Bei X aka Twitter ging dieser Tage ein Video viral, das die Unionspolitikerin Andrea Behr bei einer Wahlkampfveranstaltung zeigt. Es gab einen Zwischenruf aus dem Publikum. Ob Kinder denn hungern sollten, wenn die CDU/CSU gegen eine Erhöhung des Bürgergeldes ist. Daraufhin sagte Behr: „Die können doch zur Tafel gehen, die sind doch tafelberechtigt.“
Dieser Satz löste Empörung aus. Bei all jenen, die für die Erhöhung sind, bei jenen, die sich mit Kinderarmut auseinandersetzen, und etlichen Menschen mehr, die eine solche Aussage als höchst
unsozial und auch als alles andere als christlich empfinden. Auch bei mir, denn ich engagiere mich auch ehrenamtlich für die Tafel, und zwar, um Menschen in Armut zu helfen, aber bestimmt nicht,
um verpfuschte Sozialpolitik auszugleichen.
Die Tafel selbst hat sich natürlich ebenfalls geäußert. „Unverschämtheit. Ehrenamtliche Angebote, für vorübergehende Notsituationen gedacht, ersetzen nicht den Staat. Dass sich die Not bei so
vielen Menschen verfestigt hat, ist auch Folge der Politik von CDU/CSU. Statt etwas zu ändern, wird widerlich abfällig über Betroffene gesprochen“, hieß es von der Tafel Deutschland e.V. und
weiter: „Wir sind eine private, spendenbasierte, ehrenamtliche Initiative. Es gibt KEINEN Anspruch auf Unterstützung. Wenn eine Tafel z.B. zu wenig Lebensmittel hat, kann sie keine Menschen neu
unterstützen, auch wenn sie die Aufnahmekriterien erfüllen würden.“
Bei der Osteroder Tafel gibt es diese Situation häufiger. Immer wieder sind Lebensmittel knapp, Familien stehen auf der Warteliste, nicht allen kann geholfen werden. Die Lebensmittel, die in den Ausgabestellen an jene Menschen ausgegeben werden, die diese Hilfe bitter nötig haben, kommen von Geschäften aus der Region, es sind Lebensmittel, die sonst weggeworfen werden würden. Kommt von dort nichts, bleibt auch nichts für die Tafel.
Genau das sehen wir als unsere Aufgabe, zum einen die Hilfe für die Menschen, die sonst kaum über die Runden kommen, zum anderen die Rettung von Lebensmitteln aus Überproduktionen. Beides ist
meiner Ansicht nach eine Folge politischen Versagens. Auf der einen Seite mangelnde Umverteilung und damit Ungerechtigkeit, auf der anderen ein Konsumverhalten, das aus den Fugen geraten und
wenig nachhaltig ist.
Wenn nun jemand die Tafel als selbstverständlichen Teil eines sozialen Netzes erachtet – und anders kann ich solche Aussagen nicht verstehen – dann ist es zum einen eine politische
Bankrotterklärung und zum anderen ein Schlag ins Gesicht für alle, die dort ehrenamtliche Arbeit leisten. Wenn Frau Behr oder wer auch immer also meint, die Tafel könne in die Sozialpolitik ihrer
Partei fest eingeplant werden, dann soll sie bitte auch dafür sorgen, dass die Versorgungslücken, die wir haben, umgehend und vollständig geschlossen werden.
Gerade aus den Reihen einer angeblich christlichen Partei ist eine solche Sichtweise eine Schande und ja, wie die Tafel Deutschland sagt, eine absolute Unverschämtheit. Jede Empörung ist mehr als
angebracht und ehrlich gesagt auch darüber, dass von der Parteispitze – natürlich – keine Stellungnahme dazu kam.
Daher habe ich mich dann an die CDU hier gewandt. Die unterstützt die Tafel immer wieder, beteiligt sich auch mit Spenden. Ja, neben Lebensmitteln benötigen wir auch Geld, denn Fahrzeuge, Kühlhaus, Mitarbeiter (nicht alles geht ehrenamtlich, wenn wöchentlich Märkte und mehrere Ausgabestellen in der gesamten Region angefahren werden müssen) verursachen nun mal Kosten.
Jedenfalls wandte ich mich an die hiesige CDU-Kreistagsfraktion und bekam auch umgehend eine Antwort. „Die von Ihnen angesprochene Aussage, Betroffene „können doch zur Tafel gehen“, ruft auch
beim CDU-Kreisverband Göttingen und der CDU-Kreistagsfraktion Göttingen Unverständnis hervor“, hieß es in der Mail. Man wisse, dass die Tafeln spendenfinanziert und ehrenamtlich arbeiten und
selbstverständlich keine staatlichen Leistungen ersetzen. Na immerhin.
Weiterhin gab es sogar noch einen Hinweis auf einen Antrag im Kreistag, der besagt, dass der Landkreis einen Unterstützungsfonds für die Tafeln bereitstellen wird. Insofern war es vielleicht
sogar gut, so offensiv nachzuhaken und die Tafel damit einmal mehr ins Bewusstsein der Politik zu bringen. Das ist ohnehin oft eine gute Sache und ja letztlich auch eine Kernaufgabe von
Journalismus. Zumindest bin ich der Meinung, dass wir Journalisten uns auch immer für Schwächere und für mehr Gerechtigkeit stark machen sollten.
„I have a dream“, rief Martin Luther King vor 60 Jahren der Menge in Washington zu. Den Traum, dass eines Tages Söhne früherer Sklaven und Söhne früherer Sklavenhalter gemeinsam am Tisch der Brüderschaft sitzen werden. Den Traum, dass alle Kinder Gottes, Schwarze und Weiße, Juden und Heiden, Protestanten und Katholiken, sich die Hände reichen. Seine Rede bewegte damals die Menschen, gilt heute als ein Wendepunkt der Geschichte.
Vorausgegangen war eine strikte Trennung zwischen Schwarzen und Weißen in den USA, unter anderem auch in öffentlichen Bussen. Rosa Parks, eine farbige Bürgerrechtlerin, hatte sich einige Jahre
zuvor geweigert, im Bus von einem Platz „nur für Weiße“ aufzustehen. Dieser Akt des Protests führte zu weiterem Aufbegehren gegen die Rassentrennung und schließlich zu jener Bewegung, die Martin
Luther King entscheidend mitprägte. Nach Gesprächen mit Präsident Kennedy fuhren am 28. August 1963 schwarze wie weiße Bürger*innen in die Hauptstadt, um ihren Forderungen nach Gleichbehandlung
Nachdruck zu verleihen. Bob Dylan, Joan Baez, Mahalia Jackson und andere traten auf und eben auch Martin Luther King, der dort seine Rede hielt.
Kürzlich war ich in einem Gottesdienst, der an dieses Aufbegehren gegen Rassismus und an Pastor Martin Luther King erinnern sollte. In St. Sixti in Northeim trat ein Chor auf, der Gospels aus dem
King-Musical sang, die Predigt war von Superintendent Jan von Lingen und Mitgliedern der Gemeinde in verschiedenen Sprechrollen gestaltet. Eigentlich ja ein gewichtiges Thema, dank der Musik aber
locker präsentiert, viele in der vollbesetzten Kirche klatschten mit.
Jan von Lingen rollte die historischen Entwicklungen von damals bis hin zum Friedensnobelpreis für King und schließlich zu seiner Ermordung noch einmal anschaulich auf, schlug dann einen nicht minder ernsten Bogen zur Gegenwart. „Martin Luther King hat uns eine Aufgabe überlassen“, sagte er. Als Christen dürften wir bei Problemen wie Rassismus nicht wegsehen, müssten uns einmischen.
Er wurde nicht konkreter, doch zwischen den Zeilen war sehr deutlich, dass er sich auf politische Entwicklungen jetzt gerade hier bei uns bezog. Eine Aufgabe also, die Pflicht, mich gegen
Diskriminierung und Ausgrenzung zu stellen, wenn ich mich denn als Christ sehe. Ehrlich gesagt sprach er mir damit aus dem Herzen und seine Worte haben mich noch lange bewegt.
Alle Kinder Gottes sollen sich die Hände reichen. So einfach ist es im Grunde. Da ist kein Platz für Rassismus, nicht mal Platz für Nationalismus. Auch nicht für hetzerischen Populismus, wie er
bei uns gerade massiv um sich greift. Aber offenbar ist es nur ein Katzensprung, all die guten und richtigen Entwicklungen der vergangenen sechzig Jahre wieder rückgängig zu machen.
Dabei muss ich zum Beispiel an Nordhausen denken. Dort fand gestern die Wahl des Oberbürgermeisters statt, bei der der Kandidat der AfD mit 42,1 Prozent der Stimmen das beste Ergebnis vorm parteilosen Amtsinhaber mit gerade mal 23,7 Prozent einholte. In einer Stadt mit 40 000 Einwohnern stimmt also knapp die Hälfte der Wähler für den Kandidaten einer rechten Partei, die sich mehr und mehr radikalisiert. Das finde ich durchaus besorgniserregend, auch wenn noch eine Stichwahl folgt.
Wenn wir in dieser Woche mit unserem Mordsharz-Festival in Nordhausen zu Gast sind, werde ich das wohl kaum aus dem Kopf bekommen. Vor einigen Jahren hat sich Zoë Beck beim Festival – es war kurz
vor einer Bundestagswahl – deutlich politisch geäußert, indem sie dazu aufrief, doch bitte demokratische Parteien zu wählen. Daraufhin beschwerte sich ein Paar die Veranstaltung, weil sie es
gewagt hatte, eine Wahlempfehlung auszusprechen.
Zoë ist diesmal leider nicht dabei. Dafür aber wird unter anderem Thomas Raab in Nordhausen lesen. Aus „Peter kommt später“, einem humorvollen Krimi, in dem eine alte Dame - „die alte Huber“ – in
der österreichischen Provinz ermittelt. Trotz des Humors hat das Buch auch seine ernsten Momente und besonders eine Szene, von der ich mir wünschte, der Autor würde sie lesen.
Dort heißt es: „Seine eigene Nationalität so stolz umherzutragen, so unübersehbar beflaggt durch die Gegend zu spazieren, ist ja in ihren Augen generell kein Aushängeschild sonderlicher Klugheit
oder guten Stils. Auch hier gelten die drei Steigerungsstufen: Positiv – Patriotismus, Komparativ – Nationalismus, Superlativ – Faschismus. Wobei die alte Huber selbst dem Patriotismus nichts
Positives abgewinnen kann. Von der Heimatverbundenheit zum Nationalstolz, von der stolzen Nation zur gekränkten, wütenden ist es nur ein Katzensprung.“
„Ich bin in einer Diktatur aufgewachsen; tretet für die Demokratie ein, denn Freiheit ist ein hohes Gut“, sagte Ali Abo-Hamoud, Geflüchteter aus Syrien und jetzt Kreisvorsitzender der Jungen Liberalen in Goslar, beim Demokratietag im Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium in Herzberg. Der Tag wurde von Alexander Fröhlich, Jahrgang 13, initiiert und beinhaltete neben Informationsständen der demokratischen Parteien und Workshops auch eine Podiumsdiskussion mit politischen Vertretern.
Christoph Podstawa, Landesgeschäftsführer Die Linke in Niedersachsen, Andreas Körner, CDU-Fraktionsvorsitzender im Kreistag Göttingen, Pippa Schneider, Abgeordnete der Grünen im Niedersächsischen
Landtag, René Kopka, Abgeordneter der SPD im Niedersächsischen Landtag und Florian Lillpopp, Ratsmitglied für Die Partei im Rat der Stadt Duderstadt beteiligten sich neben Abo-Hamoud an der
Diskussion. Die wurde von Alexander Fröhlich und Frank Niederstraßer geleitet und ging natürlich zunächst einmal auf die Beteiligung junger Menschen in politischen Prozessen ein.
Sie seien unterrepräsentiert, räumte Kopka ein, daher fordere die SPD das Wahlalter auf 16 Jahre herabzusetzen. Besser seien Jugendparlamente, widersprach Körner, in Göttingen gibt es dieses Modell und Jugendliche könnten so (ohne Stimmrecht) an Sitzungen teilnehmen. Allerdings reiche es nicht aus, eine Scheinbeteiligung zu schaffen, machte Schneider ihren Standpunkt deutlich.
So gab es zunächst einmal den üblichen Austausch über bestimmte Positionen der Parteien, spätestens beim Thema außerparlamentarische Opposition, sprich Letzte Generation, wurde es dann aber
lebhafter. Versagt die Politik, wenn junge Menschen auf die Straße gehen statt in die Parlamente, fragte Niederstraßer provokant und erntete damit zum Teil Verständnis für die Klimaaktivisten,
zum Teil aber auch deutliche Statements, dass Straftaten nicht der richtige Weg seien.
In einer Demokratie bestimme immer noch die Mehrheit, machte Körner deutlich, und das seien nicht Menschen, die den Verkehr aufhalten. Allerdings seien es vor allem die oberen zehn Prozent, die
das Klima schädigen, und es seien die Lobbyisten, die seit Jahren verhindern, dass Politik sich in Sachen Klimaschutz bewege, hielt Podstawa dagegen. „Die Hürden, politisch aktiv zu werden, sind
gerade hier in Niedersachsen sehr gering“, erläuterte Lillpopp dazu.
Auch beim Thema Asylrecht gingen die Meinungen weit auseinander. Während auf der einen Seite vor extrem zunehmenden Schleusertätigkeiten gewarnt wurde, mahnte die andere, sich in der
Migrationspolitik nicht von der extremen Rechten treiben zu lassen. „Nicht die Zahlen sind das Problem, sondern die Integration“, machte Abo-Hamoud seine Position deutlich, hier müssten wir noch
viel Arbeit investieren. Dagegen argumentierte Kopka, es sei schon viel Geld in die Integration geflossen, ließ allerdings offen, ob dieses Geld auch die gewünschten Ergebnisse brachte.
Viel zu schnell war die Zeit um, doch in den Workshops und im persönlichen Gespräch mit den Politiker*innen gab es für die Schüler*innen ja die Möglichkeit, einige Punkte zu vertiefen und eigene Fragen, Sorgen und Wünsche zu formulieren. Zu Beginn gab es einen Poetry Slam-Beitrag von Matti Linke, zum Abschluss einen Rap von Tscharällo, so dass deutlich wurde, dass gesellschaftliche und politische Themen auch über die Kunst angesprochen werden können.
Schulleiterin Heike Lautenbacher war sehr zufrieden mit diesem Demokratietag, verwies aber deutlich darauf, dass sie für das Gelingen viel weniger verantwortlich sei als Alexander. Der wiederum
sieht diesen Tag eher als Anfang einer Entwicklung, will sich weiterhin engagieren, zum einen im politischen Geschehen in Herzberg, zum anderen vielleicht auch, um weitere Veranstaltungen für
junge Menschen und eben für die Demokratie auf den Weg zu bringen.
Auf dem Heimweg von diesem Pressetermin gingen mir viele Gedanken durch den Kopf. Ja, es gab die typischen Worthülsen und einige Statements, denen ich gerne widersprochen hätte. Insgesamt aber habe ich eine lebhafte, authentische und nachklingende Diskussion erlebt. Demokraten, die unterschiedlichste Meinungen habe, aber sich darüber austauschen, so dass die Schüler*innen sich am Ende ein eigenes Bild machen können. So soll es doch sein, oder?
Am meisten hat mich beeindruckt, dass all das von einem Schüler, also Alex und sicher ein paar anderen in seinem Umfeld ausging. Diese junge Generation möchte sich mit Politik auseinandersetzen. Sie möchte gehört werden, sie möchte beteiligt werden, sie möchte, dass unser System der Demokratie eben nicht von Populisten und anderen Kräften außer Kraft gesetzt wird. Da das offenbar die Mehrheit der jetzt Jugendlichen ist, denke ich, es lohnt sich in jedem Fall, für diese Demokratie zu kämpfen, damit sie eine Zukunft in Freiheit haben.
Ja ich war motiviert. Wollte Leute zum Nachdenken bringen. Wollte meinen Job als Journalist ernst nehmen und Fakten und differenzierte Meinungen dem Populismus gegenüberstellen. Nahm mir vor, viele dumme Argumente zu entkräften. Und ja, diese dummen Argumente kamen.
Auf Youtube postete jemand sofort nach Erscheinen des Videos etliche kopierte Texte, die der Letzten Generation nachweisen sollten, wie schlimm sie doch ist. Auf Facebook hagelte es seltsame
Beschimpfungen, überwiegend von Leuten, bei denen ich den Eindruck hatte, sie haben weder den Text gelesen, noch das Video angesehen.
Zuerst antwortete ich noch auf jeden einzelnen Kommentar, doch irgendwann gab ich auf. Zugegeben, es gab auch einige, die sagten, es habe sie zum Nachdenken gebracht und sogar jemanden, der
berichtete, er habe bei einer Straßenblockade angehalten, die Festgeklebten mit Wasser versorgt und andere Autofahrer besänftigt. Das hat mich dann doch beeindruckt.
Größtenteils aber waren es nachgeplapperte Parolen, bei denen ich den Eindruck hatte, diese Menschen wollen gar nicht weiter nachdenken. Es fühlte sich also an wie der sprichwörtliche Kampf gegen
Windmühlen. Und irgendwann schoss mir der Gedanke durch den Kopf: dann macht doch alle weiter wie bisher und lasst eure Kinder und Enkel verrecken.
Ja, ich muss gestehen, dass mich all das mürbe gemacht hat. Hinzu kam später noch der Vorwurf, ich hätte mich in den vergangenen Jahren zu viel um D., F. und ihre Kinder gekümmert. Auch jene Parolen gegen die angeblich so gefährlichen Flüchtlinge und die ach so bösen Ausländer in unserem Land machen mich mürbe. Vor allem eben, weil diese Meinung ja inzwischen wirklich in der Mitte der Gesellschaft angekommen zu sein scheint.
Lohnt es überhaupt noch, für das Gute zu kämpfen? Hat der Populismus nicht längt gewonnen? Bringt es noch was, sich in unserer Gesellschaft für Toleranz, Akzeptanz und unsere Demokratie
einzusetzen? Momentan bin ich mir da echt nicht so sicher, sorry. Auf jeden Fall hab ich gerade keinen Bock mehr. Ich bin raus.
Einige Tage später traf ich mich mit Basti in der Stadt zu unserem Interview. Er sprach über seine Motivation, die natürlich aus einer aus seiner Sicht gefährlichen Passivität der Bundesregierung in Sachen Klimaschutz resultiert, außerdem räumte er ein, dass er den Unmut vieler über die Form des Protests der Letzten Generation verstehen könne. Es sei ja auch nicht ihr Ziel, den einzelnen Autofahrer zu treffen, sondern die Politik wachzurütteln. All das klang für mich durchaus nachvollziehbar.
Am meisten beschäftigt hat mich seine Aussage, dass er jedes Mal Angst habe, sich auf die Straße zu kleben. Angst vor Gewalt, Angst davor, dass irgendwann jemand nicht mehr bremst. Immerhin gab
es ja schon etliche Situationen, in denen genervte Verkehrsteilnehmer Selbstjustiz übten oder eben auch einfach auf die Aktivisten draufhielten. Ist es nur eine Frage der Zeit, bis es wirklich
eskaliert?
Hier jedenfalls ist mein Pressetext mit dem ungekürzten Interview:
„Es ist offensichtlich, dass unsere jetzige Lebensweise unsere Lebensgrundlage nachhaltig zerstört“, sagt Bastian. Er ist Mitglied der Letzten Generation und hat sogar sein Studium in
Göttingen unterbrochen, um auf die Gefahren des Klimawandels aufmerksam zu machen.
Aus seiner Sicht läuft die Klimapolitik der Bundesregierung ziemlich schief, die Emissionen steigen weiter, das Bundesverfassungsgericht hat sogar entschieden, dass bestimmte Gesetze sogar
verfassungswidrig sind. Darauf möchten er und die Letzte Generation aufmerksam machen, das ist der Grund, warum Bastian und andere sich unter anderem auf Straßen kleben, um Aufmerksamkeit zu
erregen.
„Wenn ich auf die Straße gehe und mich dort festklebe, dann weiß ich, dass es eine Straftat darstellen kann“, erläutert er die Methoden, „aber wir stehen mit Namen und Gesicht dazu, was wir tun und entziehen uns auch nicht der Justiz.“ Das erste Mal auf die Straße geklebt hat er sich im vergangenen Herbst in Berlin, erzählt er, er habe damals wie heute Angst davor, Angst vor der Gewalt, davor, dass er angespuckt und getreten wird, wie er es schon erlebte, und auch Angst davor, dass irgendwann einmal ein Fahrzeug eben nicht bremst, sondern einfach weiterfährt.
Adressat sind für ihn und andere Aktivist*innen eindeutig die Verantwortlichen in der Politik, die sich trotz Protesten von Fridays for Future und anderen nicht an ihre eigenen Gesetze sowie
das Pariser Klimaabkommen hält. Dies wird viel Leid für unzählige Menschen auf der Welt nach sich ziehen, so seine Auffassung, insbesondere für nachfolgende Generationen, so dass jetzt dringend
etwas passieren muss.
Ob es richtig ist, dies mit allen gewaltfreien Mitteln durchzusetzen, darüber kann und muss diskutiert werden. Für Bastian ist es richtig, weil alle anderen Formen des Protests nichts gebracht haben und seine Generation die letzte ist, die noch etwas tun kann. Für andere sind die Blockaden auf den Straßen vor allem ein Ärgernis. „Protest ist nicht schön“, sagt Basti dazu, er soll ja stören und aufrütteln.
Soweit also der Pressetext, der mich im Nachhinein doch nachdenklich machte. Bei mir hat er eindeutig für mehr Verständnis für die „Klimakleber“ gesorgt, weil ich jetzt nachvollziehen kann, was
sie antreibt. Ebenso war mir aber auch klar, dass eine solche Veröffentlichung einige Kommentare nach sich zieht, vor allem eben nicht nur zustimmende.
Darauf war ich vorbereitet, nahm mir fest vor, sie auf meinem Youtubekanal, aber auch auf der Facebookseite des Eseltreiber, wo zumindest der Link zum Text und zum Interview erscheinen würde,
alle zu beantworten. Das gelang mir letztlich nicht, doch dazu gibt es erst demnächst mehr.
Fortsetzung folgt...
Als damals die Meldung in allen Medien auftauchte, Klimaaktivist*innen hätten Tomatensuppe auf ein Van Gogh-Gemälde geworfen, war ich entsetzt. Klar, Klimaschutz ist wichtig und geht uns alle an. Bei Protestmärschen von Fridays for Future war ich dabei und habe berichtet, ebenso als Extinction Rebellion sich vors Rathaus kettete. Aber bei der Zerstörung von Kunst hörte meine Solidarität definitiv auf.
