil es hier in erster Linie um Sachfragen und nicht um Posten geht und weil am Ende aus all diesem Chaos eben vor allem die Rechten profitieren und sich nun schon seit Wochen ins Fäustchen lachen können. Ihre Partei solle Ramelow unterstützen und damit Politik sich nicht noch weiter unglaubwürdig macht. Denn das ist es, worum es in erster Linie geht. „Ich habe mir das so nie träumen lassen“, wird sie im Spiegel zitiert, „aber wir müssen realpolitisch handeln, um das Land zu beruhigen.“
In den Innenstädten herrscht Konsumtrubel wie jedes Jahr und in den Medien wird wieder einmal darüber diskutiert, ob wir Flüchtlinge in Deutschland aufnehmen oder einfach im Mittelmeer ertrinken lassen sollten. Überspitzt gesagt jedenfalls. Mich jedenfalls kotzt all das mehr und mehr an. Uns geht es gut, doch all das könnte ein Ende haben, denn „die“ uns unseren Wohlstand wegnehmen wollen. Wer immer „die“ auch sind.
Wir fühlen unsere Zukunft nicht etwa durch eine Industrie bedroht, die nicht radikal umdenken will, weil es ja teurer wäre, und auch nicht durch eine Politik, die keine Maßnahmen ergreift, weil es ja der Industrie schaden könnte. Nein, wir lassen uns von jugendlichen Klimaaktivisten triggern und von rechten Hetzern aufstacheln.
Seit Jahren geht das jetzt so, so kommt es mir vor. Seit Jahren lassen sich viele Menschen und Medien die Themen von jenen diktieren, die Angst vor dem Neuen oder vor dem Fremden schüren und damit ein Narrativ erschaffen, das uns in einer Opferrolle darstellt. Wir sind nicht das reiche Land, das den Klimawandel vorantreiben könnte, wir sind nicht das reiche Land, das noch viel mehr Menschen in Not helfen könnte, nein, wir sind diejenigen, die bald nichts mehr zu melden haben.
Wir tragen nicht etwa eine Mitschuld an der Welt, so wie sie ist, nein, wir müssen verteidigen, um nicht unterzugehen. Dabei werden Idealbilder heraufbeschworen, die es längst nicht mehr gibt und im Grunde auch nie gegeben hat. Und um diese Bilder zu verteidigen, sind alle Fake News recht und jede noch so absurde Verschwörungstheorie billig.
Inzwischen sind die Gräben in unserer Gesellschaft und selbst in meinem eigenen Umfeld so tief, dass ich nicht mehr daran glaube, sie noch überwinden zu können. Und es macht mich mehr und mehr mürbe, es überhaupt zu versuchen.
In den letzten Jahren habe ich viel für die Kirche gearbeitet und dabei festgestellt, dass es nicht nur wichtig ist, christliche Nächstenliebe aktiv zu leben, sondern auch unsere Pflicht. Vor allem gilt diese Nächstenliebe nicht nur für eine diffuse Gruppe, die einige durch Herkunft oder nationale Grenzen definieren wollen, sondern ganz nach dem Gleichnis des barmherzigen Samariters insbesondere auch für jene, die uns fremd und vielleicht auf den ersten Blick nicht einmal sympathisch sind.
Im Privaten habe ich mit D., F. und den Kindern zum Glück Menschen kennengelernt, die mir sehr sympathisch sind, die von Fremden zu Freunden wurden und bei denen ich spüre, was ein wenig Hilfe doch bewirken kann. Folglich sind sie auch diejenigen, mit denen ich in der Weihnachtszeit Zeit verbringen und die Welt da draußen manchmal ein Stück weit vergessen möchte.
Natürlich dreht sich bei S., A. und M. auch alles um Geschenke und sie sagen mir mehr als einmal, was sie sich alles wünschen würden. Allerdings haben gerade sie auch Verständnis dafür, wenn ich ihnen erkläre, dass eben nicht alle Wünsche erfüllt werden. Bei F. und D. gibt es keinen Weihnachtsbaum und keine sonstige kitschige Deko, dafür aber echte Freude, wenn wir uns treffen und durchaus intensive Gespräche.
Zum Beispiel fragte mich D. neulich, was es bei uns mit dem Nikolaus und dem Weihnachtsmann auf sich hat. Und warum kommt der eine am 6., der andere am 24. Dezember, beide bringen sie den Kindern Geschenke und zwischendurch gibt es noch einen Adventskalender, der möglichst auch mehr zu bieten haben muss als jeden Tag nur ein Stückchen Schokolade.
Anfangs tat ich mich schwer, ihm das zu erklären, ohne dabei wieder nur auf die Konsumgesellschaft zu schimpfen. Der Nikolaus, so erklärte ich, geht eben auf den real existierenden Bischof Nikolaus zurück, der Weihnachtsmann hingegen auf die wohl erfolgreichste Marketingidee der Welt und dann gibt es in Deutschland eigentlich auch noch das Christkind, das am Heiligen Abend die Geschenke gebracht hat. Das wiederum geht auf Jesus Christus zurück, was ja logisch ist, warum das Christkind hier in Deutschland allerdings ein blondgelocktes Mädchen ohne Migrationshintergrund sein muss und warum sich mancher aufregt, wenn es nicht so ist, kann ich leider nicht logisch erklären.
Jesus, Maria und Josef und die Weihnachtsgeschichte kennt D. als Kurde auch. Ebenso den Bischof Nikolaus, denn den gebe es in Syrien auch, erklärt er mir. Bei den Christen dort käme an Weihnachten der Weihnachtsmann „Baba Noel“, der auf eben jenen Bischof zurückgeht, doch der habe den Rest des Jahres, einschließlich des 6. Dezembers, frei. Das leuchtet mir ein, klingt für mich logisch und ergibt ja eigentlich auch mehr Sinn als eine erfundene Werbefigur.
Wir überlegen dann noch gemeinsam, wie es denn in anderen Ländern ist. F. weiß, dass der Weihnachtsmann in den USA Santa Claus und in Frankreich Père Noel heißt. Ob sich dahinter allerdings der Bischof oder der Coca-Cola-Mann verbirgt, wissen wir alle nicht. Ebenso wenig, ob ich anderen Ländern auch sowohl Nikolaus und Weihnachtsmann kommen oder doch das blondgelockte Christkind oder wer auch immer. Ist ja eigentlich auch egal.
Wichtig ist doch, dass wir alle bestimmte Traditionen haben, die uns wichtig sind und dass wir die Traditionen anderer respektieren. Wenn wir uns darüber austauschen, dann können wir entdecken, dass sie letztlich alle doch Gemeinsamkeiten haben. So zum Beispiel die, dass wir unseren Lieben gerne eine Freude machen und dass es beim Schenken eigentlich darum geht, dass wir uns und anderen gerade zum Jahresende Glück, Gesundheit und Frieden wünschen.
Der rechte Terroranschlag in Halle hat uns in dieser Woche erschüttert und betroffen gemacht. Dennoch war vieles, was in den Medien zitiert wurde, absolut vorhersehbar. Von einigen wurde natürlich sofort betont, dass es Angriffe auf Synagogen in Deutschland nie mehr hätte geben dürfen und dass nun endlich vehement gegen Rechtsextremismus vorgegangen werden müsse. Soweit richtig. Ebenso wurde der Mörder schnell als Einzeltäter deklariert, was ja auch schon beinahe reflexartig passiert, um Spekulationen vorzugreifen.
Dennoch gab es die natürlich. Im Chat zu einem „patriotischen“ Video auf Youtube habe ich mitgelesen, wie sofort vermutet wurde, es handle sich um eine Tat, die den Rechten nur in die Schuhe geschoben werden soll, dass es so kurz vor der Landtagswahl in Thüringen passierte, spreche doch dafür, denn so könnte die AfD am besten diskreditiert werden. Im besagten Chat wurde das natürlich zum Teil noch etwas drastischer ausgedrückt.
Der Videomacher und Host betonte zwar, dass er die Tat verurteile, allerdings immer mit dem Nachsatz: so wie er jegliche Gewalt verurteile, auch die von islamistischer oder linker Seite. Warum, frage ich mich, muss man das jedes Mal so plakativ betonen? Im Grunde doch nur, wenn man darauf hinweisen will, dass ja die anderen auch schlimm sind und um die Morde damit zu relativieren, oder nicht?
In den sozialen Medien passierte dann meiner Meinung nach genau das. Auf Twitter antwortete ich beispielsweise auf den Tweet eines jungen Mannes, der sinngemäß schrieb, er hoffe, der Rechtsextremismus werde nun nicht wieder verharmlost, indem Leute wieder schreiben, die Linken seien genauso doof. Er jedenfalls habe noch keinen Linken in Kampfmontur auf offener Straße schießen sehen. In meinem Kommentar gab ich mich zynisch und vermutete, wir könnten doch leider wieder Bullshit-Bingo spielen und es sei nur eine Frage der Zeit bis genau das Argument mit den Linken komme. Es dauerte nur wenige Stunden, dann postete jemand anderes darunter: „Bei jeder Straftat eines Flüchtlings können wir aber auch Linken-Bullshit-Bingo spielen.“
Viel schlimmer als das finde ich allerdings, wenn die Bundesvorsitzende einer großen Regierungspartei dann öffentlich sagt, dieser Anschlag sei ein „Alarmzeichen“ und wenn in etablierten Fernsehsendungen darüber diskutiert wird, ob eventuell Killerspiele eine Ursache für die Radikalisierung des Täters sein könnten. Nein, liebe Annegret, das ist kein „Alarmzeichen“, das ist Ausdruck des Versagens eines Staates, der die Gefahr des Rechtsextremismus seit Jahren und Jahrzehnten systematisch kleinredet. Und es hat auch nichts mit Videospielen zu tun, die ebenso verbreitet sind wie Krimis im Fernsehen oder Bogenschießen im Sportunterricht der zehnten Klasse in der Schule. Was diese Menschen radikalisiert ist eine rassistische Ideologie.
Klar, jeder Fundamentalismus kann in Extremismus umschlagen und dann ist es nur noch ein kleiner Schritt vom Denken zum Handeln. Das gilt für Religionen, für Linke, aber eben auch genauso für Rechte. Gegen all das sollten Polizei und andere Behörden vorgehen. Allerdings sprechen die Fakten nun einmal eine recht deutliche Sprache. Da gibt es Islamisten, die Attentate verüben. Daher gehören sie eingesperrt. Da gibt es Linke, die Autos anzünden. Auch sie gehören bestraft.
Aber die meisten extremistischen bzw. politisch motivierten Straftaten begehen eindeutig Rechte. Das belegt jede Polizeistatistik und die Amadeu-Antonio-Stiftung listet Fall für Fall und namentlich 198 Todesopfer rechter Gewalt seit 1990 auf. Darunter die beiden jüngsten Opfer der Anschläge von Halle oder der ermordete Kasseler Regierungspräsident Walter Lübke.
All diese Menschen wurden von Einzeltätern patriotischer oder völkischer Gesinnung ermordet, von sogenannten Reichsbürgern, von der Terrorvereinigung NSU, die ja angeblich auch nur als Trio agierte. Und all das soll bloß ein „Alarmzeichen“ sein? All das steht in keinerlei Zusammenhang? Nach all diesen Taten haben wir in unserem Staat kein Problem mit rechter Gewalt?
Offenbar ja nicht, denn bereits jetzt gibt es in den sozialen Netzwerken Tweets und Posts, die erläutern, dass letztlich Merkels Flüchtlingspolitik an allem Schuld ist. Weil unsere Regierung so viele Fremde ins Land lässt, müssen wir uns nicht wundern, wenn manche Bürger eben nicht nur besorgt reagieren, sondern auch zur Tat schreiten. Sorry, differenzierte kann ich die Gedankengänge hier nicht ausdrücken, weil ich sie nun mal absolut nicht nachvollziehen kann.