Nun könnte ich erzählen, dass mir auch die – wohlgemerkt neutral geschriebenen – Artikel über Fridays for Future oder Extinction Rebellion schon Kritik einbrachten, aber das ist eine andere
Geschichte. Auf jeden Fall habe ich zu Klimaaktivist*innen eine klare Meinung, nämlich eine sehr positive. Es ist wichtig, die Bevölkerung und vor allem die Politik immer wieder an die Probleme
zu erinnern, schließlich geht es um nicht weniger als unsere Zukunft.
Immerhin sehe ich inzwischen selbst bei uns die Auswirkungen von besorgniserregender Trockenheit und in immer kürzeren Abständenauftretenden Jahrhundertstürmen und so weiter. Der Harz ist
verglichen mit dem Zustand vor einigen Jahren nicht wiederzuerkennen, die Ausbreitung des Borkenkäfers eindeutig auf die viel zu trockene Sommer zurückzuführen, zudem haben Stürme immer wieder
Bäume auf riesigen Flächen abknicken lassen, weil die Böden einfach keinen Halt mehr bieten. Eindeutig Folgen der Monokultur, ja, aber eben auch des Klimawandels, wie Experten sagen. Ich sehe
also live und in Farbe, was wir gerade mit unserer Welt machen.
Andererseits gehöre ich nun mal der schreibenden Zunft an, liebe Literatur, räume der Kunst den höchsten Stellenwert menschlicher Kultur ein. Ohne Kunst, ohne kreatives Schaffen wären wir nicht dort, wo wir heute sind.
Das klingt jetzt alles so unglaublich ernst und ist es ja im Grunde auch. Was ich aber sagen will, ist, dass die Kunst für mich letztlich auch das ist, was uns als Menschen ausmacht. Es sind
Kultstätten und religiöse Bauten, die über Jahrhunderte unsere Ehrfurcht vor Gott bekunden, es sind Malereien und Literatur, die unsere Kultur prägten und uns von der Antike über die Aufklärung
bis in die heutige Zeit brachten, und ja, es sind auch Anime oder Videospiele, die uns zeigen, dass wir ab und zu der Realität entfliehen müssen, weil wir sie sonst nicht ertragen können. All das
finde ich überlebensnotwendig.
Wenn nun also Klimaaktivismus und Kunst kollidieren, sehe ich das als Problem und im Falle der Farbattacken auf Bilder eindeutig als eine Form des Protests, die zu weit geht. Gut, hinterher kam
dann raus, dass die Gemälde hinter Glas waren und die Aktivist*innen das wussten. Das relativiert meine Ablehnung ein wenig, aber nicht vollkommen.
Noch etwas später machte die Letzte Generation dann ja von sich reden, indem sie sich auf Straßen klebten und den Verkehr kurzfristig zum Erliegen brachten. Auch das fand ich nicht wirklich gut, vor allem nicht, da es ja Medienberichte über im Stau stehende Rettungswagen und vieles mehr gab. Trotzdem war ich mir in diesem Fällen schon nicht mehr ganz so sicher, ob das nicht doch eine Form des zivilen Ungehorsams ist, der die Regierung endlich dazu bringen kann, sich wirklich mit Maßnahmen gegen den Klimawandel und die Einhaltung der eigenen Versprechen zu befassen.
Vor allem waren es diejenigen, die am lautesten gegen die Letzte Generation wetterten, die mich immer wieder dazu brachten, mich mit deren Protestformen auseinanderzusetzen. Es waren Konservative
und Rechte in der Politik, populistische Medien und eben auch Klimaleugner*innen, die allen nur erdenklichen Blödsinn über die Aktivist*innen in die Welt setzten.
Aus alldem erwuchs mein Wunsch, endlich mal selbst mit einem Mitglied der Letzten Generation zu sprechen. Also schrieb ich eine Mail und bekam wenige Tage später einen Anruf von Basti. Er ist
Student in Göttingen, erzählte er, habe sein Studium aber gerade auf Eis gelegt, um sich auf die Straße zu kleben. So sagte er es natürlich nicht, es trifft aber den Kern. Auf jeden Fall eine
interessante Gelegenheit, mehr zu erfahren, so dass ich ein Interview mit ihm vereinbarte.
Fortsetzung folgt...
Einer, der es ausprobiert hat, nur noch positive Nachrichten zu konsumieren, ist der Youtuber Joseph DeChangeman. Einen Monat lang, mit der Kamera dokumentiert. Er habe anfangs Sehnsucht nach Drama gefühlt, berichtet er, musste umlernen, um nicht gelangweilt zu sein. Doch schon nach zwei Wochen habe sich das geändert. „Ich fühle mich hoffnungsvoller mit Blick auf alles“, sagt er, „dankbarer für das, was ich habe, und insgesamt glücklicher.“
Auf dieses Video wiederum haben Oliver Dombrowski und Florian Diedrich alias Doktor Froid in ihrem Stream reagiert. Beide setzen sich auch immer wieder mit Medienthemen auseinander, Florian
insbesondere auf seinem Youtubekanal LeFloid. Sie waren zunächst begeistert vom Experiment, dann allerdings entwickelt sich zwischen beiden eine äußerst interessante Diskussion.
„Was ich zu wenig bedacht finde, ist die Aussage über die Welt. ‚Die Welt wird besser, die Welt wird friedlicher, die Welt wird demokratischer...‘“, merkt Flo an, „Aber in unserer Lebensrealität haben wir mit diesen Dingen, die sich in der Welt verbessern, wenig zu tun. Für uns als ‚absolut überprivilegierte Bewohner der ersten Welt‘ spielen andere Dinge eine Rolle.“ Was er meint, ist, dass die Lebensumstände bei uns hier gerade für viele Menschen gefühlt deutlich schlechter werden, wodurch die Sicht auf die Welt eben eine deutlich kritischere ist.
Olli hält dagegen, die weltweiten Fakten seien aber eindeutig, dass vieles sich nun einmal in den letzten Jahrzehnten deutlich zum Guten entwickelt habe. Ja, aber es seien eben vor allem jene
Punkte, die in unserer Gesellschaft schon länger keine Rolle mehr spielen, weil wir Kindersterblichkeit, Hunger, diktatorische Machtstrukturen, Ausbeutung durch Kolonialisierung und vieles andere
größtenteils überwunden haben oder es hierzulande nie ein Problem war, so Flo. Für viele Menschen hier sinkt der Lebensstandard in den letzten Jahren gefühlt oder auch tatsächlich.
Es ist also immer auch eine Frage von Blickwinkeln, so stellen beide fest. Unter anderem auch ein Grund, warum so viele Menschen für populistische Wahlversprechen empfänglich sind. Global gesehen
wird faktisch vieles besser, hier bei uns in Deutschland fühlen sich viele mit den Herausforderungen und Forderungen des Klimawandels überfordert, von der Energiekrise und steigenden Preisen
verunsichert und vom Krieg in der Ukraine verängstigt. Es liegt an uns, welche Perspektive wir einnehmen bzw. an den Medien, welche sie uns zeigen.
Großes Potenzial für konstruktiven, also positiven Journalismus gibt es nicht nur auf den speziellen Plattformen, die sich das auf die Fahnen geschrieben haben und die Joseph getestet hat, sondern auch in der lokalen Presse. Vor Ort zeigen die Krisen der Welt natürlich Auswirkungen, bestimmen aber selten den Großteil des Alltags. Vielmehr sind es kleinere Nachrichten, solche, die vielleicht über die Region hinaus kaum relevant sind, die Menschen aber dennoch bewegen.
Engagiertes Ehrenamt, das Dinge am Laufen hält, Feste und Kultur, die jetzt nach der Durststrecke der Pandemie wieder stattfinden können, einzelne Menschen, die Besonderes leisten und kleine
Neuerungen, die Kindern, Senioren, Geflüchteten oder anderen guttun. Vor Ort passieren diese Dinge und haben die Chance, zur Nachricht zu werden.
Das ist konstruktiver Journalismus, der uns hilft, auch das Positive in der Welt zu sehen. Daran arbeite ich seit Jahren, das ist mein täglicher Job. Und ja, ich schreibe viel lieber über Menschen, die mich beeindrucken, über Entwicklungen, die ich positiv finde, über die kleinen Begebenheiten des Alltags, die anderen helfen können. Das will und werde ich auch weiterhin tun, eben aus voller Überzeugung. Trotzdem werde ich euch hier die eine oder andere Meckerei über das, was mich da draußen aufregt, nicht ersparen. So ist nun mal das Leben. Es bringt täglich Positives und Negatives mit sich.
„Nachrichten gucke ich gar nicht mehr, das ist mir zu grausam, was heute alles in der Welt passiert.“ Diesen Satz habe ich in den letzten Jahren immer häufiger gehört. Aus einem ersten Impuls heraus will ich dann immer antworten: Wenn du die Nachrichten nicht schaust, passieren die schlimmen Dinge aber trotzdem. Selbst wenn die Medien nicht über Kriege, Katastrophen und Ungerechtigkeiten berichten, macht das die Welt leider kein Stück besser.
Sicher, es ist die Pflicht von Journalisten, über das zu berichten, was in der Welt passiert. Aber passieren denn wirklich nur schlimme Dinge? Passieren in der Welt mehr negative Dinge als
positive? Vielleicht schon, das weiß ich nicht, doch auf jeden Fall nicht in dem Maße wie es sich in den täglichen Nachrichten widerspiegelt. Also könnten die Medien somit doch einen Einfluss
darauf haben, wie wir die Welt wahrnehmen und letztlich darauf, wie wir uns in dieser Welt fühlen.
Wenn uns Medien immer wieder unterschwellig sagen, dass die Welt schlecht ist und wir nichts dagegen tun können, macht uns das passiv, unsicher und ängstlich. Bekommen wir aber gezeigt, dass wir etwas tun können, bewirkt das bei uns im Gehirn, dass wir uns lösungs- und zukunftsorientierte Fragen stellen und aktiv werden. So sieht es jedenfalls die Neurowissenschaftlerin Prof. Dr. Maren Urner, die zum Thema Informationsverarbeitung und konstruktiver Journalismus forscht und auch Bücher zum Thema veröffentlichte.
Doch was genau bedeutet eigentlich konstruktiver Journalismus? Es sind platt gesagt Nachrichten, die nicht nur ständig den Weltuntergang prognostizieren, sondern Wege darstellen, mit Krisen und
Herausforderungen fertig zu werden, also die Frage stellen, wie es weitergehen kann. Vor allem in der Anfangszeit der Pandemie wurde das auch in großen Redaktionen immer populärer, weil Leser,
Hörer, Zuschauer irgendwann keine neuen Schreckensmeldungen mehr wollten.
Bei Nachrichten, die veröffentlicht werden, spielt (ganz theoretisch) eine Rolle, welche Relevanz sie haben, ob es eine Neuigkeit ist, ob die Information einen Nutzen hat und auch, ob es Menschen
bewegt. Dabei sollen Journalisten kritisch sein, keine Frage, außerdem klicken sich Schreckensmeldungen nun mal besser als andere. Gerade Letzteres sorgt dafür, dass Schlagzeilen (ganz platt
ausgedrückt) immer reißerischer und angsteinflößender werden.
„Studien bestätigen, dass Medien häufig die Welt als einen schlechten Ort darstellen“, sagt der Journalist Mirko Drotschmann im Medienmagazin „Zapp“. Dies führe dazu, dass manche Menschen bestimmte Sachverhalte negativer einschätzen, als sie in der Realität sind. Außerdem verursache der Konsum solcher Nachrichten bei uns Stress. Das bestätigen ja auch die Forschungen von Maren Urner.
Ist konstruktiver Journalismus denn nun die Lösung? Ja, sagt Drotschmann, eine Studie zeige, dass Nachrichten für einige so wieder attraktiver werden, dass sich die Nutzungsdauer erhöht und es
weniger Hasskommentare gibt.
Fortsetzung folgt...
Abgeordnete im deutschen Bundestag dürfen Nebentätigkeiten nachgehen und somit zu ihren Diäten ein Zusatzeinkommen beziehen. Allerdings müssen diese Einkünfte offengelegt werden, das gilt zumindest seit der sogenannten „Maskenaffäre“ der CDU/CSU, die einen neuen Gesetzesentwurf nach sich zog.
Jetzt, zwei Jahre später gab es eine große Recherche vom Spiegel und Abgeordnetenwatch.de, die diese Nebeneinkünfte aller Abgeordneten veröffentlichte. Dabei ist von Verbindungen in die
Wirtschaft die Rede, die „problematisch“ sein könnten, außerdem seien einige Veröffentlichungen immer wieder verschleppt worden, so dass die Transparenz lange nicht so eindeutig gewesen sei, wie
es sich auf dem Papier anhörte.
Jetzt allerdings sei alles bis auf wenige Ausnahmen einsichtig, so dass es sogar eine „Bestenliste“ mit denjenigen Abgeordneten gab, die am meisten nebenher verdienen. Sebastian Brehm von der CSU
steht mit 3 447 584 verdienten Euro seit der Bundestagswahl 2021 an der Spitze, gefolgt von Alexander Engelhardt, ebenfalls CSU, mit 2 069 780 Euro.
Auf Platz sechs folgt der Göttinger Abgeordnete Fritz Güntzler (CDU) mit 693 381 Euro. (Wie ihr vielleicht wisst, lebe ich am Harz im Landkreis Göttingen. Also blicke ich natürlich in diesem Text, den ich übrigens nicht zuerst für diesen Blog, sondern als lokalen Presseartikel verfasst habe, auf unsere Region. Das könnt ihr für eure Wahlkreise aber auch tun, der Link folgt später.)
Güntzler ist Wirtschaftsprüfer und Steuerberater in Göttingen, die Einkünfte stammen zum Großteil aus der Gewinnausschüttung zweier Kanzleien. Daraufhin habe ich ihn zum Thema Nebeneinkünfte
befragt, wollte wissen, ob er es für gerechtfertigt halte, dass Politiker so viel nebenher verdienen dürfen, ob es aus seiner Sicht eine Obergrenze geben sollte und auch, warum auf den
Spitzenpositionen die konservativen und rechten Parteien am häufigsten vertreten sind.
Direkt antwortete er nicht auf die Fragen, betonte aber, er sei mit Leib und Seele Abgeordneter und sich der damit verbundenen Verantwortung bewusst. „Neben meinem Bundestagsmandat arbeite ich,
soweit mir dies zeitlich möglich ist, in meinem Beruf als Wirtschaftsprüfer und Steuerberater. Die Wahrnehmung meines Bundestagsmandats steht jedoch immer im Vordergrund.“
Er arbeite durchschnittlich weit über 60 Stunden in der Woche, führte er aus, freie Abende seien eher der Ausnahmefall. Da sein politisches Mandat nur eines auf Zeit sei, müsse er in seinem Berufszweig „am Ball“ bleiben, ein Wiedereinstieg müsse jederzeit möglich sein. „Meine beruflichen Kenntnisse helfen mir aber auch bei der Arbeit im Finanzausschuss des Deutschen Bundestages“, so Güntzler weiter, durch die Arbeit in der Steuerberatung und Wirtschaftsprüfung habe er ein besseres Gefühl dafür, welche Themen die Bürger und Unternehmen akut bewegen.
„Nur ein geringer Anteil der Gewinnausschüttungen beruht auf meiner tatsächlichen Tätigkeit als Wirtschaftsprüfer und Steuerberater in den Kanzleien. Der weitaus größte Teil ergibt sich aus der
Kapitalbeteiligung, vergleichbar mit einer Dividendenzahlung auf eine Aktie. Die Höhe der Gewinnausschüttung lässt somit keinen Rückschluss auf den jeweiligen zeitlichen Umfang der Tätigkeit zu“,
führt er aus.
Die Veröffentlichungen von Spiegel und Abgeordnetenwatch.de beinhalten auch eine Aufschlüsselung sämtlicher Politiker aus den Regionen und deren Nebeneinkünfte. Im Wahlkreis Goslar – Northeim –
Osterode sind es Frauke Heiligenstadt (SPD) mit 0 Euro sowie Karoline Otte (Grüne) mit ebenfalls 0 Euro. Im Wahlkreis Göttingen Jürgen Trittin (Grüne) mit 0 Euro, Konstantin Kuhle (FDP) mit 7 492
Euro und eben Fritz Güntzler mit 693 381 Euro.
Die interaktive Karte findet ihr hier: Abgeordnetenwatch.de.
„Wir sind Sterbliche, die darum wissen, dass sie sterblich sind.“ So begann Dr. Heinz Rüegger seinen Vortrag zum Thema „Selbstbestimmtes Sterben“. Während wir aber über Jahrhunderte den Tod als Schicksal angesehen haben, also als etwas, dem wir uns ergeben müssen, haben wir durch die moderne Medizin gelernt, dass wir ihn hinauszögern können. Wenn nun das Sterben beeinflussbar ist, dann erfordert das von uns Entscheidungen.
Um genau diese Entscheidungen ging es in diesem dritten Teil einer Reihe, die Pastorin Ute Rokahr für den Kirchenkreis Harzer Land organisiert hatte. Dafür dankte ihr Superintendentin Ulrike
Schimmelpfeng herzlich. Den Impulsvortrag des Theologen, Ethikers und Buchautors Heinz Rüegger bezeichnete sie anschließend als den vielleicht wichtigsten der Reihe, da das Sterben eben uns alle
angeht und sich die Entscheidung, wie es stattfinden soll, nicht wegdrücken lässt.
Es ist also zum einen die Möglichkeit, den Tod hinauszuzögern, zum anderen aber, wenn wir es selbst ein Stück weit in der Hand haben, eben „die letzte Aufgabe in unserem Leben“. Die Mehrheit der
Menschheit sterbe heute nach einer Entscheidung, den Tod zuzulassen, so Dr. Rüegger. Diese Entscheidung solle niemand anderes fällen als der Patient selbst.
Es sei nicht weniger als ein kulturgeschichtlicher Paradigmenwechsel, wenn wir den Tod als beeinflussbar begreifen, eine Ausweitung unserer moralischen Verantwortung. Wir müssten uns mit dieser Frage auseinandersetzen, weil unser Gesundheitssystem nun einmal zu gut sei. „Die Frage ist nicht, ob wir das gut finden oder nicht; es ist einfach so“, stellte er heraus.
Aber dürfen wir aus christlich-moralischen Gesichtspunkten eigentlich selbst entscheiden? Steht es nicht Gott zu? Das Leben sei ein Geschenk Gottes, postulierte er, ein Geschenk, mit dem wir
verantwortlich umgehen müssen. Ebenso gab uns Gott aber auch die Freiheit und Möglichkeit zu Wissenschaft, also letztlich die Fähigkeit, ins Leben eingreifen zu können. Daher sei es unsere
Eigenverantwortung, wie lange wir unter bestimmten Umständen an diesem Geschenk festhalten wollen.
Zum selbstbestimmten Sterben gehöre nicht nur der assistierte Suizid, führte er aus, sondern unter anderem auch der Therapieverzicht, das Sterbefasten oder die Verweigerung lebensverlängernder
Medikamente. „Ich bin der Meinung, dass all diese Formen grundsätzlich legitim sein können“, mache er deutlich. Aus theologischer und ethischer Sicht spreche nichts dagegen, auf ein für uns
unerträgliches Leben zu verzichten.
Das Problem sei, dass wir lernen müssen, rechtzeitig ins Sterben einzuwilligen. Es ist also wichtig, frühzeitig den Willen zu formulieren, darüber auch mit Familie, Freunden oder dem Arzt oder der Ärztin zu sprechen. Bei einer Lungenentzündung in hohem alter kann der Verzicht auf lebenserhaltende Medikamente ein guter Weg sein, so Dr. Rüegger, sein Wunsch sei übrigens ein Nierenversagen, das es ihm erlaubt, rechtzeitig und vor allem ohne großes und langes Leiden zu gehen. Das sagte er angesichts einer Krebsdiagnose vor einigen Jahren, die ihn selbst auch dazu brachte, mit seiner Frau alle Möglichkeiten durchzusprechen.
„Es ist ein sanftes Sterben und etwas anderes ist möglicherweise wesentlich weniger angenehm“, sagte er deutlich. Die meisten Menschen wollen ja ohne langes Leiden sterben, nur müssten sie sich
dafür eben selbst entscheiden und es auch zulassen. Es gehöre Mut dazu und innere Ruhe, um sich der Entscheidung bewusst zu werden. Außerdem könne sich diese Entscheidung aufgrund äußerer
Umstände im Leben ändern, doch letztlich liege sie eben immer bei jeder und jedem einzelnen, nicht beim Arzt, bei Pflegenden oder Angehörigen.
Somit sei Sterben für ihn somit eine Balance zwischen Zulassen und Selbstbestimmung, die uns alle betrifft. „Ich wünsche Ihnen, dass es Ihnen gelingt, diese Balance für sich zu finden“, schloss
er, bevor mit den Zuhörerinnen und Zuhörern noch lange, intensiv und zum Teil sehr persönlich diskutiert wurde.
Der Paragraph 217 des Strafgesetzbuches, in dem es um die Förderung der Selbsttötung geht, wurde Anfang 2020 vom Bundesverfassungsgericht gekippt, weil dieses die Beihilfe zum Suizid, also das selbstbestimmte Sterben nicht als Straftat sieht. Seitdem wird über die Freiheit, sich das Leben zu nehmen rechtliche, politisch, ethisch und auch theologisch kontrovers diskutiert.
Dr. Dorothee Arnold-Krüger vom Zentrum für Gesundheitsethik an der evangelischen Akademie Loccum war am Montag im Kirchenkreis Harzer Land in Osterode zu Gast, um über die kirchlichen Positionen
zum assistierten Suizid zu sprechen. Pastorin Ute Rokahr und Superintendentin Ulrike Schimmelpfeng hatten sie eingeladen und setzten damit die Reihe fort, die mit einer Veranstaltung mit Prof.
Dr. Friedemann Nauck zu den medizinischen Aspekten begann.
„Es war ein Paukenschlag“, sagte Dr. Arnold-Krüger über das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, zum einen, weil es sogar live im Fernsehen übertragen wurde, zum anderen, weil es die Debatte um
den assistierten Suizid erst richtig ins Rollen brachte. Die Referentin machte erst einmal deutlich, dass zwischen der Hilfe beim Sterben und der Hilfe zum Sterben unterschieden werden müsse, wie
es auch schon Prof. Dr. Nauck erläutert hatte.
Die aktive Sterbehilfe ist in Deutschland untersagt, der §217, der erst 2015 eingeführt worden war, regelte die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung, die damit unter Strafe gestellt wurde. Seit 2020 arbeitet der Bundestag an einer Neuregelung, für die es bisher mehrere Entwürfe gibt, die sich in einigen Punkten unterschieden, darunter auch die Forderung einer Wiedereinführung von §217. „Wie der Bundestag sich entscheiden wird, ist derzeit noch offen“, vermutete Dr. Arnold-Krüger.
Letztlich sei es schwer, die Moralvorstellungen, die innerhalb einer Gesellschaft auseinandergehen, in ein für alle gültiges Gesetz zu fassen. Das Recht, so sagte sie, müsse immer einen größeren
Rahmen umfassen als die Moral. Damit ist man bei einer ethischen und auch theologischen Diskussion angekommen. Auch innerhalb der evangelischen Kirche gibt es hierzu verschiedene Positionen, die
sie im Folgenden skizzierte.
Über allen steht letztlich die Frage, was Vorrang hat, das Selbstbestimmungsrecht oder der Lebensschutz. Die Unantastbarkeit des Lebens stellt für uns ein hohes Gut dar, ebenso aber die
Menschenwürde und die Entscheidungsfreiheit des Individuums. Einige Theologen argumentieren damit, dass das Leben als Gabe der Schöpfung anzusehen und somit unantastbar ist, auch für den
einzelnen. Daher sei der assistierte Suizid abzulehnen, so ihre Schlussfolgerung.
Andere, zu denen auch der frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zählt, argumentieren mit der Auferstehung, die uns vom Tod erlöst. „Nach wie vor ist
Sterbebeistand, nicht Sterbehilfe die Aufgabe von Ärztinnen und Ärzten“, sagte Huber, der in einem Artikel der FAZ auch die Frage aufwarf, ob unser Leben denn als eine Gabe oder als Besitz
anzusehen sei.
Vertreter der liberalen Theologie vertreten die Auffassung, dass Gott uns Individualität und Subjektivität garantiere, die Freiheit der Lebensgestaltung also gegeben sei und das Leben somit keine Pflicht. Es gebe somit Situationen, in denen das Leben nicht mehr lebenswert ist und kein Aushalten verlangt werden dürfe.
Durch ihre Ausführungen machte Dr. Arnold-Krüger deutlich, wie sensibel dieses Thema ist und dass es letztlich in der Bewertung immer vom Einzelfall also vom jeweiligen Betroffenen abhänge. Das
macht eine allgemeine Gesetzgebung nicht eben einfacher und die Diskussion darüber so langwierig. Könnte begleiteter Suizid nicht auch eine kirchliche Aufgabe sein? Könnte die Diakonie nicht in
solche Prozesse eingebunden werden?
Auch dazu gibt es keine eindeutigen Positionierungen, die Einrichtungen müssen ihre Entscheidungen selbst treffen. Doch können die Träger überhaupt ablehnen, dass beispielsweise Vertreter von
Sterbehilfeorganisationen in ihre Häuser kommen? „Wir helfen beim Sterben, aber nicht bei der Selbsttötung“, formulierte dazu die Diakonie Wuppertal.
Der Dialog in diesen Fragen ist wichtig, betonte die Referentin noch einmal, bevor sie sich selbst in den Dialog mit ihren Zuhörerinnen und Zuhörern begab. Es gab viele Fragen, viele Anmerkungen
und am Ende dieses spannenden Abends wenig eindeutige Antworten, eben weil es ein komplexes Themenfeld ist.
Fortsetzung folgt...
"Man erkennt den Wert einer Gesellschaft daran, wie sie mit den Schwächsten ihrer Glieder verfährt", hat der ehemalige Bundespräsident Gustav Heinemann einmal gesagt. Die schwächsten Glieder sind die Kinder, die Kranken und die Alten. In unserem Kirchenkreis gibt es derzeit eine Vortragsreihe zum Thema Tod, Sterben und Sterbehilfe. Auch dabei geht es um die Schwächsten und ich frage mich, was unser Umgang mit jenen, die kurz vor ihrem Lebensende stehen, über uns aussagt.
Hier meine Pressetexte zu diesen Veranstaltungen, den Anfang machte Prof. Dr. med. Friedemann Nauck von der Klinik für Palliativmedizin der Georg-August-Universität Göttingen:
Seelsorge und Medizin greifen in der Frage nach dem Lebensende ineinander, erläuterte Prof. Dr. Friedemann Nauck bei seinem Vortrag zum ärztliche assistierten Suizid in der Osteroder Stadthalle. Heilen funktioniere nun einmal nicht immer, daher sei das Trösten und Lindern in der Palliativmedizin und in der Hospizarbeit so wichtig.
Damit war dann auch klar, warum diese Veranstaltung vom Kirchenkreis Harzer Land angeboten wurde. Es sei ein anspruchsvolles Thema, zu dem sich jeder eine individuelle Meinung bilden sollte, das aber auch gesamtgesellschaftlich diskutiert werden muss, sagte Superintendentin Ulrike Schimmelpfeng eingangs. Pastorin Ute Rokahr, die vor allem in der Altenseelsorge tätig ist und daher auch Professor Nauck gut kennt, stellte den Gast den zahlreichen Zuhörer*innen in der Stadthalle vor und überließ ihm dann die Bühne.
Der missverständliche Begriff der Sterbehilfe, so führte dieser aus, müsse zunächst einmal in zwei Aspekte unterschieden werden, zum einen die Hilfe beim Sterben, zum anderen die Hilfe zum Sterben. Ersteres bezeichnet die Begleitung am Lebensende, zweiteres beinhaltet die Tötung auf Verlangen, also den assistierten Suizid. Die aktive Sterbehilfe ist bei uns verboten (§ 216 StGB), die Beihilfe zur Selbsttötung, also die Bereitstellung von Mitteln zum Suizid ist nicht strafbar, widerspreche aber dem ärztlichen Ethos.
Dagegen sei die indirekte Sterbehilfe, also die Lebensverkürzung als Nebenwirkung einer palliativmedizinischen Maßnahme zulässig. Es gehe hier um das Zulassen des Sterbens und das Beenden lebensverlängernder Maßnahmen. Diese Differenzierung sei medizinisch, juristisch und auch ethisch wichtig, betonte Prof. Nauck.
Lange durften Ärzte nicht assistieren, inzwischen kann der assistierte Suizid in Einzelfällen durchgeführt werden. Er selbst erlebe es immer wieder, dass Menschen in der Palliativstation aufgenommen werden, die die Assistenz beim Suizid verlangen. Er verweigere, weil es aus seiner Sicht andere Wege gibt. "Keiner dieser Menschen ist bisher in die Schweiz gefahren", berichtete er aus seiner Erfahrung.
Menschen möchten möglichst wenig Schmerzen und Beschwerden haben, möchten, dass offen mit ihnen gesprochen wird, möchten dass ihre Wünsche auch dann berücksichtigt werden, wenn sie selbst nicht mehr entscheiden können. All das hat die Palliativversorgung zum Ziel, sie will so viel Lebensqualität wie möglich erhalten. "Eine frühzeitige Begleitung ist die beste Prävention", sagte der Professor.
Daher spreche er sehr offen mit Menschen über den Tod und stelle dabei immer wieder fest, dass ein Wunsch zu Sterben oft eigentlich vielmehr der Wunsch nach verbesserten Lebensbedingungen ist. Oft lasse sich also an den Umständen etwas ändern, wodurch der Todeswunsch überwunden werde. "Das hat damit zu tun, dass sich das Sterben von zuhause in die Krankenhäuser verlagert hat.", sagte er.
Das Leben in den eigenen vier Wänden sei vielen enorm wichtig, denn oft gehe dem medizinischen ein sozialer Tod voraus. Wertschätzung, persönliche Bindungen, Religion und andere Aspekte seien es, an denen gearbeitet werden könne, eine Herausforderung für das gesamte Umfeld. Die Palliativmedizin sei ein Baustein dazu.
"Die Bereitstellung von Medikamenten zur Beendung des Lebens ist aus meiner Sicht keine therapeutuische Option", so Nauck. Es sei eine Entsorgung, aber keine Lösung. Wobei er einräumte, dass es immer auch Einzelfälle geben könne, in denen eine solche Entschiedung moralisch zu rechtfertigen sei, auch wenn er noch nie ein Leben wegen unerträglichen Leidens beenden musste.
Zum Schluss warnte er davor, dass ein Gesetz zu ärztlicher Sterbehilfe auch eine gewisse Normalität mit sich bringen könnte. Rechne man die Zahlen aus den Niederlanden hoch, so könne bei ähnlicher Gesetzgebung die Zahl der Suizide hier deutlich ansteigen. Es sei aus seiner Sicht aber immer besser, die Symptome von Leid und Schmerzen zu behandeln.
In der anschließenden Diskussion kamen noch weitere Aspekte auf, unter anderem die Frage nach Demenz bei alten Menschen, die dazu führen kann, dass diese nicht mehr leben wollen. Hier sei eine Patientenverfügung absolut wichtig, um das Lebensende frühzeitig zu gestalten, und auch hier gehe es vielmehr um ein Zulassen des Sterbens als um Assistenz beim Suizid, betonte Prof. Nauck noch einmal.
Fortsetzung folgt...
Während wir in der Kirche in Eisdorf und später in Willensen kurz rasten und uns zwischendurch wortwörtlich über Gott und die Welt unterhalten, schwingt diese schwere Stimmung des Karfreitags aber auch immer wieder mit. Wir wissen heute, dass die Auferstehung zu Ostern alles umkehrt. Wusste Jesus es damals auch? Seine Anhänger jedenfalls nicht, sie hatten in dieser Nacht keine Hoffnung.
Zwischendurch denke ich auch immer wieder über meinen eigenen Glauben nach. Durch meine Eltern, insbesondere durch meinen Vater wurde ich früh damit konfrontiert, aber ehrlich gesagt stellte er
mich später auch auf eine harte Probe, weil seine Auffassung des Christentums eine sehr konservative, ja fundamentalistische war, während ich Gott schon immer vielmehr als Freiheit begriff. Für
mich war es eine Art ethischer Kompass, eine Hilfe in moralischen Fragen, ebenso eine Sicherheit, dass ich nie die Hoffnung verlieren muss.
Zu kompliziert, um es jetzt hier detailliert zu erläutern, auf jeden Fall aber hat mich mein Glaube immer begleitet und mir geholfen. So sehr, dass ich heute für die Kirche schreibe und diese Facette meines Berufs auf keinen Fall mehr missen will. Unter anderem auch, weil Kirche eben sehr modern sein kann, weil es viele tolle Ideen gibt und ich immer wieder Abenteuer wie dieses gerade erleben darf.
Wenn meine Gedanken nicht um mich selbst kreisen, nehme ich die nächtliche Natur wahr, da das Mondlicht eben nur die Wege vor uns und viele Umrisse erhellt konzentriere ich mich aufs Hören der
Geräusche der Nacht, aufs Riechen der klaren Luft und auf das Gras, die Erde oder auch das Gestein unter meinen Schuhen. Außerdem tausche ich mich mit den anderen aus, erfahre etwas von ihnen,
gebe etwas von mir preis und stelle fest, wie diese Fremden immerhalb der letzten Stunden zu Vertrauten, eben zu Weggefährten geworden sind.
„Bleibet hier und wachet mit mir; wachet und betet“ singen wir auch an der nächsten Station wieder und auch noch einmal an unserem Ziel, der St. Martin-Kirche in Nienstedt. Dort gibt es dann zum Abschluss noch ein gemeinsames Frühstück, während es draußen allmählich hell wird und die Sonne aufgeht. Wir alle stellen fest, wie intensiv diese Pilgertour doch war. Manchem hat sie den Glauben wieder näher gebracht, andere sind froh über eine besondere Erfahrung, wir alle sind einmal ganz anders in die Ostertage gestartet als üblich. Müder vielleicht und mit schweren Beinen, aber auch nachdenklicher und erfüllter.
Das silberne Licht des vollen Mondes scheint durch die noch kahlen Bäume und erhellt den Weg vor uns. Es geht ein Stück weit bergauf, unsere Schritte sind dank der Dunkelheit besonders deutlich zu hören. Das gilt auch für einen Vogel, den die sieben Männer im Wald da unten wohl erschreckt haben und der plötzlich auf und davonfliegt.
Sieben Männer, darunter Pastor Uwe Rumberg, der zu dieser ungewöhnlichen Pilgertour eingeladen hat. In der Nacht von Gründonnerstag auf Karfreitag hier bei uns im Vorharz, genauer gesagt von
Badenhausen über Eisdorf, Willensen bis nach Nienstedt. Insgesamt etwa 15 Kilometer. Eine Tour explizit für Männer, denn spezielle Angebote für Frauen gibt es in der Kirche sehr viele, so der
Pastor. Mit dabei sind Stephan, Bernhard, die drei Brüder Wolfgang, Friedhelm und Jürgen und eben ich. Sieben Fremde, die sich gemeinsam zu Fuß auf den Weg machen und dabei die letzten Wege Jesu
vor der Kreuzigung nachvollziehen wollen.
Getroffen haben wir uns zunächst in Nienstedt an der Kirche, von dort aus ging es mit dem Auto nach Badenhausen, eine Fahrt von knapp über fünf Minuten, bei der ich die Landschaft eigentlich noch
nie bewusst wahrgenommen habe. Pfarrer Thomas Waubke (von der Landeskirche Braunschweig oder bei uns hier in der Hannoverschen Landeskirche auch liebevoll „Feindesland“ genannt) hat diesen
Startpunkt zur Verfügung gestellt und uns sogar Brot und etwas zu Trinken hingestellt. Von der Kirche aus ging es dann erst einmal Richtung Burgruine Hindenburg und der Söse, dem kleinen Bach,
dessen Plätschern uns noch häufiger in dieser Nacht begleiten wird. Dort in einem Pavillon, der wohl sonst eher als Grillplatz genutzt wird, feierten wir gemeinsam das Abendmahl.
Ausschließlich bei Kerzenlicht, kurz vor Mitternacht, umgeben von Bäumen und Dunkelheit. Uwe Rumberg erinnerte an das eigentliche Abendmahl, das letzte Abendmahl Jesu mit den zwölf Aposteln zur
Zeit des Passafestes in Jerusalem. Dazu sangen wir das Taizé-Lied mit dem sich wiederholenden Text „Bleibet hier und wachet mit mir; wachet und betet“. Dieses Lied wird uns noch die gesamte Nacht
hindurch begleiten.
Das Passafest wurde nach dem ersten Vollmond im Frühling gefeiert, weshalb sich auch Ostern nach diesem richtet. Der Mond wie gesagt steht hoch über uns am Himmel und sorgt dafür, dass wir überhaupt sicher einen Schritt vor den anderen setzen können. Die Brüder Jürgen, Friedhelm und Wolfgang haben die Ankündigung im Gemeindebrief Wollershausen, einer Gemeinde, die auch noch zu unserem Kirchenkreis gehört, gelesen und beschlossen, sich gemeinsam der Herausforderung zu stellen. So ist einer von ihnen extra aus Bad Gandersheim, der andere sogar aus dem westfälischen Minden angereist.
Die meiste Zeit des Weges lassen die drei sich ein wenig zurückfallen, haben einander viel zu erzählen. Immer wieder bekomme ich mit, wie sie sich gegenseitig aufziehen, sticheln und gemeinsam
darüber lachen. Es muss echte Liebe unter Brüdern sein, die ein Leben lang den Charakter aus Kindertagen bewahrt. Irgendwie berührt mich das.
Stephan hingegen erzählt uns vom Oxfam-Trailwalker, einem großen Spendenlauf über 100 Kilometer, der damals um Osterode stattfand und wo es ebenfalls durch die Nacht ging. „Ich hab schon
viele Wanderungen gemacht, aber diese bei Dunkelheit ist mir besonders in Erinnerung geblieben“, sagt er.
Unser nächstes Ziel ist der Gipfel des Pagenberges, anschließend geht es zum Königstein, wo einst das Königreich Hannover und das Herzogtum Braunschweig aneinandergrenzten. Auf Ebene der Landeskirchen gibt es diese Grenze heute noch, wenn sie auch nicht mehr konfliktbelastet ist.
In den kurzen Ansprachen unseres Pastors geht es aber um die Konflikte des Verräters Judas und die Petrus‘, der Jesus noch in der Nacht des Verrats aus Angst vor Konsequenzen verleugnete. Durch
die Stille der Nacht und die Monotonie der Schritte hallen diese Denkimpulse noch lange nach, die biblische Geschichte fühlt sich wie die Geräusche um uns und jede Veränderung des Bodens unter
unseren Füßen viel intensiver an als während einer Predigt in der Kirche.
Es muss ein schwerer Gang für Jesus gewesen sein, verspottet für all das, was er uns für das Leben in dieser Welt mitgeben wollte, gekreuzigt. Immerhin rief er „Mein Gott, mein Gott, warum hast
du mich verlassen?“ (Matthäus 27,46). War er verlassen? Sollte uns musste alles so sein? Welche Bedeutung hat dieser Tod am Kreuz heute für uns?
Fortsetzung folgt...
Der Internationale Strafgerichtshof hat Haftbefehl gegen Wladimir Putin erlassen. Der russische Präsident soll sich für die Kriegsverbrechen in der Ukraine verantworten, insbesondere die Verschleppung von Kindern wird ihm vorgeworfen. Für viele Experten ist es ein starkes politisches Signal, einige poltern auf Twitter, dass dann doch auch US-Präsidenten angeklagt werden müssten, für die meisten von uns ist es vor allem ein Schauspiel auf der Bühne der Mächtigen, das sehr weit weg erscheint.
Spannend finde ich, dass ich mich schon einmal mit diesem Thema auseinandergesetzt habe, wenn auch mit anderen Vorzeichen. Der Autor Marc Elsberg hat all dies nämlich in seinem Thriller "Der Fall des Präsidenten" mehr oder weniger exemplarisch durchgespielt. Daher hier sozusagen aus aktuellem Anlass meine Rezension zu diesem Roman, die ich vor zwei Jahren schrieb als Marc Elsberg (zusammen mit Dietmar Wunder als Sprecher) bei uns beim Mordsharz-Festival zu Gast war:
Am Flughafen in Athen wird der ehemalige US-Präsident verhaftet. Im Auftrag des Internationalen Strafgerichtshofs. Kriegsverbrechen werden ihm vorgeworfen. Völlig unerwartet und schockierend für alle Anwesenden, ein internationaler Skandal, wenn die Welt es mitbekommt. Daher werden sofort alle diplomatischen Strippen gezogen, um den Staatsmann so schnell wie möglich und vor allem mit so wenig Aufsehen wie möglich aus seiner misslichen Lage zu holen, notfalls eben mit Drohungen, die das politische und wirtschaftliche Miteinander der USA und Europas auf die Probe stellen.
Doch in der heutigen Zeit lässt sich eine solch nie dagewesene Ungeheuerlichkeit natürlich nicht vertuschen, ein Video taucht im Internet auf und verbreitet sich rasend schnell. Jetzt heißt es, im Hintergrund klug zu agieren, um eine Eskalation, vor allem aber einen Prozess gegen den Präsidenten und damit gefühlt gegen den Hüter der freien Welt zu verhindern.
Allein diese Ausgangslage in Marc Elsbergs Thriller „Der Fall des Präsidenten“ ist ebenso gewagt wie absurd. Gewagt, weil in der Realität so schlicht unvorstellbar, absurd, weil natürlich die Frage gestellt werden muss, warum gerade die USA den Internationalen Gerichtshof in Den Haag nicht anerkennen. Dabei ist der Hintergrund wie so oft bei Marc Elsberg ebenso real wie brandaktuell, die Trump-Regierung hatte die Chefanklägerin mit Sanktionen belegt, allein schon, weil sie mögliche US-Kriegsverbrechen in Afghanistan untersuchte.
Diese Diskrepanz zwischen dem Anspruch der USA als Hüter der freien Welt und dem kalten Hinwegsetzen über internationale Statuten treibt Elsberg auf die Spitze. Seine Anklägerin nennt er Dana Marin, verpasst ihr eine persönliche Motivation durch Kindheitserfahrungen im Kosovokrieg und spielt die Verhaftung des in diesem Fall fiktiven Präsidenten gut recherchiert durch.
Vor Gericht wird ganz im Stil des klassischen Gerichtsthrillers verhandelt, ob es überhaupt zur anklage kommen darf, hinter den Kulissen werden die diplomatischen und auch militärischen Möglichkeiten ausgelotet. Zudem tobt in den Medien und damit in der Öffentlichkeit ein Krieg um die Deutungshoheit dieser Angelegenheit und natürlich werden Dana Marin und alle in ihrem Umfeld diffamiert, eingeschüchtert und bedroht.
Wie immer in seinen Büchern entwirft Marc Elsberg ein Szenario, das im Grunde schon morgen eintreten könnte und spielt es konsequent und sehr detailliert durch. Alles, was er schreibt, wirkt akribisch wirklichkeitsnah konstruiert, was es umso erschreckender macht und abseits der eigentlichen Handlung viele Fragen zum fragilen Gefüge der internationalen Politik und eben insbesondere zur Rolle der USA in der Welt aufwirft. Es geht letztlich um nicht weniger als den Kampf zwischen Macht und Moral, wohl eines der wichtigsten Themen unserer Zeit oder der Menschheit überhaupt.
Besonders erfreulich ist aber, dass Marc Elsberg mit Dana Marin eine lebensecht wirkende Hauptfigur geschaffen hat, die nicht nur ihre Funktion als Mittlerin für den Leser erfüllt. Besonders eine Szene, in der Dana sich mit dem Taxi zum Gericht fahren lässt und dabei mit dem Fahrer ins Gespräch kommt, zeigt, dass ihm auch die kleinen, zwischenmenschlichen Szenen gelingen. Der Taxifahrer macht deutlich, dass er nicht auf ihrer Seite ist, weil er sich vor den Konsequenzen eines solchen Prozesses fürchtet. Natürlich weiß er, dass die Kriegsverbrechen in Afghanistan zu verurteilen sind, ist aber fest überzeugt, dass man immer nur die Kleinen hängt, während man die Großen laufen lässt, und dass ein Prozess gegen die USA die nächste Wirtschaftskrise nach sich zieht, von der dann auch er und seine Familie betroffen sein wird.
In Szenen wie dieser wird immer wieder deutlich, wie brisant das Thema ist, weil es um äußerst plausible Szenarien geht, die genau wie in Elsbergs anderen Büchern „Blackout“, „Zero“, „Helix“ und „Gier“ letztlich jeden Einzelnen betreffen können. Er legt mit seinen Thrillern den Finger in Wunden, die viele vielleicht nicht als solche erkennen und regt damit immer wieder wichtige Diskussionen an.
Auf jeden Fall bin ich gespannt, ob diese Fiktion im Falle Putin zum Teil wahr werden wird. Und ganz aktuell ist übrigens Marc Elsbergs neuester Thriller "°C - Celsius" erschienen, in dem es um die Erderwärmung geht, auf den ich auch schon äußerst neugierig bin.
Der Eurovision Song Contest oder damals noch Grand Prix Eurovision de la Chanson hat mich schon als Kind fasziniert. Sehr gut kann ich mich noch an einen Abend erinnern als ich bei Bibi, einer guten Freundin der Familie übernachtet habe – damals liebte ich es an den Wochenenden bei Oma und Opa, meiner Großtante oder anderen Erwachsenen zu übernachten, weil es einfach ein Abenteuer war – und wir abends keinen Zeichentrickfilm, sondern den Grand Prix geguckt haben.