An dieser Stelle kann ich nur noch sagen, wie unfassbar ich all das finde, wie sehr es mich entsetzt. Mehr denn je bin ich froh, dass es D. und seine Familie hierher in den verschlafenen Harz gezogen hat, weil ich hier zum Glück überwiegend Leute kenne, die all das ebenso wenig nachvollziehen können. Und ich bin auch nach wie vor überzeugt, dass es der überwiegenden Mehrheit in ganz Deutschland so geht. Aber damit das so bleibt, dürfen wir die Argumentationen der Rechten nicht stillschweigend hinnehmen oder ihnen mediale Plattformen bieten. Denn eine Ideologie des Hasses erzeugt letztlich hasserfüllte Taten.
Neulich schrieb ich für unser tägliches News-Portal einen Text. "Bloß nicht von der Klimahysterie anstecken lassen", nannte ich ihn. Um allen Unklarheiten vorzubeugen habe ich ihn gleich in der Unterzeile ganz deutlich als Glosse gekennzeichnet. Eigentlich groß genug, eigentlich im Journalismus auch keine ungewöhnliche Textform und meiner Meinung nach eigentlich auch ohne den Hinweis deutlich als solche zu erkennen. Aber okay. Bevor ich erzähle, was weiterhin passierte, hier erst einmal der Text:
"Extreme Hitze in ganz Deutschland und auch im Harz. Beinahe stündlich werden neue Temperaturrekorde vermeldet, die Medien überschlagen sich mit Tipps wie viel trinken oder in der Sonne keinen Hochleistungssport zu betreiben und in den sozialen Netzwerken gibt es kaum noch ein anderes Thema. Die einen posten Fotos aus dem Schwimmbad, die anderen lamentieren über den Klimawandel. Da kann das Gehirn dann schon mal Feuer fangen.
Wetter und Klima, das sind zwei verschiedene Dinge, betonen einige vehement. Stimmt ja auch. Schon immer gab es regionale Temperaturschwankungen, holen sie weiter aus, das hat nichts mit menschengemachtem Klimawandel zu tun. Ach. Also gibt es den gar nicht?
Naja zumindest lässt er sich nicht beweisen. Bei immer mehr Messstationen in Deutschland dürfen wir uns über neue Hitzerekorde nicht wundern. Aber was ist mit den Auswirkungen, die wir selbst regional spüren? Also trockene Böden und kahle Wälder hier im Harz und trockene Talsperren, die letztlich ja die Trinkwasserspeicher für große Teile Norddeutschlands sind. Dazu immer wieder Starkregenfälle, von denen selbst Nationalparkmitarbeiter behaupten, es habe sie in so kurzen Abständen früher nicht gegeben. Ist das nicht alarmierend?
Nicht unbedingt. Leere Talsperren gab es früher auch immer mal wieder, Regen sowieso, vieles hat auch mit unserer wachsenden Akribie des Datensammelns zu tun. Außerdem sind es ja nur regionale Phänomene und daher ist es Wetter und kein Klima.
Okay, gut. Nur gibt es diese Phänomene ja auch in anderen Regionen. Zum Beispiel in Afrika, wo durch die Dürre immer größere Gebiete zu unbewohnbaren Wüsten werden. Oder in der Arktis, wo der Permafrostboden langsam auftaut. Oder in Australien; dort werden gerade die schlimmsten Dürrekatastrophen seit Beginn der Aufzeichnungen vermeldet. Alles nur regionale Phänomene? Zumindest einige Forscher in der Schweiz sehen das anders und haben genau das jetzt auch in einer Studie veröffentlicht.
Sicher. Studien sogenannter Experten, die in den Mainstream-Medien veröffentlicht werden. All das ist doch Teil der Klimahysterie, die gerade von der links-grünen Mehrheitsgesellschaft angeheizt wird. Es lassen sich immer auch Wissenschaftler finden, die das Gegenteil beweisen. Und wenn nicht die, dann gilt eben immer noch, dass man sich ohnehin nicht auf die Lügenpresse, sondern vielmehr auf das eigene Urteilsvermögen verlassen sollte.
Ach und das eigene Urteilsvermögen stellt bei 35 Grad im Schatten dann fest, dass es keinen menschengemachten Klimawandel gibt? Zumindest bei einigen, die auf den verschiedenen Plattformen sehr aktiv sind, ist das der Fall. Oft sind das auch genau die Leute, die sich bei kühleren Temperaturen über mangelnden Schweinefleischkonsum in deutschen Kitas, über die Diskriminierung von durch den Verfassungsschutz beobachteten patriotischen Gruppierungen oder über gemeingefährliche Schlepperbanden im Mittelmeer aufregen. Und natürlich über Greta Thunberg, die neben Angela Merkel und einigen anderen für all das verantwortlich zu sein scheint.
Warum eigentlich sind es ausgerechnet diese völlig harmlosen völkischen Patrioten, die den Klimawandel absolut nicht wahrhaben wollen? Könnten die Themen vielleicht sogar zusammenhängen? Mal angenommen, wir wäre wirklich für die hohen Temperaturen und damit auch für die Dürren und so weiter verantwortlich. Dann könnte es ja sogar unsere moralische Pflicht sein, jenen Menschen, die aus unbewohnbar gewordenen Gebieten fliehen, irgendwie unter die Arme zu greifen. Und wenn das, was sich gerade andeutet, in den nächsten Jahren so weitergeht, dann hätte Europa ja irgendwann gar keine sachlichen Argumente mehr, um sich gegen Menschen aus jenen Regionen, die wir über Jahrhundert ausgebeutet haben, abzuschotten.
Puh, das wäre aber ziemlich blöd. Dann sollten wir wohl doch besser jene Expertenmeinungen, die globale Zusammenhänge darstellen, als Hysterie darstellen und lieber unserer eigenen Wahrnehmung vertrauen, dass die Hitze nur regional und auch nicht von Dauer ist. Na, stimmt ja auch, denn wenn ich mich aus den sozialen Netzwerken ausklinke und vielleicht auch noch den Computer herunterfahre, wird es schon merklich kühler"
Soweit der Text also, ich hoffte, damit vielleicht doch einige Leser zum Nachdenken bringen zu können. Und ein bisschen Provokation darf ja wohl sein, vor allem von mir, wo ich mich in den sozialen Netzwerken durchaus als linksgrünversiffter Mainstream-Journalist betiteln lassen muss. (Eigentlich auch seltsam, dass das Wort "Mainstream" zum Schimpfwort werden kann, aber das ist eine andere Geschichte.)
Am nächsten Tag aber erreichte mich und auch die Redaktion eine bitteböse Mail. Eine Leserin empörte sich, wie wir einen solchen Text veröffentlichen könnten und warum die Redaktion mit jemandem wie mir zusammenarbeite, sie werde uns von nun an jedenfalls nicht mehr lesen. Was sie störte, war allerdings nicht etwa die vermeintliche linksgrünversiffte Provokation, nein, sie schrieb: Da können Sie ja auch gleich Werbung für die AfD machen!" Als ich das las, musste ich mehrfach schlucken. Nicht, weil ich nicht mit Kritik umgehen kann, damit hatte ich ja gerechnet, aber weil ich nicht erwartet hatte, dass jemand den Text als rechte Propaganda verstehen könne.
Noch einmal traf mich dann der Schlag als ich den Namen der Leserin in eine Suchmaschine eingab. Sie ist Lehrerin, so das Ergebnis. An einer Berufsschule. Deutschlehrerin! Sorry, aber dazu fiel mir leider nichts mehr ein. Seitdem frage ich mich aber, ob wir mittlerweile so sehr in unseren Bubbles gefangen sind, ob unjsere Gesellschaft so sehr gespalten ist, dass wir allein bei bestimmten Signalworten vielleicht schon überreagieren und nicht mehr fähig sind, einen Text rational zu begreifen. Ist es wirklich so weit gekommen?
Unsere Politiker und Führungspersönlichkeiten sind nur Marionetten, hinter denen ganz andere Machthaber stehen. Etwa ein Drittel der Deutschen stimmt dieser Aussage zu. Dementsprechend stecken Medien und Politik unter einer Decke und Studien, die den Klimawandel belegen, sind meist gefälscht. Fast die Hälfte von uns glaubt, dass es geheime Organisationen gibt, die großen Einfluss auf politische Entscheidungen haben.
Zu diesen Erkenntnissen kam die Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, die seit 2006 ein Meinungsbild der Deutschen erhebt, insbesondere zu rechtsextremen Einstellungen. In diesem Jahr gingen die Wissenschaftler unter dem Titel „Verlorene Mitte – Feindselige Zustände“ auch erstmals auf sogenannte Verschwörungstheorien ein. Demnach sind es eben 32,7 %, die Politiker für Marionetten halten, 24,2 % gehen davon aus, dass Medien und Politik gemeinsam agieren, immerhin 11,6 % halten den Klimawandel für eine Verschwörung und 45,7 % meinen, dass die eigentliche Macht bei im Geheimen agierenden Organisationen liegt.
Damit offenbart sich ein durchaus erschreckendes Misstrauen in eine funktionierende Gesellschaft, auch wenn die Studie in ihrem Grundtenor immer eher beschwichtigt. Vor allem rechtsextreme Einstellungen haben seit 2016 nicht auffällig zugenommen, heißt es in den erläuternden Texten, dennoch sind die Prozentzahlen derer, die manchen Behauptungen zustimmen durchaus bedenklich.
In Deutschland dürfe man nichts Schlechtes über Ausländer sagen, ohne gleich als Rassist beschimpft zu werden, meinen 54,8 % der Befragten. Die deutsche Gesellschaft werde durch den Islam unterwandert, behaupten 25,9 %. Die Ausländer kommen nur hierher, um den Sozialstaat auszunutzen sagen 18,9 % und immerhin 21,5 % sind überzeugt, Deutschland brauche jetzt eine einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert.
Zwar glauben „nur“ 3,9 %, dass eine Diktatur unter gewissen Umständen die bessere Staatsform ist, doch 64,5 % stimmen der Aussage zu, dass demokratische Parteien alles zerreden und Probleme nicht lösen. Natürlich sind dies nur einige Zahlen, doch zeigen sie deutlich, dass es mit dem Vertrauen in unser politisches System und unsere Gesellschaft nicht allzu weit her ist.
Die Studie liefert traditionell nur wenig Erklärungsansätze, sondern fokussiert sich auf die Fakten, doch einige Befragungen legen den Schluss nahe, dass es beim Rechtsextremismus und -populismus mit wirtschaftlicher Unsicherheit zu tun hat, mit dem Angst vorm sozialen Abstieg und auch mit der Politik selbst, die sozusagen in vielen Punkten die Bodenhaftung verloren hat. Allerdings scheint die Empfänglichkeit für rechte Einstellungen auch deutlich mit dem Bildungsniveau zusammenzuhängen.
Meist kommt es zu sogenannter gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, was im Grunde bedeutet, dass ein Verantwortlicher für die eigene unsichere Situation gesucht wird. Es leben zu viele Ausländer in Deutschland behaupten 35 %. Durch die vielen Muslime fühle ich mich manchmal wie ein Fremder im eigenen Land sagen 34,9 % und 17,6 % verlangen, Muslimen die Zuwanderung nach Deutschland zu verwehren. 44,2 % glauben, dass die meisten Asylbewerber in ihrem Land gar nicht verfolgt werden, diese letztgenannten Zahlen sind laut Studie in den vergangenen Jahren deutlich angestiegen.
Eine ebensolche Ablehnung gibt es gegenüber Juden, die angeblich versuchen aus der Vergangenheit des ritten Reiches heute ihren Vorteil zu ziehen (21,6 %), gegenüber Sinti und Roma, die in den Augen von 36,7 % generell zu Kriminalität neigen, und auch gegenüber homosexuellen und Trans-Menschen, die ekelhaft oder albern sind (14,8 % bzw. 12,6 %) sowie Obdachlosen, die aus Fußgängerzonen entfernt werden sollten (24,4 %), Langzeitarbeitslosen, die ja gar keinen Job wollen (50,6 %) und Menschen mit Behinderung, die besser unter sich bleiben sollten (3,3 %).