Bibi war eine alleinstehende Lehrerin, vor allem Künstlerin, ein wenig exzentrisch und für mich eben anders als viele andere damals. Vor allem aber liebte ich es, dass sie mich nicht wie ein
kleines Kind behandelte, sondern ich mich bei ihr ernstgenommen und dementsprechend erwachsen fühlte. So auch an diesem Abend als ich die bis in die Nacht dauernde Show ganz selbstverständlich
und ohne Diskussionen bis zum Ende mit ihr ansehen durfte.
Außerdem begeisterte mich das Konzept, dieser internationale Wettstreit, dieser Blick über den spießig deutschen Tellerrand hinaus, kurzum ich fühlte mich erwachsen und weltgewandt wie selten
zuvor. Ehrlich gesagt weiß ich heute nicht mehr, welcher deutsche Song damals teilnahm oder wer den Contest gewann, aber das war ja auch nebensächlich, ging es doch um Völkerverständigung, um
Einblicke in fremde Kulturen und um die große weite Welt des internationalen Showgeschäfts.
Diesen Status hat der ESC für mich im Grunde immer behalten, wenn vielleicht auch mit kleinen Abstrichen in der B-Note. Auf jeden Fall aber habe ich die Show viele Jahre lang gesehen, ein besonderes Highlight war dabei das Public Viewing in einer Kirche. Das Gotteshaus feierte 300-jähriges Bestehen, es sollte etwas Besonderes werden und im Sinne des grenzenlosen Miteinanders gab es eine Predigt mit dem Tenor, dass wir ja alle Gottes Kinder sind und Grenzen etwas absolut Weltliches und eben Menschengemachtes, bevor dann gemeinsam auf einer großen Leinwand der ESC geguckt wurde.
Mich persönlich freute, dass damals Bonnie Tyler für das Vereinigte Königreich antrat, die meisten anderen drückten Cascada für Deutschland die Daumen, gewonnen hat am Ende Emmelie de Forest mit
„Only Teardrops“, ehrlich gesagt bis heute einer der besseren Siegertitel. Auf jeden Fall war auch das für mich wieder ein unvergesslicher Abend und letztlich auch eine Bestärkung darin, dass ich
ein zusammenrückendes Europa als tolle Idee ansehe, während mir Nationalstolz ehrlich gesagt ziemlich fremd ist.
Nun ist der ESC sicher vielmehr Medienspektakel als gesellschaftsprägend, trotzdem mag ich die Idee dahinter nach wie vor und bin auch nach wie vor überzeugt, dass solche Events über Grenzen
hinweg wichtig sind. Es mag sein, dass sie bei einigen genau wie beispielsweise Fußball auf internationaler Ebene den Nationalismus nur noch mehr fördern, bei mir bewirkte es immer klar das
Gegenteil. Ich beschäftigte mich dadurch mehr mit mir fremdem Musikgeschmack, versuchte zu verstehen und war ehrlich gesagt äußerst selten Fan der deutschen Beiträge und Teilnehmer.
Das änderte sich in diesem Jahr. Lord of the Lost höre und mag ich seit zehn Jahren, genaugenommen seit einem Festival, bei dem ich die Band damals live erlebte und ziemlich begeistert war. Noch spannender wurde es für mich als Nik dort als Drummer einsteig, Nik, den ich kenne, seit er quasi Nachbar meiner Ex-Freundin war, und der auch heute wieder kaum drei Straßen von mir entfernt wohnt.
Ja, bei diesem ESC bin ich parteiisch, allerdings mag ich auch „Blood & Glitter“ sehr, den Song und auch das gesamte Album. So war es selbstverständlich, dass wir am vergangenen Freitag zum
Vorentscheid unsere eigene kleine ESC-Party gefeiert und Lord of the Lost die Daumen gedrückt haben. Ganz abgesehen vom Ergebnis war es fast wieder so schön und so spannend wie damals bei Bibi.
Noch viel spannender fand ich allerdings am nächsten Tag etliche Kommentare auf Social Media. Manche fanden die Musik schlicht zu laut, okay, das ist einfach der persönliche Geschmack. Andere
wünschten sich Nicole zurück, also das typische Früher-war-alles-besser-Gejammere, was ich immer schon ziemlich unerträglich finde. Wieder andere regten sich über die Kostüme auf, die Band und
der Song waren ihnen zu wenig deutsch, zu divers, zu linksgrünversifft, was auch immer.
Da frage ich mich dann immer, ob der Song wirklich der Auslöser ist oder ob solchen Leuten nicht im Grunde alles recht ist, um gegen die da oben etc. zu hetzen. Normale Bürger würden sich nicht von den „pinken Herren“ vertreten lassen wollen, twitterte Frauke Petry. „Keine Sorge, Frauke, euch ‚normale Bürger‘ vertreten wir auch nicht. Haben wir nie, werden wir nie“, antworteten Lord of the Lost. Auch ich konnte es mir nicht verkneifen, das zu kommentieren und schrieb: „Naja, Frau Petry, Lord of the Lost wurden von einer Mehrheit gewählt. Das wurden Sie schon länger nicht mehr, oder?“
Eigentlich mag ich mich an sowas ja gar nicht beteiligen, denn es bringt ja doch nichts. Allerdings finde ich es immer wieder unerträglich, wenn alles, was den eigenen Dunstkreis übersteigt, erst
einmal abgelehnt oder gar verteufelt wird. Vor allem, wenn es nur um neue Musik geht oder um vegane Schnitzel oder von mir aus auch um Gendersternchen.
Haben wir keine wirklichen Probleme? Ja, die Frage ist rhetorisch. Aber ich frage mich immer mehr, warum sich Menschen über Kleinigkeiten derart ereifern und letztlich Lager bilden, die zu tiefen
Rissen in unserer Gesellschaft führen. Da frage ich mich dann, ob wir nicht noch viel mehr Eurovision Song Contes brauchen, um zumindest in Sachen Musik toleranter zu werden. Und noch viel mehr
„Blood & Glitter“, denn da heißt es im Text: „We are all from the same blood.“
Das Spiel „Hogwarts Legacy“ erscheint am kommenden Freitag und sorgt schon seit Wochen für Schlagzeilen. Weil es im Harry Potter-Universum spielt und weil dessen Schöpferin J. K. Rowling sich seit längerer Zeit immer wieder kritisch gegenüber Transpersonen äußert. Für viele steht nun die Frage im Raum, ob das Spiel aufgrund der transphoben Haltung der Autorin boykottiert werden sollte.
Das Thema ist so viel komplexer als diese eine Fragestellung. Es fängt damit an, dass Rowling nicht gegen Transmenschen an sich wettert, sondern vor allem behauptet, das biologische Geschlecht
sei nun einmal ein Fakt. Das brachte ihr in der öffentlichen Diskussion die Bezeichnung „TERF“ ein, Trans-Exclusionary Radical Feminism, also eine radikale Feministin, die Transfrauen nicht als
Frauen ansieht. Mit verschiedensten Äußerungen auf Social Media befeuerte die Autorin die Diskussion immer wieder, was auch immer wieder aufgegriffen wurde.
Hierzu bleibt festzustellen, dass das Transgender-Thema in der öffentlichen Diskussion noch relativ jung und damit für viele Menschen ein völlig unbekanntes Feld ist. Durch das Gendern und
insbesondere das Sternchen, das explizit non-binäre Menschen einbeziehen soll, ist es auch bei uns immer wieder präsent, wenn es um Sprache und Diskriminierung gilt.
Da es eben eine noch relativ junge Diskussion ist, möchte ich an dieser Stelle klarstellen, dass auch ich längst nicht genug darüber weiß, um es kompetent aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und mich daher lediglich als Sprach- und Literaturwissenschaftler herantaste. Das aber möchte ich auf jeden Fall tun, weil es mir wichtig erscheint und offenbar ja auch für sehr viele Menschen ein Reizthema ist.
Letzteres wurde in der vergangenen Woche besonders deutlich, als der Streamer Gronkh auf Twitch ankündigte, er wolle „Hogwarts Legacy“ nach Release spielen. Allein das brachte ihm harsche Kritik
ein. Vermutlich werde er aufgrund der Brisanz einen Spendenstream daraus machen und Geld für eine Organisation für die Rechte von Transmenschen sammeln, führte er aus. Da er dennoch weiter
angefeindet wurde, stellte er klar, dass es ihm keinesfalls darum gehe, J. K. Rowling zu unterstützen oder ihrer Meinung eine Plattform zu bieten (zumal sie mit dem Spiel an sich nichts zu tun
habe), diese Frau sei ihm egal.
Genau dieser letzte Satz, dass J. K. Rowling in seinem Leben keine Rolle spiele, wurde wiederum auf Social Media aufgegriffen, wo ihm verschiedene Menschen nun eine transphobe Haltung
unterstellten. Wem Transpersonen egal sind, fördere damit die Diskriminierung, so die Argumentation. Twitter brannte förmlich, aber gut, Twitter brennt ja eigentlich immer.
Interessant an dieser Episode ist, welche großen Kreise eine kleine Äußerung plötzlich ziehen kann, wie viel zwischen den Zeilen doch immer wieder interpretiert wird, wovon Menschen sich
angegriffen bzw. getriggert fühlen und dass es letztlich vor allem jene waren, die ohnehin gegen Transmenschen hetzen, die sich nun bestätigt fühlten. Warum? Weil die ja schlicht alles nutzen, um
sich als Opfer darzustellen... oder so ähnlich.
Aus Sicht des Sprachwissenschaftlers möchte ich nun hierzu anmerken, dass unsere Sprache sich immer schon parallel zur Gesellschaft entwickelt, also in einem stetigen Wandel ist. Immer mal wieder werden solche sprachlichen Entwicklungen in ein Regelwerk gegossen, aber vor allem bildet sie uns Menschen ab, unsere Gesellschaft und damit auch alles, was für diese Gesellschaft ein Thema ist.
Wenn nun gesellschaftlich darüber diskutiert wird, ob Frauen benachteilig werden und ob das auf homosexuelle Menschen noch mehr und auf Transpersonen am allermeisten zutrifft (ja, die Darstellung
ist verkürzt), dann schlägt sich das auch immer in der Sprache nieder. Es ist somit kein Wunder, dass in den vergangenen Jahren über die Sichtbarkeit weiblicher Berufsbezeichnungen oder auch über
das Gendersternchen diskutiert wird. Welche Formen sich letztlich durchsetzen, wird allein die Zukunft zeigen.
Dass diese sprachlichen Unklarheiten diskutiert werden, ist gut und richtig. Nur so kann sich Sprache entwickeln, nur so kann sich auch eine Gesellschaft entwickelt, weil die letztlich auch durch
ihre Sprache geprägt wird. Warum solche Diskussionen aber oft derart verbittert geführt werden, erschließt sich mir nicht. Warum sich Menschen durch ein Sternchen persönlich angegriffen fühlen,
kann ich schlicht nicht nachvollziehen.
Aus literaturwissenschaftlicher Sicht geht es bei „Hogwarts Legacy“ um die Frage nach der Trennung von Werk und Autor. Lässt sich beides unabhängig voneinander betrachten? Ganz klar ja. Solange das Werk nicht eindeutig die Ideologie der Autor*in bedient, kann es erst einmal für sich stehen.
Auf der anderen Seite kann eine gewisse Haltung selbstverständlich auch so schwer wiegen, dass es subjektiv nicht mehr möglich ist, ein Werk zu mögen, wenn die Autorin oder der Autor eine Haltung
vertritt, die ich so gar nicht teile. Allerdings glaube ich, dass wir mit solchen strikt ablehnenden Urteilen vorsichtig sein müssen, erst recht in einem Fall, in dem die Autorin (Rowling) mit
dem Werk (Hogwarts Legacy) direkt kaum noch etwas zu tun hat.
Wenn ich nämlich anfange, alles zu boykottieren, an dem jemand beteiligt ist, dessen Meinung zu irgendetwas nicht gefällt, dann bleibt am Ende nicht viel übrig. Müsste ich dann nicht auch Disney
boykottieren, weil Walt so gar kein Problem mit den Nazis hatte?
Genau diese letzte Frage stellte ich kürzlich auch auf einer Plattform im Netz und bekam zu meiner Verwunderung folgende Antwort: „Was du findest finden andere ganz anders und wer gibt dir das
Recht zu sagen daß es anders empfunden werden muss. Dein empfinden ist deins und das andere das andere. Wenn mir bei Transen schlecht wird und dich das aufgeilt kannst du mir das nicht aufzwingen
weil wer bist du? :) Kapiert?!“ Nee, hab ich nicht kapiert.
Wenn ich das richtig sehe, schulde ich euch noch den letzten Teil meiner Begegnung mit Boris Pistorius in der Erstaufnahmestelle. Die Geschichte muss ja noch ihr würdiges Finale finden oder eben die Erklärung, warum mir dieser Tag so in Erinnerung geblieben ist. Hier kommt es also:
In der Konferenz sprach Boris Pistorius dann über die 600 Plätze, die es in der Unterkunft eigentlich gab und über die 850 Menschen, die zu jenem Zeitpunkt im Spätsommer 2014 dort lebten. Doch er verwehrte sich gegen die Aussage, das Boot sei voll und plädierte stattdessen für mehr Geld für die Aufnahme von Flüchtlingen und eine Erweiterung der Aufnahmekapazitäten, um die auf uns zukommenden Engpässe wenigstens einigermaßen in den Griff zu bekommen. Vor allem sollten die Kommunen vom Bund mehr unterstützt werden, da sie diejenigen seien, bei denen sich steigende Flüchtlingszahlen am deutlichsten bemerkbar machen. Dazu müssten dann eben auch ein paar Gesetzesänderungen auf den Weg gebracht werden.
Damals war Pistorius einer der ersten, zumindest aber einer der entschlossensten Politiker, die so argumentierten. Auf große Resonanz trafen seine Forderungen bekanntermaßen nicht. Heute frage ich mich immer noch, warum die Politik nicht schon viel früher reagiert hat, nicht schon viel früher weitere Flüchtlingsunterkünfte geschaffen hat und vor allem nicht viel mehr in Bewegung setzte, um den Bürokratiestau bei den Asylanträgen und bei den elementaren Voraussetzungen für die Integration in unserem Land abzubauen. Hätte das nicht von Anfang an viel mehr Bereitschaft in der Bevölkerung geschaffen, die Entscheidungen mitzutragen?
Nach der Pressekonferenz machte ich mich jedenfalls schnell auf den Weg zu unserem Basar, wo mittlerweile großer Andrang herrschte. Ich möchte fast sagen, die Kleidung wurde den Damen aus der Hand gerissen, doch das stimmt einfach nicht. Die meisten Menschen aus aller Herren Länder hielten geduldig die Hand auf, lächelten und bedankten sich wortreich in Sprachen, die wir nicht verstanden. Viele von ihnen nahmen die Klamotten genau unter die Lupe, untersuchten, ob sie passten und gaben sie anderen, wenn das nicht der Fall war. Mich rührten vor allem die großen Kinderaugen, die leuchteten, wenn sie Kuscheltiere oder anderes Spielzeug in die Hand gedrückt bekamen.
Minister Pistorius gab währenddessen den Fernsehleuten ein paar schnelle Interviews, dann kam er tatsächlich zu unserem Stand herüber. Und er nahm sich sogar Zeit, einige Worte mit den Damen zu wechseln. Frau B. erzählte von ihrer Erfahrung mit den Asylanträgen und fragte, warum der Staat den Flüchtlingen dafür nicht einen Begleiter zur Seite stellen könne. Leider gebe es dafür kein Geld, antwortete Pistorius sinngemäß, die Flüchtlinge seien grundsätzlich auf sich allein angewiesen. „Deshalb ist es ja so wichtig, dass es ehrenamtliche Helfer wie Sie gibt.“
Vielleicht war es dieser Moment oder vielmehr diese Erkenntnis, die mir zeigte, dass das, was diese Gemeinde und andere taten, keinesfalls ein Selbstzweck war. Vielmehr war es der wichtigste Baustein, um ein programmatisches „Wir schaffen das“ Wirklichkeit werden zu lassen. Selbst wenn der Staat Flüchtlinge aufnimmt und sie damit vor Krieg, Hunger und Verfolgung bewahrt, ist das immer nur der erste Schritt. Der zweite besteht darin, ihnen einen wirklichen Neuanfang zu ermöglichen. Und der kann nur gelingen, wenn zu den offensichtlichen Voraussetzungen auch die weniger sichtbaren hinzukommen.
Der 27. Januar sei nicht nur ein in die Vergangenheit gerichteter Gedenktag für die Opfer des Holocaust, sondern auch für die Gegenwart von Bedeutung, sagte Dr. Elke Gryglewski, Leiterin der Gedenkstätte Bergen-Belsen und der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten. "Seit 2015 haben wir eine Partei im Bundestag, die Erinnerungskultur infrage stellt", begründete sie ihre Aussage, außerdem einen sich immer weiter in der Gesellschaft ausbreitenden Rassismus. Allerdings sei das zu einfach, um zu begründen, warum das Erinnern in unserer Gesellschaft wichtig ist.
Dr. Gryglewski war im Eichsfeld-Gymnasium Duderstadt zu Gast, wo sie am Vormittag gemeinsam mit ihrer Kollegin Marie Kuehnel, FSJ an der Gedenkstätte Bergen-Belsen, einen Workshop zur Gedenkkultur in der Bundesrepublik und zum Erinnern in der Region anbot und am Abend im Forum des Schulzentrums einen Vortrag hielt. Beides ist Teil einer großen ökumenischen Gedenkwoche, wie Pastor Johann-Hinrich Witzel erläuterte.
Mit einem Budget der Hanns-Lilje-Stiftung stellte er verschiedene Veranstaltungen auf die Beine, um die Bedeutung der Aufarbeitung und des Gedenkens für den Kirchenkreis Harzer Land bzw. das Eichsfeld herauszustellen und um "Licht ins Dunkel des Vergessens zu bringen", wie er sagte. Die Stadt Duderstadt und eben die Schule waren sofort mit dabei.
Jene Menschen, derer gedacht wird, wurden im Nationalsozialismus ermordet", betonte Dr. Gryglewski, die Folgen dieser Verbrechen seien in den Familien der Opfer wie auch der Täter bis heute spürbar. Zwar sei die Jugend von heute damals nicht dabei gewesen, viele haben auch keine Eltern und Großeltern mehr, die von dieser Zeit aus eigenem Erleben berichten können, doch gerade das mache eine Auseinandersetzung damit so wichtig.
Dabei gelte auch zu bedenken, dass viele von der Ideologie des Nationalsozialismus überzeugt waren oder vielen tatenlos hingenommen haben, auch später noch. Viele Täter bekleideten auch in der Zeit nach 1945 wieder hohe Ämter, andere flohen und wurden nie zu Rechenschaft gezogen. "Viele Nazis waren noch sehr einflussreich", so die Referentin.
Doch war eigentlich Täter? Waren es die, die tatsächlich an Gräueltaten beteilig waren oder auch die, die wegschauten und sie somit zuließen? Diese Frage sei nicht so leicht zu beantworten. "Das System hatte viele Schreibtischtäter und Mitwisser", sagte Elke Gryglewski, "ich glaube, dass die Täter*innen viel zu gut davongekommen sind." Die Schäler hätten sie am Vormittag bereits nach dieser Einschätzung gefragt. Die Ideologie lebte jedenfalls fort und viele Opfer wie beispielsweise Sinti und Roma, blieben Opfer.
In der anschließenden Diskussion, die ebenfalls sehr auf die Schüler zugeschnitten war, aber durchaus auch die vielen anderen Besucher einbezog, ging es dann unter anderem um die Frage nach der Aufarbeitung in unseren Nachbarländern. Mit dortigen Gedenkstätten kooperiere man natürlich, erläuterte Dr. Gryglewski, doch sei die Situation in den Niederlanden, in Frankreich, in Polen jeweils eine spezifische und somit auch die Aufarbeitung. Wichtig sei ihr aber, das es geschieht, auch um die Demokratie heute zu stärken.
So kamen in dieser Diskussionsrunde viele persönliche Erfahrungen und auch weitere Fragen auf, die zunm einen deutlich machten, dass längst nicht alles beantwortet ist, und zum anderen, dass Erinnern lebendig ist und die Geschichte tatsächlich bis heute Auswirkungen auf uns hat. Daher gibt es auch weitere Veranstaltungen zum Gedenktag, so beispielsweise ein Konzert des Klezmer-Projekt-Orchesters am Freitag, 27. Januar, ab 20 Uhr im Schulzentrum sowie die Ausstellung "Christliche Märtyrer", die zum Wochenende dann in die St. Servastius-Kirche umziehen wird.
Bevor ich nun allerdings Nebelkerzen werfe und vor mich hinschwurble, möchte ich euch noch eine Anekdote erzählen, an die ich im Zusammenhang mit Boris Pistorius immer denken muss. Diejenigen, die diesen Blog von Anfang an verfolgen, kennen die Geschichte, trotzdem möchte ich sie euch noch einmal erzählen.
Irgendwann im Sommer 2015 besuchte ich erstmals eine Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete. Ein Pastorenehepaar hatte eine Kleidersammlung ins Leben gerufen. Sie hatten einer Flüchtlingsfamilie bei den Anträgen beim Bundesamt für Migration in Braunschweig geholfen und sich dabei ein Bild von den Unterkünften machen können. „Wir erlebten Menschen, die trotz Dolmetscher mit der deutschen Bürokratie überfordert waren und Kinder, die seit ihrer Flucht nichts besaßen außer den Kleidern, die sie am Leib trugen“, erzählte mir Pastorenehefrau B.
Kurzerhand riefen sie in der Gemeinde zu einer Kleiderspende auf, bei der Kartons für zwei große Transporter zusammenkamen. Die Landesaufnahmebehörde erlaubte einen Basar auf ihrem Gelände, allerdings mussten die Initiatoren alles selbst organisieren. Alles, was ich tun konnte, war zuzusichern, dass ich mitkommen und über das ehrenamtliche Engagement berichten würde. „Könnten Sie dann vielleicht auch einen der Transporter fahren?“, fragte mich Pastor B. Außer ihm waren es nun einmal überwiegend Helferinnen und kaum eine traute sich mit einem größeren Gefährt als dem eigenen Pkw vom Harz aus in die große Stadt zu fahren. Wenn ich ehrlich war, hatte ich seit meiner Zivizeit auch keinen Transporter mehr durch Innenstädte manövriert, doch ich sagte natürlich zu. Wann bekommt man als Journalist schon mal die Gelegenheit zu praktischer Arbeit?
Tatsächlich kamen wir schließlich auch gut auf dem Gelände an und während Pastor B. und seine Damen den Basar vorbereiteten, machte ich mich auf den Weg zur Pressekonferenz des Niedersächsischen Innenministers, der zufällig an diesem Tag auch in der Einrichtung war. Auf dem Weg dorthin kam ich an Kasernengebäuden vorbei, aber auch an auf den Rasenflächen aufgebauten Containern. Dicht an dicht standen sie, dazwischen Wäscheleinen, Kinderwagen und manches mehr, was jetzt im Sonnenschein nach Alltag aussah. Vorstellen, wie man als Familie in so einem Container über mehrere Wochen leben konnte, wollte ich mir jedoch lieber nicht.
Vorm Eingang des Hauptgebäudes hatten sich schon Kollegen vom NDR, ZDF und RTL mit ihren Kameras und andere von der Braunschweiger Zeitung oder der Hannoverschen Allgemeinen positioniert, dass ich auf die Gästeliste gerutscht war, konnte kaum mehr als ein glücklicher Zufall sein. „Und für wen sind Sie hier?“, fragte mich die nette Security-Dame. „Ich schreibe für den Kirchenkreis Harzer Land“, antwortete ich wahrheitsgemäß und werde wohl nie die irritierten Blicke der anderen Journalisten vergessen.
„Philipp?“, fragte ich nur irritiert. Dass er jetzt Pressesprecher im Innenministerium war, wusste ich nicht, vor ein paar Jahren, damals in Osnabrück, war er jedenfalls noch einer der jüngsten meiner Dozenten an der Uni gewesen. Somit gab es für die Kollegen der großen Medien die zweite Überraschung als ich nämlich nicht nur so dreist war, um ein paar exklusive Fotos des Ministers mit unseren ehrenamtlichen Helferinnen zu bitten, sondern auch noch als Antwort bekam: „Na okay, ich sehe mal, was ich für dich machen kann.“
Fortsetzung folgt...
Boris Pistorius wird neuer Verteidigungsminister. Das las ich heute als erste Schlagzeile und weiß ehrlich gesagt noch nicht, ob ich mich darüber freuen soll. Pistorius war von 2006 bis 2013 Osnabrücker Oberbürgermeister, anschließend dann Innenminister von Niedersachsen. Er machte in der Vergangenheit durch zum Teil markige Worte zum Thema Islamismus, Abschiebung von Gefährdern und zur Asyl- und Flüchtlingspolitik sowie zu Rechtsextremismus und -populismus auf sich aufmerksam.
Fakt ist für mich, dass seine Vorgängerin Christine Lambrecht sich nun wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert hat und wenn sie bei ihrem Abtreten dann auch noch den Medien die Schuld geben will, dem Amt offenbar schlicht nicht gewachsen war. Da Pistorius soweit ich das beurteilen kann innerhalb seiner Partei, der SPD, eine gute Reputation hat, ist sein Schritt auf die politische Bundesebene keine allzu große Überraschung.
Nun lebte ich noch in Osnabrück als Pistorius dort noch Bürgermeister war. Soweit ich das beurteilen kann, hat er keinen schlechten Job gemacht, ganz im Gegenteil. Das gilt ebenso für seine Arbeit als niedersächsischer Innenminister. Er hatte eine klare Linie, deutliche Positionen, hat sich hier insbesondere immer wieder für bessere Bedingungen für die Polizei und die Rettungskräfte stark gemacht.
Als Lokaljournalist habe ich natürlich immer nur einen eingeschränkten Blickwinkel, aber insbesondere als er im vergangenen Jahr bei der hiesigen Feuerwehr zu Gast war, hatte ich den Eindruck, dass sein Ansehen dort ganz gut ist und vor allem diskutierte er sehr offen mit den Leuten und konnte auch zuhören, was bei Politikern ja nun mal eine eher seltene Eigenschaft ist.
„Seit ich im Amt bin, ist vieles nicht leichter geworden“, sagte Pistorius, seitdem gab es immer wieder politische und zivile Herausforderungen wie die Integration von Flüchtlingen in unsere Gesellschaft, die Flut im Ahrtal oder einen Angriffskrieg auf europäischem Boden. All das betrifft nicht nur die „große Politik“, sondern auch viele Einsatzkräfte und Ehrenamtliche vor Ort. Durch Putins Krieg und nicht zuletzt den Klimawandel werden die Herausforderungen nicht geringer, schloss er und betonte, dass wir auf Katastrophen welcher Art auch immer vorbereitet sein sollten, weshalb er auch die Investitionen in die Bundeswehr für absolut richtig hält. „Wir haben in den letzten dreißig Jahren verlernt, mit Gefahren zu leben“, sagte er, jetzt scheint eine andere Zeit angebrochen zu sein.
Ob er wirklich etwas von Außenpolitik, von der Bundeswehr, vom Job als Verteidigungsminister versteht, weiß ich schlicht nicht. Allerdings brauchen wir in Zeiten eines andauernden und vermutlich noch lange andauernden Krieges in der Ukraine in diesem Amt jemanden, der überlegt ist, und der auch etwas davon versteht oder zumindest einen weiten Blick auf diesen Konflikt und alles, was damit zusammenhängt hat.
Da ich grundsätzlich das Gefühl habe, dass unsere Regierung vor allem mit sich selbst zu tun hat, mit dem Zusammenspiel der Koalitionspartner, mit der geschlechtergerechten Besetzung von Posten, damit, überhaupt eine klare Linie zu finden, hoffe ich einfach, dass Boris Pistorius mit Blick auf die Sache und nicht auf die Personalkonstellation berufen wurde. Immerhin verliere ich als Niedersachse einen guten Innenminister und es wäre schade, wenn ich dafür einen schlechten Verteidigungsminister bekäme.
Wisst ihr, was das erste Youtubevideo war? Es hieß „Me at the zoo“ und zeigte einen jungen Mann vor dem Elefantengehege im San Diego Zoo. Cool sei, dass die Elefanten so einen langen Rüssel haben, sagte er, dann war es nach 19 Sekunden auch schon wieder vorbei. Um die Elefanten und ihre Rüssel soll es hier aber nicht gehen, sondern um den Videoersteller, der niemand anders war als Jawed Karim, Mitgründer der heute millionenfach genutzten Website.
Was überraschen mag: Jawed Karim ist Deutscher. Er wurde 1979 in Merseburg geboren, sein Vater Naimul stammt aus Bangladesh und arbeitete hier als Chemiker, seine Mutter Christine kommt ganz aus meiner Nähe, aus Wernigerode, ist heute Assistenz-Professorin in Minnesota. Ihren Mann lernte sie während des Studiums kennen.
Die Familie reiste 1982 aus der DDR aus, weil sie sich dort nicht mehr willkommen fühlte. „Wir passten nicht ins Bild“, sagte Christine Karim vor einigen Jahren der Zeit in einem Interview, „„Die Leute sagen mir jetzt immer, was für ein Glück, dass ihr raus durftet. Ich wäre aber eigentlich gern geblieben, das war ja meine Heimat.“ Doch auch Westdeutschland sollte nicht für immer ihre Heimat bleiben.
Der Grund für das Auswandern in die USA waren zum einen ein Jobangebot für Naimul Karim, zum anderen die ausländerfeindliche Stimmung in Deutschland und ganz konkret die fremdenfeindlichen Übergriffe in Hoyerswerda, Rostock und Mölln. So kam Jawed 1992 in die USA, studierte Informatik und gründete mit mit 26 Jahren gemeinsam mit Chad Hurley und Steve Chen Youtube. Ein Jahr später wurde die Videoplattform an Google verkauft, Jawed erhielt laut Wikipedia für seine Anteile 64 Millionen US-Dollar, mit denen er kurz darauf ein Unternehmen gründete, das Studenten finanziell unterstützt, ihr eigenes Start-Up aufzubauen.
All das hätte mit einigen veränderten Vorzeichen also auch in Deutschland stattfinden können und wer weiß, vielleicht würde Jawed Karim dann heute Frank Thelen den Rang als bekanntester Investor Deutschlands und Internet-Wirtschaftsexperte streitig machen. Wäre ja nicht das Schlechteste. Doch die Geschichte lief eben anders. „Das war 1992 eine schlimme Situation in Deutschland“, sagte Christine Karim im zitierten Interview. Ganz anders in Minnesota: „Die Leute interessierten sich für uns. Wir waren jetzt Einwanderer und wollten ein Teil dieser Gesellschaft werden.“
Besonders dieser letzte Satz sagt doch unglaublich viel aus. Zum einen wollte die Familie Teil der Gesellschaft werden, in die sie ausgewandert waren. Das ist genau jener Punkt, den viele Konservative und Rechte den Zuwanderern und Geflüchteten hierzulande immer wieder absprechen. Zum anderen sagt Christine Karim aber auch, dass die Leute dort sich für sie interessierten. Wohlgemerkt damals, im Amerika vor Bush Junior und Trump.
Der Journalist, Kolumnist und Diplom-Theologe Stephan Anpalagan griff die Geschichte Jawed Karims jetzt auf Twitter im Zusammenhang mit den Diskussionen um die Silvesternacht auf. „Dass Deutschland für Spitzenforscher, Fachkräfte und Experten so unattraktiv ist, hat 0,0% mit „Bürokratie“ oder mit „hohen Steuern“ zu tun, wie Friedrich Merz suggeriert. Es hat zum einen damit zu tun, dass englischsprachige Expats in Deutschland keine Perspektive haben“, schreibt er, „Zum anderen lesen Fachkräfte aus dem Ausland all diese Diskussionen um „Migrationshintergrund“, „gescheiterte Integration“, „Sozialtourismus“ und ähnlichem mit.“
All das schrecke viele ausländische Fachkräfte ab, jede Querdenker-Demo, jeder Neonazi-Anschlag, aber auch die politischen und medialen Diskussionen, in denen sich auf der einen Seite „fest verankerter Rassismus in der Mitte der Gesellschaft“ offenbare. Deutschland könne, so mutmaßt Anapalagan, seit Jahrzehnten die technologische Vorherrschaft in weiten Teilen der Industrie innehaben und eine Sogwirkung für Software-Entwickler haben, wenn denn der Rassismus nicht wäre. Klingt für mich plausibel.
Bei aller Diskussion um integrationsunwillige Jugendliche in der zweiten und dritten Generation ist dies eben die andere Seite. Es kann selbstverständlich darüber diskutiert werden, ob unsere Migrationspolitik richtig ist, ein einseitiges Migrantenproblem, wie es populistisch häufig und gerade jetzt wieder dargestellt wird, haben wir allerdings nicht, wohl aber ein Fachkräfteproblem und - da müssen wir eben dfen sprichwörtlichen Elefanten im Raum nun doch noch ansprechen - auch ein Rassismusproblem.
Zum Glück erlebe ich in meinem Job als Journalist immer wieder Momente, die mir zeigen, dass nicht alles schlecht ist, dass auch Nachrichten nicht immer negativ sein müssen. Genau diese positiven Themen suche ich mir gezielt raus und hoffe, dass ich mit solcher Berichterstattung auch einige Leser positiv beeinflussen kann. Konstruktiven Journalismus nennt man das im Fachjargon.
Vor einigen Wochen wandte sich der Mountainbiker und Youtuber NoHandMTB an mich, weil er gerne einen Text haben wollte, mit dem er an klassische Medien und auch an mögliche Sponsoren herantreten kann. Wir machten ein Interview, das wir an mehrere Bike-Magazine schickten, offenbar hat es doch Wirkung gezeigt. Zumindest hat er jetzt mit einem Sponsor eine besondere Aktion für Obdachlose umsetzen können. Über die möchte ich euch berichten, weil ich es wirklich stark finde, Reichweite im Netz auf eine solche Weise zu nutzen:
Reichweite im Internet nutzen, um Gutes zu tun. Einige große Youtuber wie LeFloid oder Gronkh tun das mit Spendenstreams wie Loot für die Welt bzw. Friendly Fire, die viele tausend Zuschauer erreichen. Solche Events kann Niko alias NoHandMTB noch nicht auf die Beine stellen. Trotzdem möchte er seine Bekanntheit und insbesondere das Sponsoring durch größere Firmen nutzen, um auch denjenigen Gutes zu tun, die von vielen vergessen werden.
Niko betreibt seinen Youtubekanal NoHandMTB seit etwa zwei Jahren und hat inzwischen mehr als 100.000 Abonnenten. Denen zeigt er Tricks mit dem Bike, mal lustige, mal bekloppte Challenges in Berlin und alles, was sich eben auf zwei Rädern so anstellen lässt. In letzter Zeit werden immer mehr Unternehmen auf ihn aufmerksam, unterstützen ihn beispielsweise mit E-Bikes, die er in seinen Videos testet.
Als der Hersteller Fiido mit ihm Kontakt aufnahm, schlug Niko den Marketing Managern passsend zur Weihnachtszeit eine Spendenaktion für Obdachlose vor. Etwas Ähnliches hatte er auf eigene Kosten schon einmal gemacht, jetzt wurde er dabei unterstützt, insgesamt 500 Euro in warme Kleidung, Decken, Desinfektionsmittel, Zahnpflegeprodukte und einiges mehr zu investieren und die Überraschungspakete mit Hilfe von zwei Freunden an Obdachlose zu verteilen.
Dabei war es dann nicht nur der eigentliche Materialwert, sondern auch die Geste, die Zuwendung, das Gespräch. So vertraute einer der Beschenkten den Jungs an, dies sei sein erstes Weihnachtsgeschenk seit 20 Jahren, denn so lange lebe er schon auf der Straße. Wenn Menschen, die so am Rande der Gesellschaft leben, plötzlich anfangen, aus ihrem Leben zu erzählen, dann sind das Begegnungen, die sich wohl nicht planen lassen, und für junge Influencer ist es die Erfahrung, wie privilegiert sie sind und diese Position nutzen können.
„Neben spaßigen und unterhaltsamen Themen finde ich es wichtig, dass man als Person des öffentlichen Lebens seine Vorbildfunktion wahrnimmt und seine Zuschauer positiv beeinflusst“, sagt Niko. In dieser sieht er sich so oder so, da die sozialen Medien seiner Meinung nach einen Einfluss auf Jugendliche haben wie nie zuvor. „Manchmal würde ich mir wünschen, dass Spendenaktion und gute Taten zum Trend werden würden“, zieht er Bilanz jener Aktion, die vielleicht die Welt nicht rettet, aber da hilft, wo Hilfe benötigt wird.
Er hofft, dass seine Aktion, die er natürlich auch im Video festgehalten hat, viele Nachahmer findet und meint damit sowohl Content Creator als auch Unternehmen, die solche Ideen finanziell möglich machen. So utopisch ist sein Wunsch ja gar nicht, denn bei den eingangs genannten Spendenstreams kommen inzwischen Millionen zusammen und die Initiatoren ziehen von Jahr zu Jahr größere Firmen mit ins Boot. Insofern darf man gespannt sein, wie sich Nikos Idee noch weiterentwickelt.
Nikos Video gibt es hier:
Nikos Kanal findet ihr hier: https://www.youtube.com/@NoHandMTB
Nur kurz nach dieser Geschichte schrieb ich eine andere, doch ziemlich ähnliche. Diesmal allerdings für die Kirche:
Über gemeinsame Freunde lernten Sina und Rebekka sich damals kennen. Die Freundschaft wurde enger, seit zehn Jahren sind sie nun ein Paar. Ihre Liebe war stark, doch sie wollten auch eine Familie, sprich ein eigenes Kind. Außerdem gab es das eigene Haus, ein weiteres Kind und seit kurzem sind die beiden auch verheiratet.
„So ganz klassisch ist es bei uns ja nicht“, sagen sie lächelnd, „die Reihenfolge ist irgendwie verkehrt herum.“ Hat aber vielleicht auch damit zu tun, dass insbesondere das Kinderkriegen für sie mit mehr Hürden verbunden ist als bei anderen Paaren. Vor allem eben bürokratisch.
Als der Kinderwunsch zwischen beiden ausgesprochen war, entschieden sie schnell, dass Rebekka ihr Kind bekommen sollte und informierten sich über die medizinischen wie rechtlichen und logistischen Möglichkeiten. Bald war ihnen klar, dass sie dafür nach Dänemark gehen wollten, weil dort alles etwas einfacher war als hier. Erst als Rebekka dann wirklich schwanger war, erzählten sie es im Familien- und Freundeskreis, wo die Reaktionen überrascht, aber positiv waren, wie sie heute lächelnd berichten.
Ihr Sohn Lennart wurde geboren, lernte schnell, dass er eben zwei Mütter und andere Kinder Mutter und Vater haben. „Rebekka ist Mama und ich bin Mami“, erzählt Sina. Soweit also alles kein Problem. Wichtig war ihnen, dass der Spender für ihre Tochter Liva der gleiche war wie bei Lennart, damit die Kinder blutsverwandt sind. Auch das kein Problem, vom Stress, Beruf und Kinder unter einen Hut zu bekommen, mal abgesehen.
Doch damit fingen die Probleme im Grunde auch an. Sina hatte nämlich nicht automatisch Rechte an ihren Kindern und um überhaupt das Verfahren für die Adoption einleiten zu können, mussten sie verheiratet sein. Zwar wurden sie in ihrem Umfeld – Sina ist in der Uniklinik in Göttingen und Rebekka Heimleitung im Landhaus am Rotenberg in Pöhlde – unterstützt, doch auf dem Papier hinkt die Gleichberechtigung dem Wunsch noch hinterher.
„Gleiche Rechte gibt es nicht“, sagen beide kühl und erzählen dann von Besuchen des Jugendamtes, das häufig zu ihnen kam, um nach dem Rechten zu sehen und ihnen somit ein Gefühl von Misstrauen vermittelte. Um rechtlich besser dazustehen, muss Sina ihre Kinder adoptieren, doch das kann sie erst, wenn beide verheiratet sind.
Natürlich war das nicht der einzige Grund, warum die beiden sich an Pastorin Alexandra Heimann wandten, um auch diesen bedeutenden gemeinsamen Schritt zu gehen. Sie wollten auf jeden Fall kirchlich heiraten, das ist ihnen durchaus wichtig, genau wie die Taufen für die Kinder. Zu ihrer Überraschung war diesmal alles ganz unproblematisch. „Für mich war es eine Hochzeit wie jede andere“, sagt Alexandra Heimann ganz selbstverständlich.
Rebekka und Sina erinnern sich jedenfalls gerne an diesen großen Tag ihrer Liebe. Beide im weißen Kleid, alles sehr festlich und dennoch locker und authentisch, so beschreiben sie die Trauung. „Es war einfach schön, Alexandra hat das toll gemacht“, sagt Sina und Rebekka fügt hinzu: „Die Kirche ist da offenbar weiter als viele andere, dort wurden wir ganz normal behandelt.“
Schon vor der Veröffentlichung machte ich mich auf Reaktionen auf diesen Text gefasst, unsere Superindententin übrigens auch.
Fortsetzung folgt...
In den letzten Wochen hab ich ziemlich viele Texte über homosexuelle Paare geschrieben. Hat sich eben so ergeben. Ein Influencer-Paar als Tiotelstory für den Eseltreiber, für die Kirche über die erste Trauung zweier Frauen in unserem Kirchenkreis, über eine schwule "Promihochzeit". Eigentlich ganz normale Texte über ganz normale Leute. Dennoch war ich von einigen Fakten, die ich bei der Recherche zu hören bekommen habe, und auch von manchen Reaktionen überrascht. Doch erst einmal möchte ich euch die Texte präsentieren, den ersten über Luke und Ferhat, die als "Justanormalcouple" in social media bekannt sind:
Luke und Ferhat sind ein Paar. Ein ganz normales Paar. Als „Justanormalcouple“ sind sie auf Instagram, TikTok und Youtube präsent und haben dort tausende Follower. Dabei tun sie eigentlich gar nichts anderes als ihren Alltag zu dokumentieren, einen Alltag als schwules Paar, der für viele offenbar doch nicht so normal ist, wie wir uns das für unsere Gesellschaft wünschen.
In ihren Videos thematisieren sie genau das. Zum einen ihre Ehe und unterschiedliche gemeinsame Erlebnisse, zum anderen die Skepsis von außen, dass eine homosexuelle Beziehung ja ohnehin nicht lange halten könne bis hin zu klaren Anfeindungen. Vorwürfe kämen von Leuten, die nichts mit gleichgeschlechtlichen Paaren zu tun haben, aber nicht nur. „Leider kommt sowas aus beiden Ecken, ich glaub sogar aus der Szene sogar noch ein Stück mehr“, sagt Luke.
In den Kommentaren werde die Meinung von manchen Menschen sehr deutlich, sagen sie, was sie anfangs wirklich schockierte. „Anfangs dachten wir noch: Warum sind die denn so gemein“, erzählen sie, „doch jetzt sitzen wir meist mit 'ner Tüte Chips auf dem Sofa und lesen es uns in aller Ruhe durch.“
Schön, wenn sie mit Hasskommentaren so entspannt umgehen können, doch das macht die Sache an sich nicht besser. Immerhin wurden es sogar Morddrohungen formuliert, erzählt Ferhat, oft heiße es „wir wissen, wo du wohnst“ oder etwas in der Art, was diese Leute damit bezwecken wollen, wissen sie nicht. Statt ihren genauen Wohnort in den Videos kenntlich zu machen, sagen sie inzwischen nur noch, dass sie im Harz leben, ein bisschen Vorsicht schwingt eben doch immer mit, weil man ja nie wissen kann, wer die Kommentarschreiber sind und welche Absichten sie haben.
Positive Reaktionen gab es zum Glück aber auch von Anfang an, also jene, die es mutig finden, dass beide ihre Liebe in einer Öffentlichkeit im Netz dokumentieren. Meist sind auch das fremde Menschen, die sie auf den Plattformen entdecken und ihnen dann folgen. „Unsere Freunde und Bekannten sind eher so die Stillen“, sagt Luke. „Genau, die fragen zwar mal, wie es läuft, wenn wir uns sehen“, ergänzt Ferhat, „aber die richtig positiven Reaktionen bekommen wir von sozusagen 'Harcorefans'.“
Das sind jene, die ihren Alltag in den Videos in kleinsten Schritten mitverfolgen, die viele Fragen stellen und darauf natürlich antworten bekommen, die die beiden Jungs aus dem Internet also sozusagen in ihren eigenen Alltag mitnehmen. „Es wird immer schwieriger, aber wir beantworten jede ernstgemeinte Nachricht“, sagen beide, denn schließlich wollen sie ihren Zuschauer*innen ja etwas mitgeben, ihnen vielleicht auch in gewisser Weise ein Vorbild sein.