Ach ja – und Frauen sollte es natürlich wichtiger sein, ihrem Mann bei seiner Karriere zu helfen als selbst Karriere zu machen (8,5 %). Nun sind all das natürlich oft Einstellungen, denen die große Mehrheit ausdrücklich widerspricht, doch insgesamt bietet die Studie einen aufschlussreichen Einblick in eine Vielzahl von Meinungen, denen auch im Jahr 2019 noch nicht eben wenige Mitmenschen zustimmen.
Kennen wir die Menschen aus Syrien, aus Afghanistan, aus Eritrea oder woher auch immer inzwischen gut genug? Sicher nicht, denn soweit ich es beobachte, bleiben sie immer noch überwiegend unter sich, zumindest die Älteren. Haben sich etwa tatsächlich jene Befürchtungen bestätigt, dass die Flüchtlinge nicht zu uns passen und es nur auf unsere Sozialsysteme abgesehen haben? Wenn ich bedenke, wie viele mir auf diesem Fest erzählten, dass sie jetzt endlich arbeiten und nicht mehr auf den Staat angewiesen sind, bezweifle ich auch das. Eine junge Frau wagte sogar zu sagen: „Was für ein Blödsinn, wir sind es doch, die in eurer überalterten Gesellschaft in die Sozialsysteme einzahlen.“ Recht hat sie.
Kann es also sein, dass wir die Willkommenskultur, die wir hier hatten, uns Stück für Stück haben vergiften lassen? Wenn ich mir anhöre, wie öffentliche Debatten geführt werden, dann möchte ich das bestätigen. Inzwischen habe ich häufig das Gefühl, wir alle rechtfertigen uns nur noch dafür, dass wir damals Menschlichkeit und Nächstenliebe an den Tag gelegt haben. Wir lassen uns immer wieder auf die Argumentationen der Rechten ein und betonen hilflos, dass ja nicht alle Flüchtlinge nur des Geldes wegen hier sind, kriminell werden und sich nicht integrieren lassen wollen. Seltsam.
Der Film führt mir dies jedenfalls deutlich vor Augen. Damals war es anders, so scheint es mir, ich bin mir nicht sicher, ob die Mehrheit heute noch einmal so reagieren würde wie vor vier Jahren. Und wenn ich mir viele Reaktionen auf Ertrinkende im Mittelmeer und über die Schuld von Lebensrettern ansehe, die als Schleuser hingestellt werden, dann bestätigt das mein Gefühl leider umso mehr.
Etwa 1700 Einwohner hat St. Andreasberg, berichtete der Film, nun waren auf einen Schlag doppelt so viele Menschen im Ort. Selbstverständlich waren da viele am Anfang skeptisch, doch als die Geflüchteten schließlich fortzogen, vermissten viele sie auch als gute Kunden in den wenigen Geschäften, die es noch gibt. Am meisten vermissten sie jedoch die Mitarbeiter, denen sie in dieser Zeit eng ans Herz gewachsen waren.
Im Film werden immer wieder Kamerafahrten durch leere Gänge gezeigt, dazu in Rückblenden Fotos von gemeinsamen Aktionen und Festen, so dass die Trostlosigkeit dieser letzten Tage tatsächlich greifbar wird. Mit viel Engagement wurde Ordnung ins Chaos gebracht, all die individuellen Dramen aufgelöst, Freundschaften entstanden, Kinder wurden geboren und dann war all das plötzlich wieder vorbei.
Lalit Vachani ist ein aus Neu Delhi stammender Dokumentarfilmer, der international an verschiedenen Universitäten, so auch in Göttingen, tätig war und ist, wo er zu religiöser Diversität forscht und Seminare zum politischen Dokumentarfilm unterrichtet. Ursprünglich, so erzählte er, wollte er in St. Andreasberg über die Arbeitsabläufe und das Leben in der Erstaufnahmeeinrichtung berichten, doch bis alle Drehgenehmigungen eingeholt waren, stand dort dann schon die Schließung an. Somit wurde es ein völlig anderer Film als ursprünglich geplant.
Durch die Bilder, die an einen Lost Place denken lassen, ist es ein sehr stiller Film, doch einer, der eine große und wichtige Geschichte erzählt. Auf eine Weise zeigt er ein sterbendes Dorf, das von der Zuwanderung hätte profitieren können, ein anderes im Film geäußertes Fazit lautet: „Jetzt, wo wir die Infrastruktur aufgebaut haben, um Menschen zu helfen, schottet sich Europa ab.“
In der anschließenden Diskussion mit den Zuschauern beantworteten Vachani und Becker viele Fragen zum Film, es kam aber auch zum allgemeinen Austausch über die Zeit in der Notunterkunft Rehberg-Klinik. Eine Bewohnerin berichtete von ihren Erfahrungen, ebenso eine Mitarbeiterin und beide stellten fest, dass es eine schöne und wertvolle Zeit für alle Beteiligten war. Genau das, so Lalit Vachani, habe ihn beim Dreh am meisten beeindruckt, wie sehr die Geflüchteten das Leben der Menschen berührt haben und wie problemlos und schnell alle zusammenwuchsen, weil die Situation es eben erforderte.
Geht das wirklich nur im Kleinen und ist hochgerechnet auf unseren Staat vielleicht unmöglich? Können wir nur dann Menschen in unser Herz schließen, wenn wir persönlichen Kontakt zu ihnen haben? Aber müssen wir jemanden überhaupt persönlich in unser Herz schließen, um menschlich und verantwortungsvoll zu handeln? Reicht es nicht aus, dass wir uns klar machen, dass wir nun einmal zu jenem Teil der Welt gehören, wo es alles im Überfluss gibt, und viele dieser Menschen aus Teilen kommen, die letztlich für unseren Wohlstand ausgebeutet werden? Kann es nicht eine Bereicherung sein, wenn wir endlich dieses „Die könnten uns etwas wegnehmen“ aufgeben und gemeinsam anpacken, um die überalterte Gesellschaft in diesem Land neu zu definieren?
Die Rehberg-Klinik in St. Andreasberg wurde einst als Heilstätte erbaut, war später ein Reha-Zentrum und stand dann leer bis sie 2015 zur Notunterkunft für Flüchtlinge wurde. Diese wurde im Sommer 2016 wieder geschlossen, so dass das Gebäude inzwischen erneut leer steht. Doch über die letzten Tage der Erstaufnahmeeinrichtung gibt es einen Dokumentarfilm von Lalit Vachani, der kürzlich im Beisein der Filmemacher und mit Einladung zur Diskussion gezeigt wurde.
Zu diesem Filmabend waren jedoch nicht nur die Filmemacher, also Regisseur Lalit Vachani und Kameramann Olli Becker, gekommen, sondern auch einige ehemalige Mitarbeiter des ASB, der die Einrichtung betrieben hatte und sogar ehemalige Bewohner. Auch wenn ich selbst mit der Rehberg-Klinik relativ wenig zu tun hatte, wollte ich mir diesen filmischen Einblick und vor allem die anschließende Gespräche mit denen, die dort ihre Erfahrungen gemacht hatten, unbedingt gönnen.
Leider war dann nicht viel los und als ich ankam befürchtete ich im ersten Moment, Zeit oder Ort durcheinandergebracht zu haben. Doch in der Aula der Schule waren zahlreiche Sitzreihen aufgebaut, es gab Getränke und sogar ein paar Knabbereien, also war ich wohl richtig. Nur schien sich eben außer den unmittelbar Betroffenen kaum jemand für das dokumentarische Werk zu interessieren. Na gut, das Wetter war super und die Schließung inzwischen schon wieder ein paar Jahre her, doch immerhin war dies ein Film über eine turbulente Zeit, die es so in Deutschland vermutlich nicht wieder geben wird.
Alles war anfangs ziemlich unkoordiniert, berichteten die Mitarbeiter im Film, Spontaneität und Organisationstalent war gefragt. Zudem ging es laut und hektisch zu, doch alle, die dort arbeiteten, wollten in dieser Zeit unbedingt helfen, und diejenigen, die einzogen, waren dankbar für jede Hilfe, die ihnen die Ankunft in Deutschland ein Stück weit erleichterte.
Die Mitarbeiter des ASB und einige Ehrenamtliche schafften es, dass die Rehberg-Klinik wie so viele andere Einrichtungen in diesen Monaten nicht im Chaos versanken. Ein kurdischer Mitarbeiter berichtet, wie er 2012 selbst als Flüchtling nach Deutschland kam und ihm hier ehrenamtlich sehr geholfen wurde. Das war für ihn der Grund, warum er 2015 beschloss, diese Hilfe nun weiterzugeben.
All das waren Erfahrungen, die ich so gut nachvollziehen konnte, ja eigentlich ganz ähnlich ebenso erlebt hatte. Überhaupt gab es damals im Sommer 2015 ja so viele, die gerne helfen wollten, die sich schließlich auch irgendwie engagierten, sei es bei den Organisationen wie dem Roten Kreuz, den Johannitern oder wem auch immer, sei es in den Einrichtungen selbst auf welche Weise auch immer oder aber so wie wir, indem sie sich um diejenigen kümmerten, die aus den Erstaufnahmestellen auf die Kommunen und in eigene Wohnungen verteilt wurden.
Wo sind diese Menschen eigentlich geblieben, frage ich mich manchmal. Damals gab es eine ganze Reihe von Paten, die unglaublich engagiert Geflüchteten Deutsch beibringen wollten, sie auf den Wegen zu den Behörden begleiteten und und und. Inzwischen hatten sich viele von ihnen komplett zurückgezogen und D. sagt Rainer und mir manchmal, wie sehr ihn andere um seine Freundschaft zu uns beneiden. Was ist aus den anderen Paten geworden?
Erst vor einigen Tagen wurde in der Stadt jenes interkulturelle Fest gefeiert, das verschiedene Institutionen und zum Glück auch ich damals mit aus der Taufe gehoben haben. Beim ersten Mal war es so ein voller Erfolg gewesen, mit Musik aus verschiedenen Kulturkreisen, einem mehr als üppigen Buffet und vor allem mit gegenseitiger Neugier und dem großen Wunsch, die Neubürger kennenzulernen und willkommen zu heißen.
In diesem Jahr gab es auch Musik und ein ebenso großes Buffet wie damals, nur blieb am Ende mehr als die Hälfte übrig. Viele der Flüchtlinge waren gekommen. Gut, manche sind inzwischen in größere Städte gezogen oder es hat sie durch den Beruf an andere Orte verschlagen, doch von denjenigen die noch immer hier wohnen, waren viele da. Nur wo waren die Deutschen? Außer den Vertretern der Institutionen und Organisationen und den paar „üblichen Verdächtigen“ sah ich niemanden mehr, der mal einfach so vorbeikam, um eine neue Kultur besser kennenzulernen.
Fortsetzung folgt...
„Mach mal ein Foto vom Ortsschild in Freiheit“, lautete mein Auftrag. Also jenes Ortsschild, das ich noch im letzten Eintrag hier im Blog so schön als Symbolbild verwendet habe. Na, es gibt nun mal wenig Orte mit so wohlklingenden Namen. Außerdem schien die Sonne, der Himmel war blau und die Blätter der Bäume grün. Ein schönes Symbolfoto für irgendeinen Artikel also. Doch halt...
Dann erst sah ich mir den Aufkleber auf dem Schild genau an. Dass Straßenschilder mit irgendetwas beklebt oder auch besprayt werden, nun gut, aber dieser hier störte mich doch mehr als die meisten, die ich sonst so sah. „Nafri go home“, stand darauf („Nafri“ ist die polizeiinterne Bezeichnung für „nordafrikanischer Intensivtäter“), ein Sticker der Jungen Alternativen.