Allein der Name „Justanormalcouple“ hat ja schon eine Message, genau die wollen sie auch verbreiten, dass es eben völlig normal ist, wenn zwei Männer sich lieben, sie eben ein normales Paar sind und so auch wahrgenommen werden wollen, genau wie sie auch anderen wünschen, dass es ihnen so geht. „Luke kam auf den Titel“, räumt Ferhat ein, „er ist da echt der Kreativere.“
Als beide sich kennenlernten, hatten sie zunächst kein Interesse aneinander, berichten sie weiter, später änderte sich das dann zum Glück doch, es entwickelte sich zuerst eine Freundschaft. Als dann eigentlich geplant war, dass Luke von Göttingen nach Köln zieht, lief auf einmal alles in andere Bahnen, beide merkten, wie wichtig ihm der andere war, aus Freundschaft war Liebe geworden.
Sechs Jahre ist das nun her, Ferhats Familie war anfangs ziemlich geschockt, denn er war zu diesem Zeitpunkt ungeoutet und für seine Eltern war es eine völlig neue Welt. „Meine Eltern sind hier geboren und so deutsch wie ich“, erläutert er, „aber es hat trotzdem seine Zeit gebraucht.“ Bis heute gebe es immer mal wieder Punkte, in denen es zu Reibereien kommt, doch er ist überzeugt, den richtigen Weg gegangen zu sein bzw. zu gehen.
„Es ist was anderes als sie für ihren Sohn erwartet haben, aber wir sind ja trotzdem normal“, bekräftigt Luke. Stimmt ja auch, denn sogar Enkelkinder könnten irgendwann kommen. „Wir wollen auf jeden Fall Kinder“, schneidet Ferhat das Thema an. Luke hat den Wunsch ebenfalls. Vielleicht nicht sofort, aber irgendwann soll es so sein.
Sie sind sich dessen bewusst, dass es deutlich schwerer als bei Heteropaaren ist, ein Kind zu adoptieren. „Wenn du ein Kind adoptierst, kommt das Jugendamt und stellt dir deine Bude auf den Kopf, bei uns wird eben dreimal so gründlich geguckt“, sagt Ferhat. Es gebe viele, die sich von diesen bürokratischen Hürden abschrecken ließen, weiß er, auch in den Ämtern gebe es viel Homophobie.
„Das ist noch viel Arbeit“, bedauert Luke. Auch das sei ein Grund, warum sie mit social media angefangen haben, sagen sie, um solche Dinge Menschen näherzubringen, um auf einiges aufmerksam zu machen, was in unserer modernen Gesellschaft eben doch noch nicht zufriedenstellend läuft. „Viele sagen: sprecht doch nicht so viel darüber, dann stört es auch keinen“, sagt Ferhat, „Nein, genau das Gegenteil ist der Fall. Je häufiger ein homophober Mensch einem homosexuellen Paar begegnet, desto mehr wird es normal für ihn.“
Fortsetzung folgt...
„Deutschlands großem Afrikaner“ lautet die Inschrift auf dem Wissmann-Denkmal im Bad Lauterberger Kurpark. Seit Jahrzehnten gibt es Widerstand gegen diese Darstellung Hermann von Wissmans als bedeutendem Forscher der Kolonialzeit. Insbesondere der Verein Spurensuche Harzregion setzt sich in jüngster Zeit für eine ehrliche Auseinandersetzung ein und veröffentlichte jetzt eine Broschüre in Unterstützung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Fabiana Kutsche, Dr. Stefan Cramer, Dr. Friedhart Knolle, Brigitte Maniatis und Martin Struck trugen biografische Daten, Dokumente zur Einordnung des eins geehrten Offiziers und auch eine Chronologie des Widerstandes gegen das Denkmal wie auch gegen die nach Wissmann benannte Straße zusammen. „Er gilt als Afrika-Forscher, aber er ist gewiss kein Afrika-Forscher“, sagt Dr. Friedhart Knolle sehr deutlich.
Wissmann zeichnete sich durch große Brutalität in seiner Zeit als Kolonialbeamter in den deutschen Kolonien Ostafrikas aus, wurde Ehrenmajor und in den preußischen Adelsstand versetzt, doch noch zu Lebzeiten fallen gelassen. Zu seiner Zeit ließ er Aufständler nach der Zwangskolonialisierung erhängen, so dass eine mindestens fünfstellige Zahl von Toten auf sein Konto gehe, so Knolle.
Dr. Stefan Cramer, der selbst viele Jahre in der Entwicklungshilfe und für politische Stiftungen in Afrika und anderen Erdteilen tätig war, zeichnet kein positiveres Bild des Geehrten. „In der deutschen Psyche hat sich die Kolonialzeit nie tief eingegraben“, sagt er. Wie auch in der Geschichte anderer Staaten sei Afrika ein „Tatort“ der Ausbeutung und des Mordes.
Wissmann wurde zwar als Afrikaforscher geehrt, habe aber nie wissenschaftlich publiziert, sondern lediglich subjektive Berichte verfasst. Stattdessen bereitete er die militärische Unterwerfung vor, sei jedoch auch kein großer Militär gewesen, sondern definitiv ein Kriegsverbrecher, der von vielen schon zu Lebzeiten als Söldnerführer bezeichnet worden war.
Anders als in späteren Darstellungen sei er auch kein Aktivist gegen Sklaverei gewesen, was seine Kooperationen mit arabischen Sklavenhändlern beweisen. Sein Engagement gegen die Sklaverei sei lediglich ein vorgeschobenes Argument zur Bewilligung öffentlicher Gelder gewesen, tatsächlich befreite er die Sklaven nicht, sondern ließ sie schlicht umbringen.
Einzig zugute zu halten sei ihm sein Einsatz für die Natur und die Wildtiere, denn er richtete erste Wildreservate ein, wodurch er den Ursprung heutiger Nationalparks schuf. Dies jedoch ging bei ihm, so Cramer, auf Kosten der Einheimischen, so dass sein Fazit nach der gemeinsamen Arbeit mit Fabiana Kutsche, die gebürtige Osteroderin und jetzt Doktorandin an der Universität Köln ist, sehr eindeutig ausfällt.
Bei der Präsentation der Broschüre in der KGS Bad Lauterberg ergänzte Brigitte Maniatis die zusammengetragenen Fakten mit einigen Passagen aus dem Roman „Nachleben“ des Literaturnobelpreisträgers Abdulrazak Gurnah, der die Lebensumstände ostafrikanischer Sklaven zur Zeit der deutschen Kolonialherrschaft aus Sicht eines kleinen Jungen schildert. Von Aufständen, die grausam niedergeschlagen werden, ist dort die Rede, von abgeschnittenen Köpfen und am Straßenrand am Galgen hängenden Leichen. All das erscheint so viel plausibler als die Jahrzehntelang geltende Erinnerungskultur, die mit dem Denkmal dokumentiert wird.
Vor einigen Tagen wurde ich auf eine Veranstaltung bei uns in der Innenstadt aufmerksam gemacht. Eine Kundgebung gegen Rechts, eine Putzaktion der sogenannten Stolpersteine, die an die Juden in der Stadt und ihre Ermordung durch die Nazis erinnern. Eigentlich, so wurde mir erzählt, war eine Demo der Querdenker geplant, doch man sei ihnen mit der Anmeldung für die Kundgebung zuvorgekommen. Allein das gefiel mir. Natürlich wollte ich auch darüber berichten, also hier jetzt mein unkommentierter Pressetext:
Am Mittwochvormittag zogen die „Omas gegen Rechts“ gemeinsam mit Schülern verschiedener Schulen los, um in der Osteroder Innenstadt die Stolpersteine zu reinigen. Im Gedenken an die Pogrome in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurden die Kurzbiografien jener Jüd*innen verlesen, die in den Häusern wohnten, vor denen die 14 Stolpersteine heute an ihr Schicksal erinnern.
Den Omas geht es vor allem darum, dass die Enkelgeneration nicht vergisst, zu welchen Grausamkeiten die Nazis damals fähig waren, dass sie Menschen jüdischen Glaubens und mit jüdischen Vorfahren sowie andere politische Gegner systematisch ermordeten. Die gemeinsame Putzaktion ist ihr deutliches Zeichen, dass sich solch geschürter Hass nicht wiederholen darf und auch, dass die breite Masse dabei nicht tatenlos zusehen darf.
Am, Abend gab es dann eine Kundgebung auf dem Kornmarkt. Für das Fernsehen wurden die Steine noch einmal geputzt, vor allem aber begrüßte Martin Struck im Namen des Aktionsbündnisses für Solidarität und Demokratie viele Organisationen und Menschen, die dafür eintreten, dass rechte Kräfte keine Deutungshoheit über die Geschichte erlangen, den Holocaust verharmlosen oder auch heute wieder Hass auf bestimmte Gruppen schüren.
Etwa 120 Bürger*innen hatten sich auf dem Kornmarkt eingefunden, noch einmal wurden von den Omas gegen Rechts die Biografien der einst in Osterode lebenden Jüd*innen vorgelesen, es folgten Reden von Michael Lühmann, Landtagsabgeordneter der Grünen, Sebastian Bornmann, stellvertretender Landrat, Bürgermeister Jens Augat, Sven Ludwig, DGB, Ursel Bremer, Omas gegen Rechts, sowie Moritz Dicty von Bunt statt Braun.
Inhaltlich gingen alle in die gleiche Richtung. Heute müssen wir wachsamer sein als damals, dürfen nicht zusehen, wenn an den Pfeilern der Demokratie gesägt wird. Unsere pluralistische freie Gesellschaft ist ein hohes Gut, für das wir eintreten müssen, gegen jede Hetze, gegen menschenverachtende Ideologien und gegen eine Verharmlosung der Nazi-Vergangenheit.
Ursprünglich sollte zur gleichen Zeit und am gleichen Ort eine sogenannte Querdenker- oder Selbstdenkerveranstaltung stattfinden. Die Anhänger verbreiten Fake News, untergraben die Demokratie, so Martin Struck, beispielsweise angestachelt von einer Ärztin aus Duderstadt. Gemeint ist Carola Javid-Kistel, die als Impfgegnerin in vorderster Front stand und gegen die schließlich seitens der Staatsanwaltschaft ermittelt wurde, so dass sie vor der Polizei flüchtete.
Diesen Menschen dürfe man nicht das Feld überlassen, so Martin Struck, und müsse gleichzeitig die Ahnungslosen Mitläufer aufklären. Jeder, der einen abgewandelten Judenstern mit der Aufschrift „ungeimpft“ trage, verharmlose den Holocaust. „Die Juden konnten den Stern nicht einfach abnehmen, die Entfernung stand unter drakonischen Strafen.“
Soweit also mein Bericht über die Aktion. In den sozialen Netzwerken, allem voran Facebook gab es von der Gegenseite natürlich die entsprechenden Kommentare, zum Teil hasserfüllt, zum Teil angepisst, auf jeden Fall voller ideologischem Mist und Fake News, was ich hier gar nicht wiedergeben möchte. Unterm Strich war es für mich ein Zeichen dafür, dass die demokratische Mehrheit in unserer Gesellschaft nicht schweigen darf, sondern aktiv werden muss. Ja, wie sagte Esther Bejarano: "Erinnern heißt handeln."
Manchmal möchte ich sogar glauben, dass es gar keine Kriege geben würde, wenn wir in der Welt keine Machtstrukturen hätten. Dann könnten alle Menschen friedlich nebeneinander leben und jeder wäre nur darauf bedacht, dass ihm keiner allzu sehr auf den Sack geht und dementsprechend auch er keinem allzu sehr auf den Sack geht. Allerdings sollten uns schon erbitterte Nachbarschaftsstreitigkeiten um über den Zaun wachsende Bäume etc. eines Besseren belehren. Wir sind wohl ebenso dazu geboren, mit anderen um unser Recht zu streiten wie so viel Macht wie möglich zu erlangen.
Gerade der Punkt mit dem Streiten ist mir in den letzten Jahren immer wieder deutlich bewusst geworden. Es fing damit an, dass damals viele um die Aufnahme von Flüchtlingen stritten, meiner Meinung nach deutlich erbitterter als je zuvor und auch immer weniger darum bemüht, Kompromisse zu finden.
Diejenigen, die damals noch vereinzelt gewettert haben, Deutschland dürfe nicht zu viele Geflüchtete aufnehmen und die Ausländer seien schuld an unserem Niedergang, haben sich meiner Meinung nach in den Jahren seit 2015 immer mehr ideologisiert, organisiert und dann radikalisiert. Unsere Gesellschaft hat sich deutlich gespalten, sowohl im Persönlichen wie auch in Politik und Medien.
Rechte Parolen wurden salonfähig, es kamen Verschwörungstheorien vom großen Bevölkerungsaustausch bis hin zu Q-Anon hinzu und die jeweiligen Lager rückten immer mehr zusammen und dabei voneinander weg. Inzwischen gibt es genug Menschen, mit denen ich nicht mehr politisch oder gesellschaftlich diskutieren möchte, da ich alle Argumente ja bereits kenne und das Gefühl habe, dass Gespräche kaum mehr möglich sind.
In den Medien haben sich sogenannte Schwurbelkanäle tatsächlich etabliert, Fake News werden von einigen geradezu bis aufs Blut verteidigt, es scheint zum einen jenes Weltbild zu geben, das auf Wissenschaft basiert und unsere Welt so anerkennt, wie sie eben ist, zum anderen eines, dass einer wie auch immer definierten guten alten Zeit hinterhertrauert, alles infrage stellt, was nicht ins Bild passt und alles anzweifelt bis hin zur Kugelerde. Gut, es gibt noch Abstufungen, bei der flachen Erde und Chemtrails oder Echsenmenschen geht nicht jeder mit, aber grundsätzlich kommt mir unsere Gesellschaft inzwischen zweigeteilt vor.
Genau das fühlt sich eben anders an als 2015. Als Putin in die Ukraine einmarschierte, zeigten sich viele sofort solidarisch, es gab wie eingangs beschrieben dieses wunderbare Gefühl der Solidarität angesichts eines skrupellosen Kriegsverbrechers. Von einigen anderen kam jedoch in den ersten Tagen gar nichts oder nur Rumgeeier. Anschließend wurde Verständnis für Putin bekundet, während sie sich gegen die NATO und unsere Bundesregierung stellten. Und dann kamen immer mehr Fake News.
Den Anfang machten die bekannten politischen Akteure, ebenso die üblichen Schwurbler auf Twitter, Youtube und vermutlich Telegram. Es ist erstmal das übliche „Dagegen um jeden Preis“, wie auf Knopfdruck das Gegenteil der Mehrheitsmeinung, egal, wie unfassbar absurd das auch sein mag. So bezeichnete Bodo Schiffmann Putins Angriffskrieg als „Selbstverteidigung“ und übernimmt damit wie einige andere dessen Propaganda, dass die Ukraine der eigentliche Aggressor sei.
„Ist er schon so tief darin, dass er den Schwachsinn, den er redet, selber glaubt?“, fragt sich Sinan in seiner Youtube-Show „Sinans Woche“ (https://youtu.be/f-eAaeaHXNU) und stellt damit jene Frage, die auch ich mir bei vielen Querdenker-Vordenker so häufig stelle. In besagtem Video zeigt Sinan übrigens auch noch zahlreiche andere Statements von eben jenen, bei denen ich erwartet habe, dass sie alle einer Meinung und natürlich weit entfernt von der Mehrheitsmeinung sind, und bei denen ich immer wieder das Gefühl habe, dass sie das in erster Linie tun, weil sie damit ihrer empörten Anhängerschaft Futter bieten wollen.
Das hat es so 2015 meiner Meinung nach noch nicht gegeben oder, um es mit einer Kriegsmetapher auszudrücken, damals waren die Fronten innerhalb unserer Gesellschaft noch nicht so verhärtet. Inzwischen ist offenbar nichts mehr zu absurd als dass es nicht jemanden gibt, der im im Brustton der Überzeugung behauptet, ganz egal, ob nun der Krieg insgesamt als Fake der Eliten dargestellt wird oder aber zwischen den guten ukrainischen (weil arischen?) und den bösen arabischen und afrikanischen (weil nicht arischen?) Flüchtlingen unterschieden wird.
Als wenn der Krieg als solches nicht schon schlimm genug wäre, bringen mich solche Statements oder auch bewussten Provokationen, bringt mich solch offener Fremdenhass und Antiislamismus wirklich zum Kotzen. Da trauere ich beinahe selbst schon der guten alten Zeit hinterher, jener Zeit als wir uns 2015 noch über rassistische Äußerungen empört haben, statt wie heute schulterzuckend zu denken: Na, guck doch, von wem es kommt, war ja nicht anders zu erwarten.
Krieg macht sprachlos, macht fassungslos. Aus meinem Blickwinkel betrachtet. Die Nachrichten der letzten Tage machen mich wütend, ängstlich und unsagbar traurig. In der Ukraine macht der Krieg aber noch viel mehr, er nimmt Menschen die Heimat, Kindern die Zukunft, er tötet. Das ist für mich, der ich in einer Zeit des sicheren Friedens in Europa aufgewachsen bin, ebenso grauenhaft wie unbegreiflich.
Allerdings lassen die Bilder, die wir derzeit in den Tagesthemen und im heute journal sehen mich an den Beginn des Krieges damals in Syrien denken. Daran, wie hilflos ich mich damals fühlte und doch unbedingt etwas tun wollte. Nicht, um mein Gewissen zu beruhigen, nein, weil die Menschen mir leid taten und ich mich in gewisser Weise schämte, durch puren Zufall in einem Land des nahezu unbegrenzten Wohlstands zu leben.
Somit denke ich auch oft an die Zeit als D. und F. mit ihren Kindern vor nun inzwischen sechs Jahren hierher kamen und wir sie unterstützten, in diesem fremden Land Fuß zu fassen und es zumindest ein Stück weit zu verstehen. Ehrlich gesagt glaube ich ja, dass uns das ganz gut gelungen ist (das zeigt nicht zuletzt, wie selten ich momentan noch etwas hier für den Blog schreibe).
Inzwischen kommen wieder Menschen zu uns, Menschen, die vor dem Krieg fliehen, die alles verloren haben, denen erst einmal jede Perspektive fehlt und die auf unsere Hilfe angewiesen sind. Wieder einmal bewundere ich jeden, der Friedensgebete organisiert, Geld spendet oder gar mit einem voll bepackten Fahrzeug an die Grenze fährt. Sowas nötigt mir Respekt ab, insbesondere diejenigen Menschen, die gleich von Anfang an zupacken und ohne jeden Zweifel handeln.
Diese Hilfsbereitschaft vieler hat mich schon damals überrascht und irgendwie glücklich gemacht, weil sie meinen Glauben in die Menschheit wieder hergestellt hat. Diese Erkenntnis, dass wir in der Not eben doch alle zusammenrücken und plötzlich nicht Unterschiede, sondern Gemeinsamkeiten und individuelle Bedürfnisse zählen. Zugegeben, wir gehörten damals nicht zu den ersten, die sich um eine Flüchtlingsfamilie gekümmert haben, doch immerhin zu denen, die das sehr lange und sehr intensiv taten und ja bis heute tun. D. und seine Familie danken es uns noch heute, wir sind zu engen Freunden geworden und inzwischen weiß ich, wenn ich mal Hilfe brauch, sie wären sofort bedingungslos für mich da.
Das ist ein schönes Gefühl und auch genau das Gefühl, was bei einigen politischen Bekundungen, bei vielen Aktionen und für mich ganz besonders bei den Friedensgebeten, die mir persönlich wirklich viel Kraft geben, genau wie damals aufkommt. Ein Gefühl der Nächstenliebe unter den Menschen, ein Gefühl, dass wir uns gegenseitig Halt und Hoffnung geben können.
Doch irgendetwas ist anders als damals. Ehrlich gesagt habe ich lange gebraucht, um mir klar zu werden, warum ich das so empfinde. Es ist zum einen die Angst, die viel größer ist. Weil der Krieg diesmal viel näher ist, weil es politisch gesehen die ganze Welt betrifft und ja, weil ich Putin inzwischen alles zutraue. Vor allem, seitdem in der Ukraine sogar Atomkraftwerke beschossen werden.
Früher waren die USA immer der größte Kriegstreiber der Welt für mich. Meine erste Demo war damals die gegen den ersten Irak-Krieg unter George Bush Senior. Es folgte irgendwann der Irak-Krieg von George W. Bush, von dem ich damals dachte, er sei der schlimmste vorstellbare Präsident und könne aus purer Gedankenlosigkeit die Welt in Schutt und Asche legen. Damals wurde ich beinahe Fan von Gerhard Schröder wegen seinem klaren Nein zu den Einsätzen. Ja, es ist schon erstaunlich, wie Menschen und Überzeugungen sich in ein paar Jahrzehnten ändern können.
Auch in der Zeit des arabischen Frühlings und den Eingriffen der USA in so vielen Staaten war ich von deren Außenpolitik und insbesondere der Arroganz als Weltpolizei absolut angewidert. Besonders schließlich im Vergleich mit Donald Trump war Wladimir Putin für mich immer noch die bessere Alternative.
Heute muss ich diese Meinung revidieren und gelange zu der Ansicht, dass zu viel Macht oder eine zu lange Zeit an der Macht wohl in jedem Menschen das Schlimmste zutage fördert und ihn definitiv größenwahnsinnig macht. Krieg ist ja nun mal immer nur ein Krieg der Mächtigen und nie, wirklich nie der Krieg eines Volkes gegen ein anderes.
Fortsetzung folgt...
Also gut, jetzt muss ich ein bisschen weiter ausholen. Tatsächlich gab es eine Folge, die ich wirklich gut fand, zumindest größtenteils. Darin ging es um einen jungen Mann, der bei der Polizei auftauchte, um jemanden des Mordes anzuklagen. Jener Mörder nämlich, so erklärte er Derrick, sei kurz nach dem Krieg gemeinsam mit seinem Großonkel über die Zonengrenze geflohen, so jedenfalls war es geplant. Doch der Großonkel, seines Zeichens Juwelier, habe Diamanten für einen Neustart im Westen bei sich gehabt und als er seinem Begleiter davon erzählte, brachte dieser ihn um und wurde dank des Startkapitals schließlich selbst zum erfolgreichen Geschäftsmann.
Jetzt etliche Jahre später wollte der junge Mann Rache und bat Derrick, den Fall aufzuklären, da Mord ja nach den neuesten Gesetzen nicht mehr verjähre. Der hat da ganz offensichtlich nicht so richtig Bock drauf, sieht stattdessen den Ankläger – übrigens gespielt von Mathieu Carrière – äußerst kritisch. In einem Dialog erklärt Carrière dann, dass doch jemand die Verantwortung übernehmen müsse, jemand den ganzen Mist in der Welt aufräumen müsse. Derrick antwortet, es sei nicht Aufgabe der Polizei, aufzuräumen, sondern für Ordnung zu sorgen.
Und eben diese Ordnung störte der absolut unsympathische und penetrant auftretende Linke nun mal. In der Folge setzte Carrière dem inzwischen gealterten Geschäftsmann ordentlich zu, so sehr, dass der sich am Ende das Leben nahm, aber in einem Abschiedsbrief erläuterte, er habe den Großonkel nicht umgebracht, das sei jemand anderes gewesen, er habe sich nur die Diamanten unter den Nagel gerissen. In der letzten Szene warf Derrick dem Neffen dann vor, nun habe er sich jedoch schuldig am Tod eines Menschen gemacht.
Harter Tobak. Grundsätzlich Stoff für spannende gesellschaftliche Diskussionen, auch heute noch. Gut, in den späten 70ern oder frühen 80ern waren die meisten wohl der Ansicht, es sei besser, die dunkle Vergangenheit ruhen zu lassen und die bequeme Ordnung nicht zu stören. Heute sind wir vermutlich eher der Auffassung, dass solche Taten aufgeklärt werden müssen. Darüber lässt sich sicher streiten.
Gestritten wurde natürlich auch in den Kommentaren. Darüber, ob Mathieu Carrière extrem unsympathisch ist, oder es nur spielt, vor allem aber darüber, ob die Polizei in einer solchen Situation hätte ermitteln müssen. Viele sahen die Schuld beim Neffen, der den alten Mann nötigte, nach heutiger Rechtslage wohl zum Stalker wurde, ihn also in den Selbstmord trieb. Einige wenige verteidigten seine Absichten und wurden dafür von anderen angefeindet.
Ein Kommentar deutete die Folge als moralische Parabel, die besagt, man solle niemanden vorverurteilen. „Tja und doch geschieht es täglich in immer höherem Maßstab“, antwortete jemand anderes darauf, „Ich sage nur, die AfD als Nazis zu beschimpfen, alle, die nicht an den Klimawandel glauben, zu diffamieren, und auch aktuell alle Nicht-Maskenträger an den Pranger zu stellen.“ Uff... that escalated quickly.
Noch härter war allerdings die Antwort auf einen Kommentar, der anmerkte, dass die Haltung Derricks heute, nachdem bekannt ist, dass Darsteller Horst Tappert wie auch Drehbuchautor Herbert Reinecker im Zweiten Weltkrieg Soldaten der Waffen-SS gewesen sind, vielleicht mit anderen Augen gesehen werden könne. Wörtlich sprach der Kommentierende von Tapperts „Jugendsünden“. Allein bei diesem Begriff musste ich schlucken, wenn auch aus anderen Gründen als jemand, der zu diesem Kommentar eine Antwort verfasste. „Jugendsünden? War doch keine Sünde. Darauf kann und sollte er stolz sein. Oder hat die Propaganda und Umerziehung so gut funktioniert bei Ihnen?“
Wow, das ist wirklich krass. Klar, kann auch ein Troll sein, doch nach allem, was ich so in den Kommentaren meiner guilty pleasure-Serie gelesen habe, könnte es genauso gut auch ernst gemeint sein. Oder ist es sogar der Grund dafür, dass einige diese Serie heute derart in den Himmel loben? Dieses ganze „Früher war alles besser“ ist vielleicht gar nicht nur verklärte Nostalgie. In Verbindung mit der auffallend harsch geäußerten Kritik an der links-grün-versifften Regierung und den heutigen links-grün-versifften Medien stell ich mir als links-grün-versiffter Journalist inzwischen die Frage, ob Horst Tappert dank seiner „Jugendsünden“ für einige Ewiggestrige nicht sowas wie ein Held ist, den sie verehren und in seiner Kommissarsrolle deshalb so feiern.
Dann wäre Derrick sowas wie der Attila oder der Xavier für Nostalgiker oder wie? Und vielleicht ist es ja gar kein Zufall, dass einige der auffälligsten Kommentierenden auch auf etlichen anderen Kanälen zu finden sind, die für meinen Geschmack guilty, aber definitiv kein pleasure sind. Also ich glaub, ich such mir doch lieber ein anderes Trash-Format oder guck einfach wieder bei so Systemlingen wie Gronkh oder LeFloid rein. Oder bei den ganzen Dashcam-Kanälen, die übrigens auch auf seltsame Weise süchtig machen können... doch das ist ein anderes Thema.
In letzter Zeit habe ich ein neues „guilty pleasure“ entdeckt. Nein, nicht Fortnite zocken, die Bild lesen oder das Dschungelcamp gucken, sondern Derrick. Alte Folgen aus den 70ern bis 90ern auf Youtube. „Harry, fahr schon mal den Wagen vor“, ihr wisst schon.
Der Satz soll ja angeblich nie gefallen sein, dafür aber hab ich eine Folge gesehen, in der Derrick in seiner Wohnung mit einem Informanten redet und dabei Harry ganz selbstverständlich und lapidar bitter: „Mach uns doch mal einen Kaffee.“ Wann habt ihr zuletzt in eurer Wohnung einen Kollegen von euch gebeten, einem Gast von euch einen Kaffee zu machen?
Okay, einige von euch ahnen vielleicht bereits, warum es mein guilty pleasure ist. Der Begriff bedeutet ja, dass man an etwas Gefallen findet, obwohl man erkennt, dass es – nun ja – vielleicht nicht die höchste Qualität hat. Trash TV eben oder in die Jahre gekommene und schlecht gealterte Krimiserien.
Nun war Derrick damals ja eine angesehene und überaus erfolgreiche Serie. Das beweisen vor allem die Kommentare unter den Videos. „So schön, diesen oder jene noch mal zu sehen, das waren noch echte Schauspieler“ oder „Damals kamen die Krimis noch ohne Geballer und Gewalt aus, sowas gibt es heute gar nicht mehr“ oder „Die sprechen alle so deutlich, nicht das Genuschel von heute“. Gut, wer nur Til Schweiger-Filme guckt, der muss sich nichts wundern, dass er nix versteht. Und ja, die Besetzung der Serie war schon hochkarätig, gar keine Frage.
Aber diese Drehbücher! Und diese Dialoge! Okay, eines nach dem anderen und zuerst ein Beispiel: Erst vor ein paar Tagen hab ich eine Folge gesehen, in der Derricks Nachbar bei ihm klingelt, ein Oberstudienrat, der den Kommissar bittet, doch die Hefte aus seiner Wohnung zu holen, die er dort auf dem Schreibtisch hat liegen lassen. Derrick ist mäßig irritiert, klingelt an der Wohnungstür des Nachbarn und stellt fest, dass die Frau des Lehrers ihren Liebhaber zu Besuch hat. Darum traut sich der Ehemann auch nicht rein.
Okay, skurril, aber nun denn. Dann jedoch ist der Lehrer in seiner Klasse, ich vermute mal eine Oberstufenklasse und klagt seinen Schülern sein Leid. Die trösten ihn, regen sich über seine Frau auf, so sehr, dass sie ihn später in seiner Wohnung besuchen und auf ihn einreden, er dürfe sich das nicht gefallen lassen. Naja und dann nimmt die Geschichte ihren Lauf, der Liebhaber wird tot aufgefunden, Derrick ermittelt gegen die Schüler, stellt am Ende fest, dass der Lehrer durch deren Zuspruch endlich den Mut fand, den Widersacher aus dem Weg zu räumen.
Ganz im Ernst: Wer schreibt sowas?!? Vor allem aber dient die völlig an den Haaren herbeigezogene Geschichte eben meist nur als Trägermaterial für die pseudointellektuellen moraltriefenden Dialoge, die die Fans der Serie wohl damals wie heute als große Schauspielkunst ausgelegt haben. Immer und immer wieder geht es um die Verrohung in der Welt, eigentlich immer mit dem Unterton, dass ja früher alles besser war, das alles verpackt in wohlklingende Phrasen, die Derrick und Harry nach Möglichkeit auch noch mehrmals wiederholen, damit sie auch der letzte Zuschauer mitbekommt und sich den großen Fragen des Lebens stellen kann, wie beispielsweise der, ob jemand als Täter geboren wird oder die Umstände ihn dazu machen.
Eine wirkliche Antwort gibt es selten, dazu trieft jede einzelne Folge vor entsetzlicher Langeweile, das sind meist die Momente, wo ich dann nebenbei zu den Kommentaren runterscrolle. Die sind jedenfalls alles andere als langweilig, denn hier wird meist wie gesagt in den höchsten Tönen geschwärmt. Ab und zu gibt es auch einige negative oder zumindest kritische Anmerkungen, die dann jedoch sofort von mehreren Fans wortreich gekontert werden.
Zum Beispiel hab ich einen Kommentar gelesen, in dem jemand anmerkte, dass damals ja offenbar in jeder Folge Alkohol getrunken und geraucht wurde, vor allem in Stresssituationen. Ja, fällt mir auch immer wieder auf, ist sicher bei Derrick kein Einzelfall, auf jeden Fall bin ich froh, dass sich die Produktionen dahingehend verändert haben. Nicht so die Fans der Serie. Als Antwort stand nämlich wortwörtlich darunter: „Wenigstens das hat die linksgrüne Verbotsmafia noch nicht verboten“.
Ups, wo kommt denn plötzlich der politische Einschlag her? Alles andere als ein Einzelfall. In einer anderen Folge wurde angemerkt, dass eine weibliche Figur ja ziemlich nervig sei und dazu vielleicht auch ein bisschen dumm, wenn sie nicht ahne, was um sie herum passiert oder so, also der Fall war jedenfalls ziemlich durchschaubar. Die Antwort aus dem Nichts darauf: Na und, so nervig und dumm wie Claudia Roth sei sie noch lange nicht, die sei viel schlimmer. What???
Fortsetzung folgt...
Am zweiten Tag liefen wir tatsächlich fast die gesamte Halbinsel Manhattans ab. Vom Crysler Building bis zur Upper East Side und zurück bis zum Trump Tower – über dessen Bauherrn lasse ich mich hier jetzt nicht aus, dessen schlimmste Zeiten haben wir inzwischen ja zum Glück hinter uns.
Nur wo du zu Fuß warst, bist du wirklich gewesen, soll ja Goethe gesagt haben und auch, wenn er das moderne New York nicht kannte, konnten wir ihn darin nun wirklich bestätigen. Vom Empire State Building, nun wieder das höchste Gebäude der Stadt, hatten wir einen tollen Blick, in den Straßen unten sahen wir viel Alltägliches und da wir wegen der drückenden Hitze in den Häuserschluchten viel Durst, aber wenig Geld hatten, kamen wir in den Läden in kleinen Seitenstraßen auch ab und zu mit ganz normalen New Yorkern ins Gespräch.
Die Offenheit und das Interesse an unserer Herkunft – „are you from Sweden“ machte uns besonders stolz – und unseren weiteren Urlaubsplänen festigte mehr und mehr einen positiven Eindruck der Menschen hier, der so gar nicht zu dem sich abschottenden und rachsüchtigen Bild passte, das die Vereinigten Staaten mehr und mehr charakterisierte.
An Tag drei stand dann der Besuch der Freiheitsstatue und von Ground Zero an. Erstere enttäuschte mich, vor allem, weil schon die Überfahrt mit dem Boot eine rein touristische und damit überteuerte Angelegenheit war, für die nur der Blick auf die Skyline entschädigte. Nie vergessen werde ich allerdings das Gefühl, das ich am Rande dieser mehrere Stockwerke bis zu den U-Bahn-Strecken hinabgehenden Baustelle unvorstellbaren Ausmaßes hatte, wo vor wenigen Monaten ein bis heute nicht fassbarer Terroranschlag eines der Wahrzeichen der Stadt in Schutt und Asche gelegt hatte.
„Einige Straßenecken weiter entdeckten wir das Schaufenster eines Klamottenladens, in dem noch alle Kleidungsstücke so dalagen wie unmittelbar nach dem Anschlag, voller Dreck und Schutt hinter einer zerbrochenen Scheibe, vor die einfach eine zweite gesetzt worden war, um diesen Schockmoment zu konservieren“, beschrieb ich ein weiteres Bild, das mir bis heute lebhaft vor Augen ist. Den Rückweg traten wir per Subway an, verzogen uns am Nachmittag in den Central Park und waren noch über Stunden auffallend schweigsam.
Auf unserer weiteren Reise nach Los Angeles und San Francisco lernten wir immer wieder ausgesprochen freundliche und weltoffene Amerikaner kennen, während uns übertriebene Vorsicht und Misstrauen nur an den Flughäfen auffiel. Gerade rückblickend bleibt der Eindruck, dass die vielzitierte Spaltung der Gesellschaft in den USA damals ihren Anfang nahm. Allerdings ging das beängstigend konservative Denken, das heute bei vielen in den USA herrscht, nicht von der breiten Masse der Bevölkerung aus, sondern ist meiner Meinung nach zu einem großen Teil politisch genährter Hass.
Den New Yorkern schien nach dem 11. September vor allem ein „Wir lassen uns nicht unterkriegen“ und die sprichwörtliche Freiheit im Land der unbegrenzten Möglichkeiten wichtig. Alles, was sich an Kriegen und Sehnsucht nach alter Stärke in den vergangenen zwanzig Jahren daraus entwickelt hat, könnte somit in erster Linie das Werk einiger weniger sein, die in einer Zeit der Unsicherheit Angst schürten, um ihren Einfluss und ihre Macht zu stärken.
An dieser Stelle möchte ich den Text eigentlich beenden, denn sonst kann ich es mir nicht verkneifen, mich über die Parallelen hierzulande auszulassen. Hier glaube ich ja auch, dass der Schock von 9/11 sowie etliche andere Ereignisse genutzt wurden, um Angst und Hass zu säen, um Rassismus wieder salonfähig zu machen und neue Feindbilder zu kreieren.
Nach wie vor halte ich die Mehrheit der Menschen, egal wo auf der Welt, für vernünftig, friedlich und eigentlich liebenswert. Doch ebenso nun mal auch manipulierbar, von Regierungen, von Medien und gerade in den letzten Jahren eben auch mehr und mehr von Einzelnen mit einem gewissen Einfluss, die eine ganz persönliche Agenda verfolgen. Die hatten es wohl noch nie so leicht wie heute und ich glaube auch, man sah noch nie so deutlich, welchen Schaden sie anrichten können.
Darum lasst uns doch Ereignisse wie den furchtbaren Terroranschlag auf das World Trade Center als das nehmen, was sie sind, nämlich eine verabscheuungswürdige Tat einer kleinen Gruppe von Menschen. Aber es muss kein Indiz für eine große Weltverschwörung sein und auch keine Rechtfertigung für unbegründetes Misstrauen jedem Andersdenkenden gegenüber, für von tiefen Gräben durchzogene Gesellschaften und letztlich für sinnlose Kriege.
Die meisten Menschen waren an diesem 11. September vor zwanzig Jahren ebenso entsetzt und sprachlos wie du und ich. Damit haben wir doch schon mal eine große Gemeinsamkeit, oder nicht?
Wisst ihr noch, wo ihr am 11. September 2001 wart? Jener Tag vor genau zwanzig Jahren als zwei entführte Flugzeuge in die Türme des World Trade Centers in New York krachten und sie später zum Einsturz brachten.
Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich - damals studierte ich noch und wohnte noch nicht im Harz - in den Semesterferien meine Freundin Ari für ein paar Tage besuchte. An diesem Vormittag hatte sie irgendetwas zu erledigen und ich bummelte durch die Goslarer Innenstadt. Irgendwann lief ich auch durch Karstadt und wunderte mich in der Technikabteilung, warum so viele Leute vor den Fernsehern standen. Es lief irgendein Actionfilm, dachte ich, einer mit einem Flugzeug und einer unfassbar surrealen Explosion im World Trade Center.
Den Einschlag der zweiten von Terroristen entführten Maschine sah ich dann mit Ari zusammen bei ihren Eltern, doch es wirkte immer noch so unfassbar wie bei Karstadt mit lauter fremden und ebenso sprachlosen Menschen zwischen Nokia 3310-Handys und Werbung für Silent Hill 2. Es dauerte lange bis ich wirklich begriff, was da gerade passierte, doch mir war klar, dass es ein Ereignis war, was unsere Welt veränderte.
Mit den Kreuzzügen gegen den Terrorismus wie die USA sie in den folgenden Jahren praktizierten, hatte ich so natürlich nicht gerechnet. Auch nicht mit den Verschwörungstheorien, die bei vielen Menschen offenbar das Vertrauen in jede Regierung untergraben haben und sich offenbar bis heute zeigen. Naja und ich konnte auch nicht ahnen, dass Nokia und die Grafik von Silent Hill mir eines Tages mal so veraltet vorkommen würden, eben weil die Welt seit damals sich rasanter verändert hat als jemals zuvor.
Doch das ist ein anderes Thema. Heute möchte ich mit euch zwanzig Jahre zurückreisen, das heißt eigentlich nur neunzehn Jahre. 2002 nämlich war ich zusammen mit meinem Bruder drei Wochen lang in den USA, wir haben einen Road-Trip an der Westküste entlang gemacht und hatten zuvor ein paar Tage einen Zwischenstop in New York eingelegt.
„Ground Zero ist ein unglaublich großer Krater inmitten von Wolkenkratzern und einer belebten Stadt, bei dessen Anblick ich mir nicht vorstellen kann, dass hier noch vor einem Jahr das höchste Gebäude von New York City gestanden haben soll“, schrieb ich damals in mein Reisetagebuch, bei dem ich heute froh bin, dass ich die Disziplin aufbrachte, jeden Abend wenigstens einen kurzen Abriss des jeweiligen Tages zu schreiben. Doch lasst mich anders anfangen...
Unser Amerika-Trip war lange geplant und sollte eigentlich in Kalifornien starten. Drei volle Wochen mit dem Mietwagen einfach dorthin, wohin es uns spontan zieht. Mein Bruder suchte die Wurzeln des Hip Hop und ich den Duft der weiten Welt, der mir im kleinen Osnabrück fehlte. Relativ kurzfristig entschieden wir uns dann doch, die Reise in New York beginnen zu lassen und letztlich war es diese Stadt, die uns am meisten beeindruckte, mich in ihrer Vielfalt faszinierte und uns schon auch irgendwie einen kleinen Einblick in die Seele der größten Wirtschaftsmacht der Welt gewährte.
Unser erster Blick auf die Metropole bot sich vom Flugzeug aus, unter dem sich irgendwann das Häusermeer ausbreitete, allerdings erst einmal nicht mit der bekannten Skyline, sondern in schier endlos erscheinenden Vorortsiedlungen. In die eigentliche Großstadt tauchten wir mit dem Taxi ein, das uns zu einem erstaunlich günstigen Hostel in unmittelbarer Nähe des Times Squares brachte, das wir auch damals schon übers Internet gebucht hatten. Zu Fuß machten wir uns dann daran, die Umgebung zu erkunden, der Mietwagen kam erst später ins Spiel.
„Überall um uns herum Wolkenkratzer, Neonreklamen, alles ist groß, bombastisch, typisch amerikanisch. Wir haben das Gefühl, in einer völlig eigenständigen Welt aus Fassaden, Werbung und Konsum zu sein, fühlen uns geradezu erschlagen von der Metropole“, schrieb ich am Abend. Times Square, Broadway und 42. Street lagen auf unserer Route, später dann auch der Central Park, nunmehr eine grüne Welt inmitten der Stadt. „Wir könnten hier Wochen verbringen und würden diese Stadt nicht einmal ansatzweise verstehen“, fasste ich später zusammen.
Einige Eindrücke setzten sich in drei Tagen, die wir dort waren, aber doch fest. Zum einen war da die an jeder Ecke spürbare Internationalität, die dem patriotischen Bild von Uncle Sam völlig konträr gegenüberstand. Dazu an vielen Leuchtreklamen und in zahlreichen Schaufenstern Slogans und Auslagen, die auf den 11. September im Jahr zuvor Bezug nahmen. John Lennons „Imagine all the people living life in peace“ war immer wieder zu lesen, dazwischen natürlich auch auffallend viele US-Flaggen als Zeichen des ungebrochenen Stolzes.
Fortsetzung folgt...
Wenn es regnet, dann droht garantiert eine „Jahrhundertflut“. Scheint die Sonne, gibt es ganz sicher irgendwo „Rekordtemperaturen“. Übertreibungen und Superlative gehören für die Medien zum Alltagsgeschäft, ohne sie geht es gar nicht mehr. Das gilt leider auch und insbesondere während einer globalen Pandemie, in der die Menschen eh schon verunsichert sind. Sollte also nicht wenigstens in solchen Zeiten Sachlichkeit herrschen, um keine Panik zu schüren und seltsame verschwörerische Auswüchse zu vermeiden?
Nun ja, dazu müssen wir erst einmal festhalten, dass es „die Medien“ ja gar nicht gibt. Es gibt einzelne Unternehmen, und egal, ob das der Eseltreiber, der Spiegel oder Fox News ist, sie alle sind darauf angewiesen, mit ihren Schlagzeilen Leser bzw. Zuschauer zu erreichen, ihre Nachrichten also zu verkaufen. Dass das schnell mit journalistischen und auch ethischen Grundsätzen kollidiert, zeigt uns ein großes Boulevardblatt seit Jahrzehnten geradezu BILDerbuchmäßig.
Die „Brandkatastrophe“ bringt nun einmal mehr ein als der kleine Zimmerbrand, den die Osteroder Feuerwehr zum Glück schnell unter Kontrolle bekam. Dementsprechend ist nun mal ein Killervirus spannender als die korrekte, aber eben auch komplexe Erläuterung eines Christian Drosten. Und natürlich macht es viel mehr Spaß, sich über „Covidioten lustig zu machen als sich mit wissenschaftlichen Papieren anerkannter Virologen auseinanderzusetzen.
Nun ja, das scheint sich auch unsere Politik zu denken und agiert bzw. kommuniziert in den vergangenen Monaten recht häufig auf dem Niveau eines RTL2-Nachmittagsformates. Doch um die Fehler der Politik soll es hier ja nicht gehen, sondern um die Berichterstattung darüber.
Es ist völlig klar, dass die nicht immer akademisch sein kann und bei einem solch komplexen Thema wie einem noch weitgehend unerforschten Virus und Folgen, die selbst Experten nur unzureichend abschätzen können, nicht immer richtig liegt oder wirklich alle Aspekte berücksichtigen kann. Ein Mindestmaß an Genauigkeit, an Wissenschaftskommunikation, an Unaufgeregtheit, erwarte ich allerdings ehrlich gesagt schon.
Immerhin haben wir es bei Corona und allem, was daraus folgt, mit einer Situation zu tun, die es so zuvor während unserer Lebensspanne noch nie gab. Das entschuldigt manchen Fehler, sollte aber auch der Grund für umso mehr Vorsicht und Fingerspitzengefühl sein. Ist es aber leider nicht. Weder in der Berichterstattung über das Virus an sich, noch wenn es um den Umgang und die Maßnahmen geht. Der CDU-Politiker und ehemalige Bundestagsabgeordnete Ruprecht Polenz schrieb kürzlich auf Twitter: „Vor zehn Monaten 'Pandemieweltmeister', jetzt 'Staatsversagen'. Muss es in Deutschland immer gleich der Superlativ sein – im Guten wie im Schlechten? Himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt. Gibt es auch was dazwischen?“
Ja, Herr Polenz, gibt es. Bloß verkauft sich das medial eben nicht so gut. Unter Journalisten hat sich leider herumgesprochen, dass reißerische Texte und insbesondere Headlines nun einmal die größte Aufmerksamkeit erzeugen, was ja leider auch den Tatsachen entspricht. Und Aufmerksamkeit ist nun einmal die Währung dieser Branche.