Die Jugendorganisation der AfD wird wegen ihrer migrations- und insbesondere islamfeindlichen Haltung als Verdachtsfall eingestuft. Hier in Osterode waren wir bis jetzt immer stolz auf die Integration, die wir in den vergangenen Jahren geleistet haben und auch darauf, dass die AfD bei den letzten Wahlen weniger Stimmen als im Bundesdurchschnitt bekam (Bei der Europawahl waren es 8,35 Prozent, bei der Bundestagswahl 8,92 Prozent.)
Ein solcher Aufkleber, zynischerweise auf dem Ortseingangsschild eines Ortes mit dem Namen Freiheit, zeigt aber, dass wir hier wohl doch nicht im Tal der Glückseligen leben. Wird es mit der Freiheit für einige vielleicht bald vorbei sein? Na gut, ich überdramatisiere wohl ein bisschen, sagte ich mir.
Dann aber lese ich die Nachrichten und nehme zur Kenntnis, dass der Bundestag verschärfte Abschieberegeln beschließt, in den sozialen Medien treffend als #HauAbGesetz“ betitelt, Bundesminister Seehofer schwadroniert darüber, dass Gesetze so zu formulieren seine, dass das Volk sie nicht verstehen kann, und bei der SPD wird von einer „Einwanderung in die Sozialsysteme“ gesprochen.
Wenn ich also im letzten Eintrag noch in der Vergangenheitsform davon schrieb, unsere Politik habe sich die Agenda von Wut- und Hutbürgern und Populisten diktieren lassen, so habe ich heute den Eindruck, dass wir leider schon einen Schritt weiter sind. Wenn laut Umfragen knapp 20 Prozent der Deutschen überzeugt sind, Ausländer kämen nur in unser Land, um die Sozialsysteme auszunutzen, und mehr als 40 Prozent denken, dass die meisten Asylsuchenden in ihrem Land gar nicht verfolgt werden, und eben auch, dass ein Großteil der Geflüchteten grundsätzlich kriminell ist, dann haben meiner Meinung nach die Rechten genau das erreicht, was sie erreichen wollten, und sind jetzt dabei, diese Ansichten auch auf breiter politischer Basis zu etablieren. Aber dazu werde ich mich demnächst noch einmal ein wenig ausführlicher auslassen.
Jetzt fällt mir dazu nur ein, dass D. neulich seinem Profilbild bei Facebook einen dieser Rahmen verpasste, die es dort ja gibt. Einen Rahmen mit der deutschen Flagge, weil er diesem Land so dankbar ist, weil er hier eine neue, sichere Heimat gefunden hat und weil er hier als Kurde nicht verfolgt wird, wie er mir später erklärte. Eigentlich eine schöne Idee.
Blöderweise musste ich ihn auf das kleine Parteilogo am Rande aufmerksam machen und den dazugehörigen Spruch, der vielleicht den einen oder anderen irritieren könnte. Da war zwar auch von der Liebe für dieses Land die Rede, aber seitens der AfD eben eine Liebe, die anscheinend nicht jeder empfinden darf bzw. die nur bei einigen auch auf Gegenliebe trifft. Nach meiner Erklärung tauschte D. sein Profilbild wieder aus und hat nun einen Rahmen mit kurdischer Flagge.
Mein Profilbild, egal in welchem sozialen Medium, wird von keiner Flagge geziert. Und auch nicht von sonstigen Symbolen. Nur das Ortsschild Freiheit – natürlich ohne Sticker – das könnte ich mir eventuell noch vorstellen.
„CDU-Chefin bekennt sich zur Meinungsfreiheit“ titelte Spiegel online heute. Noch vor nicht allzu langer Zeit hätte eine solche Schlagzeile eine ebensolche Aussagekraft gehabt wie „Der Papst ist katholisch“ oder „Die Erde ist eine Kugel“. Doch halt – auch die letzte Aussage wird inzwischen von gar nicht so wenigen Menschen angezweifelt. Vor allem im Internet, diesem #Neuland. Offenbar leben wir in einer Zeit, in der die Meinungsfreiheit von einigen bis ins Letzte ausgedehnt wird, während andere sich offenbar zu ihr bekennen müssen. Nach 70 Jahren Grundgesetz eine spätpubertäre Phase oder was ist da eigentlich los?
Auslöser für eine Kette unnötiger bis peinlicher Reaktionen war ein Video des Youtubers Rezo, in dem dieser mit der Politik der aktuellen Regierung abrechnet. (Na, wenn ihr in den letzten Tagen nicht unter einem Stein geschlafen habt, wisst ihr das ja eh.) So richtig fanden die Spitzenpolitiker und ihre Berater der CDU keinen Weg, um mit der Kritik des 26-jährigen Internetstars umzugehen, seine mit Quellen belegten Äußerungen wurden auf Twitter lautstark als „Fake News“ bezeichnet, es sollte ein Antwortvideo kommen, was dann aber doch zurückgezogen wurde und nach dem desaströsen Wahlergebnis gipfelte alles im Vorschlag Annegret Kramp-Karrenbauers, die Meinungsäußerungen von Youtubern zu regulieren.
Zunächst dazu: Wenn mich nicht alles täuscht, dann lassen sich die Parteien in Wahlkämpfen schon immer gerne von Prominenten aus Film, Fernsehen, Sport etc. unterstützen. Aber wenn jemand durchs Internet prominent ist, soll das plötzlich nicht mehr gelten? Oder sind jetzt etwa alle, die Videos mit politischen Aussagen auf Youtube hochladen, Journalisten? Also im letzteren Fall fühle ich mich in meiner Berufsehre ziemlich herabgewürdigt, ansonsten ist es ein Angriff auf die Meinungsfreiheit und damit Zensur. Wie man es also dreht und wendet, ein solcher Vorschlag von Politikern einer Regierungspartei ist absolut indiskutabel.
Fuck, die Akteure hier sind nicht Mitglieder irgendeines Ortsrates, das sind diejenigen, die unser Land regieren. Allein mit diesem Verhalten bestätigen sie nicht nur Rezos Vorwurf der Inkompetenz, sie stellen auch noch unter Beweis, dass sie nicht kritikfähig sind, nicht nachdenken, bevor sie handeln und auch noch abseits des Grundgesetzes handeln. Sowas ist einfach hochgradig peinlich.
Allerdings ist dies eben auch nur ein vorläufiger Höhepunkt einer weiteren Reihe deutlichen Versagens. Bereits als Jugendliche auf die Straße gingen, um gegen den damaligen Artikel 13 eines neuen Urheberrechts zu demonstrieren, war die Reaktion der etablierten Politik in weiten Teilen pure Arroganz. Ebenso als Schülenr anfingen, für den Klimaschutz und damit ihre eigene Zukunft auf diesem Planeten zu streiken. „Die sollen lieber in die Schule gehen... überlasst das den Experten... wenn sie unbedingt wollen, sollen sie in ihrer Freizeit streiken.“ (Mich würde ja brennend interessieren, was Lokführer oder Piloten erreichen, wenn sie in ihrer Freizeit, vielleicht abends im heimischen Garten streiken – aber das nur nebenbei.)
All diese Themen, die große Teile der jüngeren Generation umtreiben, wurden mit einem arroganten Lächeln weggewischt. Auf der anderen Seite, wenn in den Jahren davor immer wieder besorgte Bürger auf die Straße gingen und sich nicht selten sogar in der Grauzone zwischen Meinungsfreiheit und Hetze bewegten, dann hieß es vollmundig, man müsse deren Sorgen ernst nehmen. Über Monate und Jahre hinweg ließ man sich die komplette politische Agenda von den Wut- und Hutbürgern und Populisten diktieren. Aber bei den Jugendlichen keine Spur davon.
Das Dumme an der Meinungsfreiheit ist übrigens: auch die Rechten haben ein Recht darauf. Wenn also besorgte Bürger behaupten, man dürfe in diesem Land ja nichts mehr sagen, die nationalen Regierungen würden von einer geheimen Elite gesteuert und die Erde ist eine Scheibe, dann dürfen die das äußern, weil eben die Freiheit der Meinung auch immer die Freiheit Andersdenkender ist. Sie dürfen sogar Videos auf Youtube hochladen, in denen sie behaupten, Rezo sei für sein Video von den Grünen bezahlt worden, ebenso wie Greta Thunberg von der NWO. Die Grenzen der Meinungsfreiheit sind erst da erreicht, wo die Beleidigung oder die Volksverhetzung anfängt. (Den Rechten sei an dieser Stelle nur noch einmal nahegebracht, dass damit auch alle anderen wiederum ihre Meinung zu solchen Parolen sagen dürfen und diese Meinungen nicht alle von einer dubiosen linksgrünversifften Elite gesteuert werden.)
Fakt ist also, dass unser großartiges Grundgesetz auch nach 70 Jahren noch Dinge reguliert, an die die Verfasser damals noch gar nicht denken konnten. Doch gewisse humanistische Grundsätze gelten eben zu jeder Zeit bzw. sollten gelten. In Artikel 1 heißt es übrigens: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Wenn sich nun aber Repräsentanten des Staates selbst so würdelos gebärden wie im Moment, dann dürfen wir uns leider nicht wundern, dass Populisten die Deutungshoheit an sich zu reißen versuchen und dass eine junge Generation sich vollkommen verarscht vorkommt und sich letztlich von der kindischen Welt der Erwachsenen abwendet – Ausgang ungewiss.
Wenige Tage später ist der Fernseher dann da und zum Glück hat D. auch einen Bekannten, der ihm das Riesengerät anschließen und einstellen kann. In technischer Hinsicht bin ich ja schon froh, wenn ich auf meinem Computer meine Texte und Fotos wiederfinde und wenn ich weiß, wie ich sie hier im Blog einstellen kann. Dafür habe ich bis jetzt in all meinen Wohnungen sämtliche Möbel selbst aufgebaut, bis auf die Hängeschränke in der Küche, die nun wirklich allein nicht an die Wand zu dübeln sind, sogar alle ganz alleine.
Aus diesem Grund sage ich dann auch sofort zu als D. mit bittet, ihm beim Aufbau des neuen Wohnzimmer- und Fernsehschranks zu helfen. Zu zweit sicher kein Problem, denke ich mir, zumal D. früher ja auch handwerklich gearbeitet hat, sogar auf dem Bau und da kommt er mit Möbeln wohl allemal zurecht.
Diese Zuversicht stand allerdings nur bis ich die Montageanleitung in den Händen hielt. Also ehrlich gesagt arbeite ich fast immer nach Anleitung, weil ich dank einiger Lebenserfahrung festgestellt habe, am Ende spart es doch Zeit, wenn man nicht nach Stunden alles wieder auseinander schrauben muss, weil man ganz am Anfang Schraube A-19 übersehen oder die Rückwand vergessen hat oder sowas. Und tatsächlich finde ich die meisten Anleitungen auch völlig okay, wenn man sie erst einmal ein wenig hin und her gedreht hat.
Nicht so bei dieser. Es fängt schon mit der Zuordnung der einzelnen Schrankteile an. Die sehen nämlich auf den Abbildungen nicht so aus wie in echt, es sind nur jene Bohrungen etc. eingezeichnet, die gerade für den aktuellen Arbeitsschritt von Bedarf sind und daher kann ich nicht erst einmal alles in typisch deutscher Manier sortieren und zurechtlegen. Sämtliche Schrauben und Nägel natürlich nach Größen geordnet, um sie dann im Bedarfsfall schnell greifbar zu haben.
D. hingegen fängt schon einmal an, die unzähligen Holznöppel in die vermutlich vorgesehenen Löcher zu dröseln und sucht dabei nur verzweifelt den Leim, mit dem er die Festigkeit seines Möbels verstärken kann. Offenbar braucht dieser Schrank aber keinen Leim. Schade eigentlich, denn wenn ich den jetzt tief eingeatmet hätte, wäre ich vielleicht dem Prinzip auf die Spur gekommen, nach dem diese Montageanleitung erstellt worden war. Jedenfalls fing sie nicht mit Schritt 1, sondern mit Schritt 7 an und war auch nicht chronologisch zusammengetackert, sondern vermutlich so, wie die Zettel dem unterbezahlten Arbeiter in Südostasien in die Hände gefallen waren.
Wie auch immer nach einer gewissen Einarbeitungszeit legte auch ich los und zumindest die Seitenteile ließen sich ebenso aufbauen wie fast alles, was ich so in meiner Wohnung hatte. Insgesamt waren es zwei Schrankelemente an den Seiten, eine Art flache Kommode unten und ein Hängeschrank oben, für ein wahres von einer modernen Wohnwand umrahmtes Heimkino also.
Allerdings von einer Schrankwand mit Rissen in den mit Hochglanzlack beschichteten Türen, wie F. plötzlich feststellte als sie einen Blick auf die Einzelteile warf. Hätte ich alle Teile wie gewohnt zuvor sortiert, wäre es auch mir schon eher aufgefallen, dachte ich mir, ärgerlich war es aber so oder so. Vor allem, weil die Risse nicht nur oberflächlich, sondern richtig tief waren. Wir mussten reklamieren.
Eine Kundenhotline gab es tatsächlich, allerdings war die Nummer auf der Seite des Shops erst nach ziemlich langem suchen auf einer Unterseite zu finden und es gab dann nicht einmal eine tolle Bandansage mit musikalisch unterlegter Warteschleife, sondern nach langem Klingeln ging tatsächlich ein echter Mensch ans Telefon. Der wirkte auf mich ziemlich überrascht und erklärte uns dann auch nur, dass wir Fotos der beschädigten Teile machen und per Mail schicken sollten.
Grundsätzlich hasse ich es, begonnene Arbeiten nicht zu Ende führen zu können, doch jetzt ging es leider nicht anders. Also verstauten wir alles, insbesondere die Tür mit dem Glaseinsatz möglichst kindersicher im Flur und warteten zwei Tage. Dann allerdings wurden sämtliche Bauteile ohne Murren abgeholt und durch fabrikneue Pakete ersetzt. Immerhin. Auch wenn das für uns bedeutete, noch einmal ganz am Anfang anzufangen.
Schneller als beim ersten Versuch ging es diesmal auch nicht, denn die Anleitung hielt noch weitere Herausforderungen bereit, insbesondere bei der Tür des oberen Schrankteils. Während sich die Klappe auf dem Foto nach oben aufklappen ließ, tat sie das in der Anleitung nach unten und wie ich die Teile auch drehte und wendete, die Vorbohrungen ließen nichts anderes zu. Noch dazu waren die Arbeitsschritte zur Gesamtmontage der einzelnen Elemente gar nicht mehr verzeichnet und auch Dübel für das obere Element fehlten.
„Zur Befestigung an Wand prüfen diese zunächst und besorgen dann passende Teile“, hieß es lapidar. Natürlich war es Sonntagnachmittag und kein Baumarkt hatte geöffnet, so dass ich fürchtete, wir könnten unser Werk schon wieder nicht vollenden. Doch D. beteuerte, er habe auch dafür einen Freund, der helfen könne. Tatsächlich kam der am Abend und hatte auch wirklich passende Schrauben und Dübel zur Hand, so dass das Heimkino doch noch eröffnet werden konnte. Trotzdem fuchst es mich immer noch, dass ein blöder Schrank es geschafft hat, mir meine bisher fehlerlose Möbel-Aufbau-Bilanz so zu ruinieren.
D. will sich einen neuen Fernseher kaufen. Zugegeben, der, den er von Nachbar I. damals ja eigentlich auch nur übergangsweise bekommen hat, ist erstens nicht besonders groß, zweitens noch ein Röhrengerät und drittens zeigt er seit einiger Zeit auch recht seltsame Farben, also violetten Himmel und grüne Gesichter. Auf Dauer mag das zwar so manch illegale Substanz ersetzen, wirklich toll ist es aber nicht. Natürlich will D. jetzt gleich richtig zuschlagen und sich den größtmöglichen Flachbildmonitor kaufen.
Mein Verhältnis zum Fernsehen ist eh ein wenig gespalten. Nun verteufle ich nicht alles, was dort läuft, aber ich habe auch noch nie einen eigenen Fernseher besessen und komme mit dem Internet, Kino und ab und zu eine DVD wunderbar zurecht. Vor allem muss ich gestehen, dass ich auf Werbung im Fernsehen relativ allergisch reagiere.
Das hat zum Teil mit meiner Ex-Freundin zu tun, die damals ihre Kinder ziemlich oft vor dem Fernseher parkte und die Werbung auf den Kinderkanälen zumindest in den 90ern schlimmer war als jede illegale Substanz. Zum Teil liegt es aber auch daran, dass ich die meisten Spots einfach nur unerträglich dumm finde, voller überhöhter Versprechen bis hin zur ewigen Glückseligkeit und das für Produkte wie Küchenpapier oder Kaffeepads.
Apropos Kaffeepads oder noch schlimmer die entsprechenden Kapseln. Nun bin ich auch kein großer Kaffeetrinker, aber für jede Tasse eine nicht eben kleine und unverrottbare Plastikverpackung in die Umwelt zu schmeißen, das ist für mich der komplette Irrsinn. Gut, ich komme vom Thema ab, doch was ich eigentlich sagen wollte, ist, dass Werbung sich in aller Regel ziemlich negativ auf unser Konsumverhalten auswirkt. Bei den Kindern meiner Ex gab es immer wieder Streit um den neuesten angepriesenen Mist, der dann nach zwei Tagen unbeachtet in der Zimmerecke lag.
Da lobe ich mir doch all jene Länder, in denen es kein speziell für Kinder gemachtes Fernsehprogramm gibt, und wenn, dann wenigstens nur ein paar Sendungen, so dass die Kids danach wieder gezwungen sind, sich selbst zu beschäftigen und kreativ zu werden. Genau das haben F. und D. nämlich über ihr Syrien vor dem Krieg erzählt, doch S. A. und M. sind, was das angeht, schon sehr deutsch geworden und wissen genau, auf welchen Sendern rund um die Uhr die nervigsten Kinderserien laufen.
Na gut, „Tom und Jerry“ gucken sie gerne, da bleibe auch ich dann manchmal hängen und lache mit ihnen gemeinsam über genau das, was mich auch vor Jahrzehnten schon begeistert hat. Seltsam eigentlich, wie wenig man sich als Mensch doch weiterentwickelt. Tom und Jerry haben sich allerdings weiterentwickelt, zumindest haben sie auf dem jetzigen Fernseher grüne Gesichter und daher sehe ich natürlich ein, dass ein neues Gerät her muss.
Tags darauf gehen D., Rainer und ich in den nächsten größeren Elektronikfachmarkt und da wir konsequent an der Kasse stehenbleiben, fühlt sich schon zehn Minuten später ein Mitarbeiter beflissen, uns zu beraten. Ein Smart-TV soll es sein, damit D. damit im Internet auch Youtube und einige arabische bzw. türkische und kurdische Sender sehen kann. Das kann ich gut nachvollziehen. Der Verkäufer natürlich, denn schließlich sind das nun einmal nicht eben die günstigsten Geräte.
Schwieriger wird es dann als wir nach Ratenzahlungen fragen. Grundsätzlich natürlich gar kein Problem, da gibt es eine Hausbank, die für solche Fälle Kleinstkredite vergibt, sogar mit beliebiger Laufzeit. Ach, Moment mal, die Familie hat nur ein begrenztes Bleiberecht? Na, dann ist natürlich nichts machbar, das müssten wir verstehen. So viel also mal wieder zu dem Thema, dass Asylsuchende bei uns überall Vorteile haben.
Wir verlassen den Laden ziemlich frustriert. Rainer und ich versprechen, dass wir uns Gedanken machen, doch als wir wenig später wieder bei F. und F. aufschlagen, erzählt er uns stolz, dass er im Internet einen Fernseher bestellt hat, den er in kleinen Raten über die nächsten 24 Monate abbezahlen kann. Das Gerät sei sogar noch größer als die, die wir uns gemeinsam angesehen haben und weil das ja mit den Ratenzahlungen so gut klappt, hat er auch gleich noch einen neuen Wohnzimmerschrank bestellt. Prima Idee, wenn man gerade einen Job sucht, die Frau schwanger ist und auch sonst so manches in der Schwebe.
Fortsetzung folgt...
Irgendwann ist er dann wieder da und auch dran, muss also auf die Bühne und ich muss zugeben, dass seine Texte richtig gut sind. In denen spricht er sich in klaren Worten für eine Welt ohne Vorurteile und gegen Rassismus und jede Art der Diskriminierung aus, was mir wirklich gefällt. Dann schließlich holt er seine Freundin mit auf die Bühne, sie ist übrigens auch Musikerin, doch eigentlich treten beide nicht mehr gemeinsam auf. An diesem Abend dann doch und insbesondere für die jungen Organisatoren wird es ein ganz spezieller Abend, denn die beiden lassen so etwas wie eine exklusive Clubatmosphäre entstehen.
Mit diesen Eindrücken und ziemlich emotionalen Fotos fahre ich schließlich nach Hause und bin mir sicher, dass ich einen guten Artikel schreiben kann, der vor allem zeigt, dass die Jugendlichen alles richtig gemacht und hier einen unvergleichlichen Livemoment geschaffen haben. Mein unvergleichlicher Moment kommt dann allerdings nur wenig später, denn da ruft der Künstler mich unerwartet an und möchte mit mir noch einmal über meine Berichterstattung reden.
Meine Pressemitteilung ist natürlich längst verschickt und auch das Interview ist online, doch genau das möchte er jetzt nicht mehr. Wie beim Konzert bereits erwähnt, tritt er nicht mehr gemeinsam mit seiner Freundin auf, daher möchte er keine gemeinsamen Fotos veröffentlicht sehen. Na gut, sage ich, dann schicke ich eine Korrektur und bitte darum, die Bilder nicht zu veröffentlichen. Blöd gelaufen, weil gerade das der spannendste Moment war, aber bevor ich mich streite, lenke ich lieber ein.
Später ruft er mich dann noch einmal an, jetzt möchte er, dass auch das Interview nicht veröffentlicht wird und im Text solle ich seine Freundin auch nicht erwähnen. „Dann hättest du dich nicht mit ihr öffentlich auf eine Bühne stellen sollen“, werfe ich mal kurz ein, doch darum gehe es gar nicht. Worum denn dann? Nun ja, er zeige in seinen Texten nun einmal Haltung und das gefalle in unserer heutigen Zeit nicht jedem.
Noch verstehe ich nicht. Also holt er weiter aus. Durch seine Texte und Äußerungen gebe es im Moment im Netz viele rechte Trolle, die alles tun, um ihm zu schaden, daher wolle er denen keine Angriffsfläche bieten. Was das mit gemeinsamen Auftritten mit seiner Freundin zu tun hat, verstehe ich immer noch nicht und ehrlich gesagt ärgert mich inzwischen auch, dass ihm das erst jetzt einfällt.
Er ruft mich an diesem Abend dann noch ein weiteres Mal an, bittet mich, die entsprechenden Passagen zu löschen, ich könne nun mal nicht verstehen, was so abgeht, er kenne auch etliche andere, die sich gegen Rechts positionieren und wisse, womit die zu kämpfen haben. „Du, ich bin auch nicht erst seit gestern Journalist“, werfe ich ein, „und ich bin eigentlich überzeugt, dass es falsch ist, aus Angst den Schwanz einzuziehen und sich einschüchtern zu lassen.“ Nein, ich verstehe das nicht, beharrt er weiter. Nein, tue ich auch nicht.
„Meinst du nicht, wenn ich jetzt eine weitere Korrektur meines Pressetextes an die verschiedenen Redaktionen schicke, dass dann vielleicht der eine oder andere Journalist erst recht hellhörig wird und die Geschichte vielleicht noch größer macht als dir lieb ist?“ Auch das prallt völlig an ihm ab, so dass ich schließlich eigentlich nur noch genervt bin und meinen Text ein weiteres Mal umschreibe und all das, was diesen Abend für mich besonders gemacht hat, herausstreiche.
Natürlich hätte ich mich auf eine weitere Diskussion einlassen können und auf meine freie Berichterstattung pochen können und so weiter und so fort. Doch letztlich ist es schlicht nicht wichtig genug. Mir geht es ja vor allem darum, dass ich die Jugendlichen für ihr tolles Engagement lobe. Das kann ich auch, ohne einen sich offenbar für immens wichtig haltenden Musiker besonders herauszustellen.
Dennoch beschäftigt mich die Geschichte noch eine Weile. Zwar kann ich mir nach wie vor nicht zusammenreimen, warum der gemeinsame Auftritt rechten Trollen Futter geben soll, doch viel schlimmer finde ich eigentlich etwas anderes. Nämlich dass sowohl dieser Musiker wie auch ich uns am Ende offenbar von denen vorschreiben lassen, was in der Zeitung steht. Er, weil er irgendetwas befürchtet und ich, weil ich einfach keine Lust auf die Auseinandersetzung hatte. Das sind zwar noch keine Fake News, ein indirekter Eingriff in die Pressefreiheit ist es aber strenggenommen trotzdem. Und dass sowas ausgerechnet bei einem Konzert für Toleranz passiert, ist im Grunde ziemlich zynisch.
Das Handy klingelt und eine recht junge Stimme meldet sich. Es gehe um ein Konzert, ein Konzert gegen Rechts, ob ich nicht darüber schreiben könne. Im Laufe des Gespräches klärt sich, dass die Idee dazu tatsächlich von einigen Jugendlichen kommt, sie haben sich ein bisschen Hilfe gesucht, doch organisiert haben sie alles mehr oder weniger in Eigenregie. Allerdings haben sie ihr Event bis jetzt nur in den sozialen Netzwerken gepostet und niemand dachte an die herkömmliche Presse.
Nun liegen mir Jugendliche besonders am Herzen, besonders, wenn sie Engagement zeigen und dann auch noch für eine gute Sache. Natürlich gilt der alte journalistische Grundsatz, dass ich mich auch mit einer guten Sache nicht gemein machen darf, doch gerade diesen Punkt sehe ich inzwischen etwas anders. Neutralität und Sachlichkeit ist gut und wichtig, bei bestimmten Themen, so bin ich inzwischen überzeugt, darf ich aber auch als Journalist nicht leidenschaftslos bleiben. Und wenn junge Menschen sich für Toleranz, Mitmenschlichkeit und eine offene Gesellschaft engagieren wollen, dann kommt bei mir umgehend Leidenschaft auf.
„Okay, dann trommel mal möglichst viele von euch zusammen und lass uns einen Termin machen, damit ich euer Konzert ankündigen kann, am besten schon morgen oder übermorgen, denn sonst ist es zu spät.“ Zwei Stunden später meldet er sich wieder und hat es tatsächlich geschafft, für den kommenden Tag ein Treffen mit dem Kern des Teams anzusetzen. Das beeindruckt mich ein wenig, muss ich zugeben.
Noch mehr beeindruckt mich am nächsten Tag dann die Leidenschaft, die die Jugendlichen für ihr Konzert zeigen. Einige von ihnen hatten nach einer Ausstellung über Anne Frank den dringenden Wunsch, irgendetwas auf die Beine zu stellen, das ihre Altersgenossen davor warnt, dass Geschichte sich wiederholt. Dazu haben sie die üblichen Vereine und Institutionen mit ins Boot geholt und ein Konzert mit gleich vier Bands organisiert, das schon in der kommenden Woche stattfindet. Also höchste Zeit für eine Ankündigung in der klassischen Presse, denn das fordern auch die, die sie unterstützen.
Ein Versprechen, dass ich auch zum Konzert komme und darüber berichte, gebe ich ebenfalls. Zum einen, weil mir der Einsatz und die Aussage des Events gefällt, zum anderen, weil ich von den vier Bands immerhin zwei kenne und auch rein privat unbedingt hören möchte. Die dritte ist ebenfalls aus der Region, die kenne ich aber nicht und als Hauptact konnten die Kids einen relativ bekannten überregionalen Künstler gewinnen. Finde ich beachtlich. Ein Pressefoto des Hauptacts bekomme ich auf meine Anfrage hin allerdings leider nicht mehr, stattdessen nur die Antwort, ich solle mir eines aus dem Netz holen. Zum Glück gelingt es mir aber, meine Pressemitteilung relativ weit zu verbreiten, so dass ich hoffe, doch noch ausreichend anzukündigen, wenn eben auch mit Fotos der Organisatoren und der regionalen Bands.
Ein paar Tage später ist es dann soweit und am frühen Abend bin ich einer der ersten Gäste, werde begeistert empfangen und werde backstage sofort mit Kaffee versorgt. Ehrlich gesagt habe ich schon Events von erwachsenen und professionellen Veranstaltern erlebt, die sich längst nicht so bemüht haben.
Zuerst begrüße ich die Musiker der beiden Bands, die ich kenne und wir plaudern ein wenig, dann frage ich jenen Jungen, der mich zuerst angerufen hat, ob denn auch der Hauptact schon da ist. „Ja, ist er, aber der ist schon mit seiner Freundin wieder weg und kommt dann hoffentlich pünktlich zu seinem Auftritt.“ Also Begeisterung klingt anders. „Naja“, gibt er zu, „er war ja so ganz nett, lässt aber schon irgendwie raushängen, dass er sonst auf größeren Events unterwegs ist.“
Gerade, wenn die Organisatoren Jugendliche sind und vermutlich sogar Fans, schreckt mich sowas grundsätzlich erst einmal ab. Da ich ihn aber nicht kenne – er ist in der HipHop-Szene unterwegs und das ist nun mal so gar nicht meine – warte ich erst einmal ab. Tatsächlich ist mein erster persönlicher Eindruck dann ein positiver, denn der Künstler ist mir gegenüber sehr umgänglich und stimmt sogar einem Interview zu, das ich übrigens auch angefragt hatte.
Während wir im Backstagebereich etwas aufnehmen, was ich eigentlich auch meiner Pressemitteilung anhängen möchte, spielt vorne schon die erste Band und selbst hier hinten merkt man deutlich, wie gut die Stimmung ist. Der Hauptact und seine Freundin verschwinden nach dem Interview erst noch einmal, doch das stört mich wenig, denn ich wollte ja sowieso vor allem die anderen Bands hören. Die rocken auch alle echt gut ab, und auch, wenn leider nur wenig Besucher da sind, ist die Stimmung großartig.
Fortsetzung folgt...
Einsichtig zeigen sich die Vermieter nach dem Gutachten natürlich immer noch nicht, relativierende Begriffe wie „vermutlich“ oder „wahrscheinlich“ deuten sie als Beweis dafür, dass der Schimmel doch vom falschen Lüften kommt. Dennoch zeigen sie sich einem weiteren anwaltlichen Schreiben gegenüber kompromissbereit und da wir längst auch keine Lust mehr auf den Streit haben, vereinbaren wir schließlich einen Termin zur Schlüsselübergabe.
Pünktlich stehen D., Rainer und ich dann auch vorm Haus, die Vermieterin ist schon da, ebenfalls mit Verstärkung, von der ich vermute, dass es wohl ihr Sohn ist. Er wird uns bloß als Timo vorgestellt, sagt selbst aber die ganze Zeit über kaum mehr als drei Worte, so dass er für uns hinterher nur „der stumme Timo“ bleibt.
Dafür redet die Vermieterin umso mehr, erklärt uns wortreich, dass Anwälte ja sowieso lügen und dass unser Anwalt ihr gegenüber auch schon eingeräumt habe, dass in den meisten Fällen immer beide Parteien irgendwie Recht haben. Soll uns recht sein, wir wollen jetzt vor allem den Schlüssel los werden und damit dieses Kapitel im wahrsten Sinne des Wortes endlich abschließen.
Dennoch erfolgt ein ausgiebiger Rundgang durch die gesamte Wohnung, während der uns die Vermieterin bei Heizkörpern, Türen, Tapeten und anderen Details immer wortreich erklärt, wann diese eingebaut wurden, wie teuer sie waren, dass alle anderen Mieter damit immer voll zufrieden waren und sie pfleglich behandelten, nur durch D. und seine Familie sei nun alles verwohnt und müsse erneuert werden.
Da wir es uns ganz fest vorgenommen haben, kommentieren wir all das kaum, sind ähnlich stumm wie der stumme Timo, denn wir haben uns sagen lassen, wenn wir den Schlüssel erst einmal los sind, dann können keine weiteren Ansprüche geltend gemacht werden. Zudem sind es eben ihre unerschöpflichen Wortschwälle, mehr aber nicht, denn im Grunde sind es keine konkreten Schäden, die da festgestellt werden können.
Am Ende sind wir im Keller angekommen, wo wir noch einmal alle Zählerstände notieren, unserer Meinung auch die der anderen Wohnung im Haus, doch das ist uns egal, denn wir wollen nur noch hier raus. Dafür hat Rainer dann auch ein Schriftstück vorbereitet, mit dem sie uns die Schlüsselübergabe bestätigen soll. Natürlich geht auch das nicht so einfach und wir müssen ihre weiteren Ausführungen übers falsche Lüften und dass sie ihren Mietern ja oft genug erklärt habe, wie das richtig geht, über uns ergehen lassen. Irgendwann unterschreibt sie dann doch und wir sind heilfroh, die Tür endlich und endgültig hinter uns zuziehen zu können.
Alles andere ist nun Sache zwischen den Vermietern und der Stadt bzw. zwischen den Anwälten, wir haben schließlich auch genug Zeit investiert und D. versteht eigentlich immer noch nicht so ganz, wo genau das Problem liegt. In seiner Heimat werde zwar auch viel gestritten, so sagt er, doch dass auch Streit in Deutschland irgendwann in einem Papierkrieg mit den Behörden mündet, das kannte er vorher nicht.
Zunächst einmal ist nun Ruhe, doch nach einigen Wochen, F., D. und die Kinder haben sich schon längst in der neuen Wohnung eingelebt und schwärmen von den neuen Vermietern, die zum Glück nicht so viel reden wie die alten, erreicht uns wiederum ein Brief vom Anwalt. Jetzt haben die Vermieter noch einmal eine Mängelliste geschickt, voller Schäden, die D.s Familie ihnen noch bezahlen soll. Alles einzeln aufgeschlüsselt, nichts davon wurde bei der letzten Begehung oder davor mal angesprochen, einige Schäden sogar auf die Zeit nach der Schlüsselübergabe datiert.
Wenn wir uns auch zusammenreißen müssen und es in uns brodelt, so beherrschen wir uns doch und bleiben unserem Gebot der stoischen Ruhe treu. Laut Kompromiss ist ja alles schon einmal geregelt gewesen und wir konnten uns auch zähneknirschend damit anfreunden, wenn also jetzt noch Forderungen kommen, ist es an den Vermietern, diese auch durchzudrücken. Nicht unser Problem also und D. raten wir, dass er auf Briefe aufgrund der Sprachbarriere leider nicht antworten kann. Der Anwalt sieht es ebenso und verliert auch kein Wort darüber, dass in jedem Rechtsstreit eventuell beide Parteien irgendwie Recht haben.
Damit ist grundsätzlich Ruhe, doch irgendwie lässt mich das Thema dennoch nicht kalt. Ganz offiziell beginn ich zu recherchieren, stoße auf zahlreiche Flüchtlingsfamilien, die ähnlich schlechte Erfahrungen machten und sich über den Tisch gezogen fühlten. Am ende spreche ich sogar mit einem Vermieter, der mir gegenüber den schönen Satz sagt: „An jemand anderen als an Flüchtlinge würde ich einige Buden ja auch nicht loswerden.“
Genau das wird dann zur Überschrift in einem Presseartikel, der mir noch einmal viele Reaktionen einbringt, weil unsere Erfahrung wohl tatsächlich alles andere als ein Einzelfall ist. Sogar einige andere Zeitungen melden sich bei mir, weil sie die Geschichte ebenfalls aufgreifen wollen. Ob es grundsätzlich etwas ändert, weiß ich nicht, doch nach allem, was ich in den letzten paar Jahren erlebt habe, kann ich solche Dinge nun mal nicht mehr schweigend hinnehmen.
Die neue Wohnung ist längst eingerichtet, der Streit über die alte aber immer noch nicht beigelegt. Die alten Vermieter beharren darauf, dass der Schimmel auf falsches Lüften und nasse zum Trocknen aufgehängte Wäsche in der Wohnung zurückzuführen ist. Daher bestehen sie auf den noch ausstehenden Monatsmieten und wollen vor allem die Kaution nicht rausrücken.
Inzwischen haben wir einen Anwalt eingeschaltet, der mehrfach Briefe geschickt und Kompromissvorschläge gemacht hat, doch gebracht hat das bis jetzt nichts. Rainer hat sich mehrfach am Telefon mit den Vermietern auseinandergesetzt, denn immerhin müssen F. und D. gerade jetzt jeden Cent umdrehen. Zwar hatten sie in der Wohnung Möbel, nämlich zum großen Teil immer noch jene, die ihnen damals als Erstausstattung gestellt worden waren, doch die haben entweder den Umzug oder aber unserer Begutachtung nicht standgehalten. Vieles ist beim leichten Anfassen schon auseinander gefallen, anderes wurde von Rainer und mir dann rigoros als Sperrmüll erklärt.
Zwischendurch haben wir D. und F. noch erklärt, dass auch in Deutschland Fliesentische und Schrankwände in Eiche rustikal nicht mehr modern sind und es durchaus auch geschmackvoll eingerichtete Wohnungen gibt. Gut, verglichen mit dem Pomp, den uns beide aus früheren syrischen Wohnungen und insbesondere aus arabischen Fernsehsendungen zeigen, ist wohl jede deutsche Wohnung ausgesprochen schlicht.
Auch das, was die beiden uns im Internet an Möbeln, die sie gerne hätten, gezeigt haben, traf nicht unbedingt unseren Geschmack und hätte so geballt aus jedem deutschen Wohnzimmer vermutlich einen Palast gemacht. Zum Glück haben sie sich jetzt doch etwas heruntergeschraubt und einen Mittelweg zwischen arabischem Schick und deutschem Flüchtlings-Geldbeutel gefunden. Da ist selbst ja durchaus für Deko und Verspieltes zu haben bin, gefällt mir das Ergebnis inzwischen richtig gut.
Weniger gefällt mir allerdings dieser nun seit gefühlten Ewigkeiten andauernde Streit mit den Vermietern. Ginge es nur um mich hätte ich vermutlich längst aufgegeben und zähneknirschend auf das Geld verzichtet, hier geht es mittlerweile aber ums Prinzip und wenn es ums Prinzip geht, dann können selbst wir Deutschen erbittert kämpfen.
Zu unserem Glück sind wir ja nicht ganz allein, schließlich bekommt D. sein Geld um Moment noch vom Staat, so dass auch der Landkreis durchaus etwas mit dieser Angelegenheit zu tun hat, genaugenommen die Kaution für die Wohnung ja gezahlt und dementsprechend auch Anspruch darauf hat. Daher bewilligen sie uns auf Nachfrage des Anwalts schließlich einen Gutachter.
Zum vereinbarten Termin bin ich da, noch haben wir die Schlüsselübergabe ja hinausgezögert, und auch D. ist mit dabei. Die Vermieter zum Glück nicht. Daher begrüßen wir die nette Dame vom Landkreis einigermaßen hoffnungsvoll, auch wenn sie mir ziemlich direkt offenbart, dass sie ja bloß Gutachterin, aber keine Expertin für Schimmel sei. Na, was soll's, immerhin stehen wir nicht mehr ganz allein da.
D. und ich führen sie durch die nun leere Wohnung, in der die diversen Schimmelflecken an den Wänden natürlich noch mehr auffallen. „Und das ist wirklich in jedem Zimmer?“, fragt die Gutachterin. „Ja, überall, obwohl wir nicht überall unsere Wäsche getrocknet haben“, antwortet D. geistesgegenwärtig. „Besonders ist es an allen Dachschrägen“, ergänze ich und deute auf die entsprechenden dunklen Stellen.
Tatsächlich nimmt sich die Dame viel Zeit, guckt sich alles sehr genau an und bittet dann auch darum, einmal auf den Dachboden blicken zu dürfen. Dort oben war ich auch noch nie. Umso mehr fällt mir gleich auf, dass der Holzboden hier voller Wasserflecken ist, alles sieht nicht sonderlich einladend aus und auch, wenn ich weder Experte noch Gutachter bin, erscheint mir all das hier nicht nach neuesten Standards gedämmt. Diesen Eindruck bestätigt auch die Frau vom Amt, macht sich Notizen und erklärt dann abermals: „Also ich bin ja keine Sachverständige... aber was ich hier sehe, spricht für mich nicht für falsches Lüften.“
Das ist doch genau der Satz, den wir hören wollten. Das Ergebnis jedoch bekommen wir dann schriftlich, klärt sie uns noch auf, das könne ein paar Tage dauern. Mir egal, ich bin erst einmal froh, dass sie uns bestätigt und uns Hoffnung macht. Denn bei mir ist es nun einmal so, je länger so ein Streit dauert, desto häufiger hinterfrage ich mich, ob die andere Partei nicht vielleicht doch im Recht sein könnte. Jurist dürfte ich mit diesem Charakterzug nicht werden, doch ich bin ja auch nicht D.s Anwalt, sondern lediglich ein Freund, der all das ehrenamtlich auf sich nimmt. Allerdings hinterfrage ich mich da inzwischen auch manchmal, ob ich es gemacht hätte, wenn ich vorher gewusst hätte, was da alles auf mich zukommt.
Fortsetzung folgt...
Wenn es nicht so ernst und erschreckend wäre, dann würde ich das alles wohl ziemlich lächerlich finden. Doch in der großen Politik erfahren wir leider immer wieder, wie ernst das alles werden kann, wenn selbst Politiker etablierter Parteien populistische Reden schwingen, weil sie meinen, sie könnten die ideologischen Kleingärtner unter ihren Wählern damit wieder einfangen. Und auch im Kleinen beobachte ich leider immer wieder, dass all das die öffentliche Diskussion bestimmt.
Selbst bei uns in der ach so heilen Provinz gab es in den vergangenen Jahren vermehrt Kundgebungen und Demonstrationen, bei denen menschenverachtende Parolen in die Welt hinausgebrüllt wurden. Zum Glück aber auch immer wieder Gegendemontrationen, die deutlich gemacht haben, dass die Rechten eben noch lange nicht die Mehrheit sind. Bei etlichen dieser Veranstaltungen war ich dabei, teils um darüber zu berichten, teils um es mir einfach anzusehen.
Besonders in Erinnerung ist mir der Aufmarsch eines sogenannten Freundeskreises, gegen den später auch die Staatsanwaltschaft ermittelte. Die „Freunde“ trafen sich regelmäßig in verschiedenen Städten in der Region zu Kundgebungen, fast immer gab es eine deutlich größere Zahl von Gegendemonstranten und nicht selten war in der Presse hinterher von eskalierender Gewalt insbesondere seitens der Anhänger der Antifa zu lesen.
Als nun eine Veranstaltung in der Nachbarstadt angekündigt war, wollte ich mir das ganze als Pressevertreter einmal ansehen und mir ein eigenes Bild machen. Schon als ich ankam, mein Auto in einer Seitenstraße parkte und dann einfach dem Lärm nachging, war mir klar, dass die Stimmung an diesem Tag ziemlich aufgeheizt war. In den sozialen Netzwerken kursierte alles Mögliche, so wie in den sozialen Netzwerken ja immer alles Mögliche kursiert. Darauf gebe ich nicht viel.
Ziemlich am Rande des ganzen Trubels fing mich eine flüchtige Bekannte ab und raunte mir zu, ich solle ein wenig vorsichtig sein, wenn ich Fotos mache, die Stimmung sei aufgeheizt und etliche Schwarzgekleidete suchten nur nach einem Vorwand, um losschlagen zu können. Na gut, sagte ich mir, als Pussy hätte ich den Job als Journalist nicht wählen dürfen. Nein, das sagte ich mir natürlich nicht, aber es hätte doch in dieser Erzählung gut geklungen, wenn ich es mir gesagt hätte, oder nicht?
Stattdessen näherte ich mich dem Geschehen vorsichtig, machte zunächst Bilder aus der Entfernung, denn mit erkennbaren Gesichtern ist das ja so eine Sache. Was ich sah, waren zum Teil tatsächlich Vertreter, die ich der Antifa zuordnete, die mit lauter Musik und durchs Megafon gerufenen Parolen die rechten „Freunde“ zu übertönen versuchten und bunte Plakate vom Schlage „Refugees welcome“ schwenkten. Einschüchternd oder gar bedrohlich wirkte das auf mich jetzt nicht gerade. Vor allem nicht, weil sich in den Reihen dahinter viele auch mir bekannte Vertreter der Stadt, umliegender Städte, des Landkreises und einfach ziemlich viele „normale“ Bürger versammelt hatten.
Nur von den eigentlichen Veranstaltern bekam ich noch relativ wenig zu sehen. Also musste ich wohl doch näher ran und mir meinen Weg durch die Menge der Gegendemonstranten bahnen. Immerhin wollte ich wirklich Bilder von dort, wo sich beide Gruppen, getrennt von Einsatzkräften der Polizei, gegenüberstanden. Bewaffnet mit meiner Kamera bahnte ich mir meinen Weg nach vorne und zu meiner Überraschung wurde ich ziemlich schnell von allen durchgelassen. „Bist du von der Presse?“, fragte mich jemand. Als ich bejahte, machten alle noch viel schneller Platz und irgendwann hörte ich sogar jemanden rufen: „Komm hierher, hier hast du richtig gute Sicht...“
So gelangte ich ziemlich zügig bis an die Absperrung und konnte meine Bilder von den Polizisten und auch dem recht überschaubaren ätzende Parolen abfeuernden Grüppchen der Rechten machen. Von eskalierender Gewalt war hier, wo ich mich befand, jedenfalls nichts zu spüren. Dennoch hatte die gesamte Situation natürlich etwas Beklemmende, hier meinte ich zu spüren, wie tief eigentlich der Graben war, der sich mittlerweile durch unsere Gesellschaft zog.
Nun kam aber doch der Journalist in mir durch und auch, wenn mir privat klar war, auf welcher Seite ich hier stand, musste ich aus beruflicher Sicht auch die andere Seite dokumentieren. Folglich machte ich mich auf den Weg zum Einsatzleiter der Polizei und fragte einmal an, ob es okay sei, wenn ich mich hinter die Absperrung und zu den „Freunden“ wagte, um auch dort Bilder zu machen und vielleicht sogar einige Stimmen einzufangen. „Kannst du ja versuchen, Herr Dolle“, kam die Antwort, „aber halt dich ein bisschen zurück, denn es kann sein, dass einige von denen das nicht so gerne mögen und wir haben im Moment genug zu tun, so dass wir uns nicht auch noch um dich kümmern wollen.“
Also stellte ich mich mal naiv, ging offen auf das Grüppchen zu und zückte meine Kamera. Sofort steuerte ein Ordner der „Freunde“ auf mich zu und fragte, was ich denn hier wolle. Ich sei Journalist und wenn in der Stadt was los ist, dann sei es meine Aufgabe, darüber zu berichten, antwortete ich wahrheitsgemäß. Während ich dann also Fotos machte, baute er sich immer breiter vor mir auf, sagte nichts, wollte mir offenbar nonverbal einiges deutlich machen.
Tatsächlich machte ich noch einige Bilder von den besorgten „Freunden“ und ihren meiner Bannern mit meiner Meinung nach menschenverachtenden Parolen, entschied mich dann aber dafür, den Rückzug anzutreten und den netten Mann, der sich immer neu vor mir in Pose setzte, nicht weiter zu provozieren. Natürlich hätte ich auf eine Weise Lust gehabt, das Spiel noch ein wenig weiter mitzuspielen und vielleicht auch ihn noch einmal direkt – wie es seit dem „Hutbürger-Vorfall“ so schön heißt „ins Gesicht“ - zu fotografieren, doch wem hätte das am Ende genutzt?
Also machte ich mich auf den Rückweg, ich hatte gesehen, was es zu sehen gab. Keine eskalierende Gewalt, aber durchaus aufgeheizte Stimmung. Eigentlich bedarf dieses Erlebnis keines weiteren Kommentars und ebenso dachte ich, dass sich auch meine Leser selbst ein Bild machen konnten. Gut, wir sind hier in der Provinz und meine Erfahrungen mit Demonstrationen sind sicher nicht repräsentativ, doch dass all diese „Kleingärtner-Freunde“ nur besorgte Bürger sind und die Linken ebenso schlimm, wie uns manchmal in den Medien eingeredet wird, den Eindruck kann ich nun mal nicht bestätigen.
Wenn Deutschland auf viele, die zu uns kommen, auf den ersten Blick wie ein Paradies wirken mag, dann sehe ich im Moment leider viele Schlangen, die die paradiesischen Zustände stören. Tatsächlich glaube ich auch, dass ich sehr viel Glück hatte mit dem Land, in dem ich geboren wurde. Es gehört zu den reichsten dieser Erde, es ist in vielerlei Hinsicht sehr fortschrittlich und vor allem wurden hier für die Menschen sehr viele Werte fest verankert, die auch mir sehr viel bedeuten.
Humanistische und christliche Werte sorgen für eine relative Gleichstellung aller, die Meinungsfreiheit ist eines unserer höchsten Güter und unser Staat greift vergleichsweise wenig in die persönliche Freiheit des Einzelnen ein. Das sind Werte, um die uns viele Menschen auf diesem Planeten beneiden. Ist es nicht also ein Hohn, dass sich hier immer mehr Kräfte breit machen, die genau diese Werte infrage stellen?
Da tauchen seit einigen Jahren Leute auf, die laut grölend auf die Straßen gehen und sich als Retter dieses freiheitlich christlichen Abendlandes aufspielen. Diese Leute beleidigen und bedrohen Flüchtlinge, die Regierung und unsere freie Presse und beklagen, dass sie dieses oder jenes angeblich nicht mehr sagen dürfen. Im Grunde ist das so absurd, dass es schon komisch wäre, wenn es mir denn nicht so viel Angst machen würde.
Diese Menschen sehen sich als Verteidiger unserer Kultur und meinen damit aber nicht die Nächstenliebe, Toleranz und persönliche Freiheit, die wir uns seit Jahrhunderten aufgebaut haben, sondern bloß eine Abgrenzung gegen alles, was ihnen fremd ist. Sie haben Angst, dass ihnen jemand ihr Stückchen vom Paradies streitig machen könnte, weil sie nicht begreifen können, dass genug für alle da ist.
Ist vielleicht das sogar ein Grund, warum wir heute nicht mehr im Paradies leben? Weil wir damit angefangen haben, im Gartenzäune im Garten Eden zu ziehen und einen Teil der saftigen, süßen Früchte für uns beanspruchen wollten. Weil wir nicht kapiert haben, dass genug für alle da ist und nicht damit leben können, dass der andere vielleicht eine Frucht futtert, bei der auch uns gerade das Wasser im Munde zusammengelaufen ist. Weil es nun einmal allzu menschlich ist, dass es in einem Garten eine Gartennutzungsordnung geben muss, an die sich gefälligst jeder zu halten hat. Oder ist das einfach nur typisch deutsch?
Tatsächlich glaube ich manchmal, dass dieses Kleingärtnerdenken, dieses Hausmeister-Gen bei uns Deutschen besonders ausgeprägt ist. Zwar haben wir uns über Generationen und dank vieler Dichter und Denker eine freiheitliche und offene Gesellschaft erkämpft, doch eigentlich sind wir noch gar nicht reif dafür. Wir sehnen uns nach einer Haus- und Gartenordnung, weil wir den Gedanken nicht ertragen können, dass wir den Müll einmal häufiger an die Straße schleppen als unser Nachbar. Und wenn dann auch noch Menschen hierher kommen, die ihren Müll vielleicht nicht einmal trennen, dann ist der Ärger natürlich vorprogrammiert.
Ein wenig erinnert mich all das immer an meinen Bruder und mich. Früher als wir noch Kinder waren. Als wir am Samstagabend länger aufbleiben und „Wetten Dass...“ im Fernsehen gucken durften. Dann fläzten wir uns nämlich nach dem Baden immer auf das große Sofa und kaum fing die Sendung an, begann der Kampf. „Das ist meine Seite. Da darfst du nicht drauf!“ Wenig später wurde dann aus den Sofakissen eine Grenzmauer errichtet, die natürlich von der anderen Seite immer wieder ein Stück versetzt wurde. Irgendwann kam es dann zum Kampf und zum Bombardement mit den übrigen Sofakissen und irgendwann wurde es unseren Eltern zu bunt und sie schickten uns beide ins Bett. So hatte am Ende dann keiner von uns etwas davon.
Neulich habe ich mir vorgestellt, wie es wäre, wenn man all diesen besorgten Bürgern eine Parzelle in einer Kleingartenkolonie besorgen würde. Natürlich ein einer Kolonie, in der es nur Gleichgesinnte gibt, die jeden Samstag akkurat ihren Rasen mähen, ihre Gartenzwerge in Reih und Glied aufstellen und wo kein Apfelbaum seine Zweige über die Grenze zur Nachbarparzelle streckt. Dort dürften sie dann alles sagen, was sie ja laut grölend auf unseren öffentlichen Straßen und in den sozialen Netzwerken angeblich nicht sagen dürfen und niemand würde sie mit einer Kultur belästigen, die nicht ihre ist. Würden sie sich dann weniger absurde Sorgen machen?
Leider gibt es diese Kleingartenkolonien nicht und daher organisieren sich diese Leute nach wie vor anders und ziehen dabei immer wieder auch uns mit hinein. Durch meinen Job bekomme ich hin und wieder davon mit und bin manchmal sogar näher dran als mir lieb ist. Immer mal wieder gibt es Kundgebungen oder sogenannte Mahnwachen, über die ich berichten muss und während derer ich mir auch die Parolen anhören muss, die leider so gar nicht nach der Kultur des Vaterlandes der großen Dichter und Denker klingen.
Fortsetzung folgt...
Irgendwann geht es dann mit vollbeladenem Einkaufstrolley zur Kasse. Nicht nur die Kinder sind inzwischen relativ platt, auch ich habe absolut keine Lust mehr, mir auch nur noch ein T-Shirt mit Comicfigur oder Bling Bling anzusehen. F. jedoch ist glücklich und freut sich riesig über die fünf großen Papiertüten, die ihr am Ende in die Hand gedrückt werden.
Während wir uns mit Kindern und Tüten zwischen anderen Kunden hindurch zum Ausgang schlängeln, überlege ich, ob es vielleicht gerade dieses Gefühl ist, um das uns manch andere Kultur beneidet und damit eben auch der Grund, warum so viele zu uns kommen wollen, wenn die eigene Heimat keine Zukunft mehr bietet. Dass diese ganze glänzende Konsumwelt im Grunde nur Schein ist und noch dazu längst nicht für jeden in vollen Zügen erlebbar, das muss man ja erst mit der Zeit schmerzhaft lernen. Nach außen hin erwecken wir ja tatsächlich den Eindruck, dass all unser Seelenheil irgendwo in diesen fünf Einkaufstüten steckt.
Wenn ich dann noch überlege, mit welchem Pathos die Werbung Produkte an den Mann und die Frau bringt, dann nimmt das alles tatsächlich geradezu religiöse Züge an. Für den Moment sind F. und die Kinder aber wirklich rundum glücklich, vor allem als die drei endlich das versprochene Eis bekommen. Na gut, Eis macht nun ohne Zweifel glücklich, das muss ich eingestehen.
Auf dem jetzt etwas gemächlicheren Weg zurück nehmen D. und F. sich die Zeit, auch ein wenig auf die Stadt zu achten, in der sie sind. D. bewundert die großen und schönen Häuser – ja, ein paar davon gibt es in Braunschweigs Altstadt ja doch – und F. vor allem die vielen Geschäfte und unterschiedlichsten Menschen, die hier unterwegs sind. Sie möchte unbedingt nach Braunschweig ziehen, stellt sie schließlich fest. Weil alles hier größer ist als in Osterode, weil alles schöner ist und eben auch viel mehr los.
Mein Einwand, dass die Kleinstadt aber auch Vorteile hat, wenn es darum geht, sich in Deutschland einzugewöhnen, trifft jetzt gerade auf ziemlich taube Ohren. Dabei bin ich inzwischen überzeugt, dass vieles im fast noch familiären Umfeld einer Kleinstadt wirklich leichter ist, während die Anonymität einer Großstadt der Integration durchaus im Wege stehen könnte.
Bevor wir das Thema aber weiter vertiefen können, kommen wir an den Schlossarkaden an, jenem großen Shoppingcenter, in dem der Begriff Reizüberflutung in Bezug auf die Kinder fast schon verniedlichend wirkt. F. geht es ebenso. Auch sie blickt fast schon hektisch umher und weiß gar nicht mehr, wo sie zuerst nach weiteren Verlockungen suchen soll. Dann jedoch ist es mit einem Mal vorbei.
Ich höre sie mit D. leise reden und auch ohne die Sprache zu verstehen, höre ich raus, dass ihr jetzt plötzlich alles zu viel ist, sie nur noch an die frische Luft und sich setzen will. Auch das kann ich gut nachvollziehen. Gegen den Protest der Kinder packen wir die drei und bahnen uns den schnellsten Weg durch den Hinterausgang nach draußen.
Immerhin ist F. hochschwanger und schon seit Stunden auf den Beinen, vermutlich, ohne zwischendurch genug getrunken zu haben. So überfüllt es im Einkaufszentrum ist, und so hektisch auch auf dem großen Vorplatz, so ruhig ist es hier hinten. Es gibt einen kleinen Spielplatz mit einer Bank, eine kleine Oase der Ruhe, die wir jetzt dringend brauchen. D. kümmert sich besorgt um seine Frau, die eigentlich nur etwas trinken will.
Zu zweit stürmen wir wieder rein, steuern direkt auf den nächsten Drogeriemarkt zu und kaufen für jeden von uns eine große Flasche Wasser. Danach sofort wieder nach draußen, wo auch die Kinder jetzt etwas zur Ruhe gekommen sind und feststellen, dass sie all die Eindrücke erst einmal mit Wasser herunterspülen müssen. Ja, es war eigentlich nur ein Shoppingtrip in eine größere Stadt. Und doch ist es eben für F., D. und die Kinder eine ganz andere Welt mit so vielen neuen Eindrücken, bei denen wir nicht davon ausgehen können, dass sie sich alle mal so nebenbei verarbeiten lassen.
Auf der Rückfahrt sind wir dann alle recht schweigsam, hängen unseren Gedanken nach. Und nachdem wir die Kinder zuhause abgesetzt haben, fahren wir noch zur Frauenärztin, um uns bestätigen zu lassen, dass bei F. alles in Ordnung ist und nur der Flüssigkeitsmangel sie schwächeln ließ. Für sie und ihre Familie ist es eben nicht nur eine andere Welt, sondern auch ein völlig neuer Lebensabschnitt, der fast nichts mehr mit ihrem früheren Leben gemeinsam hat. Ich glaube, ich kann mir gar nicht ausmalen, wie aufregend das manchmal sein kann.