Eine Lösung wäre es sicher, unser gesamtes System so zu verändern, dass es für (Medien-)Unternehmen nicht mehr nur um Gewinn geht, doch diese Option gehört vermutlich spätestens seit dem Zusammenbruch des Kommunismus ins Reich der Märchen. Hier geht es ja aber um Nachrichten und Fakten. Ach nein, auch nicht. Hier geht es um Auflagen, Einschaltquoten und Klickzahlen.
Also müsste es vielleicht um Fakten gehen. Um Glaubwürdigkeit. Es müsste darum gehen, dass Journalisten sich ihrer Berufsehre entsinnen, Verantwortung übernehmen für das, was sie schreiben, ihren Lesern gut recherchierte Geschichten liefern und damit langjähriges Vertrauen aufbauen. Dazu wiederum gehört in einer gewinnorientierten Gesellschaft dann jedoch eine Menge Idealismus und den muss man sich leisten können.
Aber ist das wirklich so? Sicher, wir Journalisten wissen, dass eine reißerische Headline dafür sorgt, dass viele Menschen darauf aufmerksam werden. Was sich allerdings noch nicht so herumgesprochen hat, ist die Tatsache, dass es dennoch auch um langfristige Bindungen geht. Leser, Hörer, Zuschauer, wer auch immer weiß Informationen einzuordnen, lernt mit der Zeit, welche Quellen seriös und glaubhaft sind und welche bestenfalls der Belustigung dienen.
Zugegeben, das erfordert ein Mindestmaß an Medienkompetenz und vielleicht auch an Intellekt. Daher appelliere ich auch immer an alle da draußen, angesichts populistischer Parolen, Fake News und Verschwörungstheorien nicht alles zu vergessen, was sie in der Schule mal gelernt haben. Denken kann nützlich sein und Bildung ist es in jedem Fall.
Allerdings frage ich mich noch mehr, welche Leser wir Journalisten denn eigentlich ansprechen wollen. Diejenigen, die sich über jeden Skandal ereifern, die uns eigentlich nur brauchen, um Futter für ihre eigenen Stammtischparolen zu sammeln oder diejenigen, die wirklich informiert werden wollen? Vielleicht ist es ja zu idealistisch, zu naiv von mir, dennoch habe ich beim Eseltreiber immer den Anspruch an mich selbst, unterhaltsame Geschichten, neue Blickwinkel und zumindest einigermaßen vernünftig recherchierte Fakten zu liefern. Auf Jahrhundertfluten, Rekordtemperaturen und den Untergang des christlichen Abendlandes habe ich persönlich keinen Bock.
Dieser Text erschien Anfang Mai im Eseltreiber.
Wenn er sowas sagt, macht mich das meist recht demütig und ich werde mir mal wieder bewusst, welch unfassbares Glück ich habe, ausgerechnet in diesem Teil der Welt geboren worden zu sein. Dazu habe ich nichts beigetragen, ich hatte einfach richtig Schwein, in einer Zeit und an einem Ort aufzuwachsen, wo ich bisher noch keinen Krieg, keinen Hunger und auch sonst keine lebensbedrohlichen Katastrophen miterleben musste.
Das ist ganz sicher nicht mein Verdienst, nichts, worauf ich stolz sein könnte, kein natürliches Privileg meiner Abstammung oder sonst etwas. Es ist purer Zufall oder eben die Gnade Gottes oder was auch immer andere glauben mögen, auf jeden Fall ein Glück, um das mich bestimmt die Mehrheit der Weltbevölkerung beneidet. Also sollte ich dankbar sein, bin es eigentlich auch, doch auch, wenn ich mir das bewusst mache, mein Unbehagen räumt es nicht aus.
Vielmehr schäme ich mich manchmal, wenn ich D. wieder mal erklären muss, dass die deutsche Bürokratie eben sehr genau ist und vieles schlicht nicht möglich ist oder aber quälend lange dauert, weil das in unserem System nun mal so unflexibel gehandhabt wird. Vor allem schäme ich mich, wenn er wie neulich auf Facebook einen Post teilt, mit dem er ausdrücken will, wie großartig er seine neue Heimat findet, und ich ihm erklären muss, dass das leider genau von jenen Leuten kommt, die ihn am liebsten loswerden wollen.
Ja, es ist tatsächlich so passiert. Im Internet sah ich, dass er ein Bild mit Deutschlandflagge, sprichwörtlichen blühenden Landschaften und einem passenden Slogan geteilt hatte. Als ich mich später mit ihm in der Stadt traf, sprach ich ihn drauf an, wies ihn auf das Parteilogo hin, das eben auch in die blühenden Landschaften eingefügt war, und musste ihm erläutern, dass eben diese Menschen glauben, Deutschland sei nur dann so großartig, wenn Menschen wie er nicht hineingelassen werden.
In solchen Momenten schäme ich mich für mein Land und für einige Menschen hier, die dieses große Glück, in Frieden und Reichtum zu leben, offenbar für ihren eigenen Verdienst oder mindestens für ein irgendwie gerechtfertigtes Privileg halten. Ja, es mag jetzt weinerlich klingen, aber in letzter Zeit raubt mir sowas viel Kraft, vor allem, wenn ich dann noch sehe, was manche Leute auf Youtube oder sonstwo rausposaunen oder mit welchen Parolen einige auf die Straße gehen.
Die Flüchtlinge sind unser Untergang, der Klimawandel ist eine Lüge, Corona ebenso, dies ist ja keine Demokratie mehr, die geheime Weltelite hat uns im Griff, macht uns zu Marionetten und hat längst die Umvolkung in die Wege geleitet. Wenn du das immer und immer wieder hörst, dann zweifelst du am menschlichen Verstand, wirst aber auch irgendwann müde, dagegen zu argumentieren. Aber muss man dem Stuss denn nicht Fakten entgegensetzen? Was passiert, wenn diese Meinungen irgendwann von Mehrheiten geteilt werden? Ist es als Journalist denn nicht genau meine Aufgabe, mich damit auseinanderzusetzen und solche Aussagen immer und immer wieder auf ihre Wahrheit hin zu überprüfen?
Vielleicht, ich weiß es ehrlich gesagt im Moment nicht. Es raubt mir nur schlicht die Kraft, weil ich es inzwischen schlicht nicht mehr hören kann. Zum Glück bin ich ja journalistisch auch für die Kirche zuständig und darf mich mitunter anderen Themen widmen. So jetzt beispielsweise dem Erntedankfest, das in diesem Jahr wie so vieles unter besonderen Bedingungen gefeiert wird.
Auch monatelang über besondere Bedingungen zu schreiben, macht irgendwann müde, doch das ist ein anderes Thema. In diesem Fall geht es um einen Erntedankgottesdienst, über den ich schreiben soll, so dass ich mit frisch desinfizierten Händen und Maske in der Kirchenbank sitze und der Dinge harre, die da kommen.
Es geht um die Frage, ob wir angesichts einer weltweiten Pandemie denn überhaupt dankbar sein können. Eine einfach Antwort gibt es darauf wohl nicht. Doch im Gottesdienst werden von mehreren Leuten mehrere Dinge zusammengetragen, für die sie in diesen Zeiten dankbar sind. So beispielsweise für die Webcam, die es trotz Abstand möglich macht, Gemeinschaft zu erleben. Für den Einkaufskorb, den im Frühjahr viele spontan gegriffen haben, um für andere einzukaufen und der damit zum Symbol gelebter Nächstenliebe in Zeiten wie diesen geworden ist.
Der Kirchenmusiker sagt, er sei dankbar für seine Trompete, denn in den Monaten, in denen Konzerte und andere Veranstaltungen abgesagt werden mussten, hätten viele festgestellt, wie wichtig die Musik und die Kultur allgemein ist. Das sagen ihm jetzt, wo allmählich einiges wieder stattfinden darf auch einige Menschen, was ihn natürlich freut, so erzählt er. Und der Pastor hat sein Fahrrad mitgebracht als Symbol für die Entdeckung der Langsamkeit in diesen Tagen, ein intensiveres Erleben der Natur und vor allem für die Freiheit. Jene Freiheit, die er hat, weil er unterwegs sein kann und keinem strengen Lockdown unterworfen ist, aber auch die Freiheit in diesem Teil der Welt, die es manchen sogar erlaubt, eben diese Freiheit laut auf den Straßen anzuzweifeln.
Es sind nur kleine Beispiele und pointierte Aussagen, doch sie bringen mich zum Nachdenken. Vor allem dann aber die Predigt, die einen Gedanken ausformuliert, den ich so ehrlich gesagt noch nie hatte und bei dem ich mich frage, ob ich nun dankbar oder doch eher desillusioniert sein soll. Es geht um die biblische Speisung der Fünftausend, also jene Geschichte als Jesus und seine Jünger für die Menge an Zuhörern gerade einmal fünf Brote und zwei Fische hat, diese sich aber auf wundersame Weise vermehren.
Damals gab es wenig, es wurde verteilt und reichte am Ende für alle, heute hingegen gibt es Lebensmittel im Überfluss, wir könnten problemlos die ganze Welt davon ernähren, doch es scheitert an der Verteilung.
In letzter Zeit hadere ich oft mit unserem Staat, mit den Medien oder zumindest Teilen davon und letztlich auch mit der Gesellschaft. Während ich früher immer deutlicher Optimist war, davon überzeugt, dass wir Menschen alle tief in uns immer das Gute wollen, zweifle ich daran inzwischen manchmal. Während ich vor einigen Jahren noch fest davon überzeugt war, dass wir unsere Welt in großen Teilen doch immer besser machen, sehe ich inzwischen vor allem das Gegenteil und bekomme zunehmend Angst vor der Zukunft.
Das gilt für unser Land, für Europa und letztlich auch für die ganze Welt, von der ich einmal dachte, sie könnte die Zeit der Kriege irgendwann überwinden, daran jetzt jedoch stark zweifle. Andererseits habe ich mir auch immer gesagt, dass wir selbst für unser Denken verantwortlich sind und somit auch für unser Gefühl, ob das Glas halbvoll oder halbleer ist. Bei mir war es immer der Glaube, der mir Zuversicht gab, und so war es auch neulich wieder. Doch erst einmal muss ich ein bisschen weiter ausholen.
Seit D. und seine Familie nach Deutschland gekommen sind, haben sie sich hier eingelebt, unsere Sprache gelernt und stehen inzwischen finanziell auf eigenen Füßen. Dazu haben Rainer und ich einen nicht eben geringen Teil beigetragen, können wir uns ohne Übertreibung zugestehen. Ganz anders aber sieht es meiner Meinung nach mit unseren Behörden aus.
Sicher, durch diese ehrenamtliche Arbeit habe ich wirklich viele hilfsbereite Menschen kennengelernt. Aber leider auch ebenso viele Mitarbeiter in Behörden oder auf Ämtern, die ziemlich stur waren, keinen Millimeter von ihren Vorschriften abrückten und es uns und vor allem den Geflüchteten, die sich hier etwas Neues aufbauen wollen, nicht eben leichter gemacht. Außerdem habe ich immer mehr den Eindruck gewonnen, dass es sich unsere Regierung mit einem einfachen „Wir schaffen das“ doch allzu einfach gemacht hat und sich anschließend immer wieder geschickt aus der Affäre zog.
Im Mittelmeer ertrinken nach wie vor Menschen, eine klare europäische Flüchtlingspolitik gibt es bis heute nicht, stattdessen wird hilflos zugesehen wie jene, die gegen die Neubürger wettern, immer mehr Zustimmung und Anhänger bekommen. Viele Medien verhalten sich keinen Deut besser, vor allem, weil dort immer nur von „den Flüchtlingen“ als eine anonyme Masse und äußerst selten über einzelne Individuen gesprochen wird. Dabei habe ich in dieser Zeit so viele bemerkenswerte Menschen kennengelernt, die ich für mein eigenes Leben, aber auch für uns alle als Bereicherung empfinde.
Auf diese Menschen bin ich zugegangen, habe mir etliche ihrer Geschichten angehört und dabei vor allem festgestellt, wie unterschiedlich die einzelnen Schicksale doch sind. Auch einige Berichte und Reportagen konnte ich schreiben, doch eben immer nur für eine relativ überschaubare Leserschaft und offenbar auch immer nur für jene, die ohnehin ein eher positives Bild von jenen haben, die da zu uns kommen.
Viele andere erreiche ich mit solchen Geschichten nicht und erreicht offenbar auch sonst niemand mehr. Weder mit persönlichen Erzählungen dieser Menschen, noch mit nüchternen Fakten. Das ist meiner Meinung nach zum einen ein großes Versagen derer, die berichten sollten, zum anderen macht es mich entsetzlich wütend, wie viele Leute auch in meinem persönlichen Umfeld dem populistischen Narrativ vom Fremden als Sündenbock auf den Leim gehen.
Im Grunde kann ich es immer noch nicht fassen, dass in unserer angeblich so aufgeklärten Gesellschaft vieles wieder normal zu werden scheint, was ich auf der Müllkippe der Geisteshaltungen wähnte. Und die Ohnmacht, einer Spaltung der Gesellschaft entgegenzuwirken, lähmt mich manchmal regelrecht und macht mir Angst vor dem, was in den kommenden Jahren denn daraus werden soll.
Kurz gesagt, ich habe noch nie so stark wie jetzt an unserer Gesellschaft, also an ihren Strukturen und auch an den Menschen, gezweifelt. Nun ist es aber ausgerechnet D., mit dem ich häufig über Deutschland oder über die Unterschiede zwischen der arabischen Welt und Europa spreche und der mir immer wieder sehr deutlich sagt, wie sehr er die Freiheit hier schätzt, die Chancengleichheit und die Fürsorge für Schwächere.
Klar, er ist dankbar, dass er als Kurde nicht mehr offen diskriminiert wird und vor allem, dass er für S., A. und M. hier eine Perspektive in Sicherheit und langfristig sogar in Wohlstand sieht. Seiner Meinung nach, so kommt es in Gesprächen jedenfalls oft rüber, macht Deutschland alles richtig, sind alle Menschen hier erstaunlich hilfsbereit und nett und sind meine Kritikpunkte nichts im Vergleich zu den Sorgen, die er sich um seine alte Heimat und seine dort noch lebenden Verwandten und Freunde macht.
Fortsetzung folgt...
Am Wochenende habe ich mir wieder Videos, Bilder und Reportagen von der Demo in Berlin angesehen und auch mit einigen Leuten geschrieben, die dahinterstehen. Zwar musste ich mich als Marionette des Systems und Lügenpresse betiteln lassen, doch ganz ehrlich Leute, ich bin ein bisschen neidisch auf euch.
Ihr geht davon aus, dass die Elite sich ein Virus bzw. eine Pandemie ausgedacht hat, um ihre Weltherrschaft zu festigen und ein neues Zeitalter der Unterdrückung einzuleiten. Allein das ist schon mal ein toller Plot für einen Roman, muss ich zugeben.
Doch es ist ja nicht nur der Plot, es sind auch die Details, die mich als Hobby-Horrorautor vor Neid erblassen lassen. Diese Eliten, so sagt ihr, entführen Kinder, verschleppen sie in dunkle Keller, um dort sowas wie schwarze Messen zu feiern und vor allem, um ihnen Blut abzuzapfen. Dieses Kinderblut brauchen sie, um nicht zu altern, um ewig leben zu können. Schon das für sich genommen, ist brillant. Gut, eine ganz ähnliche Story gibt es schon in einem Horrorroman von John Saul, nur ist es dort eben eine kleine, verschworene vampirähnliche Gemeinschaft und nicht gleich die gesamte Weltelite, die das als geheimes Netzwerk vor den Augen der Bevölkerung verborgen hält.
Besonders cool finde ich auch die Auswahl eurer Helden für die Geschichte. Auf der einen Seite sind dort ein seiernder Sänger und ein veganer Koch, die alles aufdecken, es den Menschen gegen alle Repressionen der Medien und der Staatsmacht mitteilen und immer mehr Anhänger gewinnen. Gut, mir ist noch nicht ganz klar, wieso ausgerechnet diese beiden davon Wind bekommen und das gesamte teuflische Konstrukt durchblicken, während alle anderen sich täuschen lassen. An der Stelle würde ich im Storyboard noch einmal nacharbeiten, glaube ich.
Auf der anderen Seite habt ihr einen Präsidenten, der als Underdog an die Macht kommt und sozusagen von innen heraus mit dem ganzen verlogenen und dreckigen Pack aufräumt. Auch hier muss ich ja sagen, dass ich an der Ausgestaltung des Charakters noch ein wenig feilen würde, damit er als glaubwürdige Identitätsfigur und eben nicht eher satirisch daherkommt, doch nun gut, vielleicht ist das ja auch gewollt.
Ein Erzählstrang hat mir besonders gefallen, nämlich der, in dem eben jener Präsident selbst der anonyme Whistleblower sein soll, der die Geheimnisse der Eliten an die Öffentlichkeit trägt. Das ist ja schon nicht mehr nur Horror, sondern Stoff für einen großartigen Thriller. Aber gerade darum sollte diese Figur meiner Meinung nach kein tumber millionenschwerer Rassist sein, weil das mit der Lesersympathie dann wirklich schwierig werden kann.
Spannend finde ich auch, wie die Handlung sich dann entwickelt, nämlich dass immer mehr Menschen aufwachen, nicht mehr „Schlafschafe“ sein wollen und gegen die Diktatur der Elite protestieren und letztlich sogar Regierungsgebäude stürmen. Das wäre definitiv auch Stoff für einen Hollywood-Blockbuster. Doch auch hier muss ich sagen – ich kann den Kritiker in mir ja leider nicht ganz ausschalten – finde ich es ein wenig unglücklich gewählt, dass es überwiegend Spinner, Frustrierte, Extremisten etc. sind, die dieses ganze perfide System durchschauen.
Sicher, ihr erklärt es damit, dass die Intellektuellen, die seriösen Wissenschaftler und die Presse sowieso alle mit zur Verschwörung gehören, doch, um es vorsichtig auszudrücken, hier sehe ich doch noch einige Logiklöcher im Drehbuch. Ebenso, dass sämtliche Staaten der Welt plötzlich gemeinsam ein Virus erfinden und wirklich keiner ausschert, das ist mir als Erzählung ein wenig zu unausgegoren.
Nun gut, ihr versucht es damit zu erklären, dass all diejenigen in führenden Positionen gekauft sind, dazugehören und letztlich auch viele in der Bevölkerung, die sich gegen die Aufgeweckten stellen, dem System angehören und ganz bewusst die Unwahrheit verbreiten wollen. Sogar Rechte und andere Idioten haben sie eingekauft, um die Demonstrationen zu unterwandern und in ein schlechtes Licht zu rücken, während die Medien alles falsch darstellen und die Erwachten diffamieren wollen.
Sicher, das erzählt wunderbar die Geschichte einiger Underdogs, die sich gegen übermächtige Gegner zur Wehr setzen. Soweit kann ich das auch nachvollziehen. Doch solltet ihr nicht auf ein Happy End hinarbeiten, bei dem die Welt am Ende als befreit dasteht?
Im Moment, und so zeigten es ja auch viele Kommentare und Schilder und so weiter, sieht es ja eher aus als laufe es darauf hinaus, dass alle Schuldigen, also die Elite, die Politiker, die Medien, die Wissenschaftler, die Antifa und andere Aktivisten wie auch diejenigen Normalos, die einfach nicht eurer Meinung sind, am Ende für ihre Täuschung bestraft werden. Was wäre das denn bitte für ein Gemetzel? Und zudem sind dann ja nach dem Finale nur noch sehr wenige übrig.
Sicher, ihr sagt, es seien mehrere Millionen, die auf die Straßen gehen. Nur ist dann an dieser Stelle eure Inszenierung ziemlich misslungen, da man leider sieht, dass ihr nicht genug Statisten auf den Bildern habt. Aber okay, da kann man ja in der Post-Production mit CGI noch etwas machen. Also wenn ihr denn überhaupt au einen Hollywood-Blockbuster hinauswollt. Für de Horrorroman sind es mir wie gesagt zu viele offene Fragen. Am meisten stört mich aber nach wie vor, dass eure Protagonisten nicht unbedingt Sympathieträger sind, mir die Identifikationsfläche fehlt und viele Dialoge leider auch schlicht dumm und unausgereift sind.
Ja, mögt ihr nun sagen, da spricht der pure Neid aus mir. Zum Teil gebe ich es ja auch ganz offen zu. Selbstverständlich hätte ich diesen Roman gerne geschrieben, denn vieles darin ist so herrlich absurd, dass ich selbst nie auf die Idee gekommen wäre. Doch die Punkte, die ich angesprochen habe, hätte ich auf jeden Fall versucht, auszumerzen, da sie mir in der Summe leider wirklich zu realitätsfern erscheinen und mich emotional nicht so richtig packen.
Denkt doch einfach noch einmal über euren Plot nach, schreibt einige Dinge um, recherchiert noch ein wenig und passt das Drehbuch der Wirklichkeit an, dann wird das schon. Ach und bitte, tauscht die Hauptfiguren aus, denn die eignen sich in meinen Augen nach wie vor besser als durchgeknallte Bösewichte, denn als Helden.
Hm... wenn ich es mir recht überlege, dann bleibt am Ende doch keine so gelungene Erzählung übrig. Eher ein ziemlich wildes und an den Haaren herbeigezogenes Szenario, das an allen Ecken und enden bröckelt, wenn man genau hinsieht. Wie wär's, wenn ihr euch doch erstmal an einer kleinen Vampirgeschichte versucht oder zumindest an einer einigermaßen überschaubaren Verschwörung? Die Mondlandung war Fake, Reptiloiden sind unter uns, Bielefeld gibt es gar nicht. Sowas in der Art. Wenn das gut gemacht ist, dann ist es doch auch ganz unterhaltsam, es muss doch nicht gleich der ungelenke Versuch sein, alle Wahrheiten zu kippen.
In den vergangenen Wochen habe ich mir mal die Mühe gemach, in einige sogenannte Berichterstattungen von den Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen reinzuschauen. Bewusst nicht von etablierten Medien, sondern von denjenigen, die sich selbst gerne als alternative Medien bezeichnen und für sich in Anspruch nehmen, die einzigen zu sein, die nicht ideologisch gesteuert sind.
Im Internet und insbesondere auf Youtube gibt es ja eine Menge dieser Kanäle, die derzeit von den Demonstrationen angeblich für unsere Grundrechte berichten, über die Xavier Naidoos und Attila Hildmanns und viele andere da draußen, die die Corona-Pandemie teils für eine Erfindung halten, teils für einen vorgeschobenen Grund unserer Regierung, hier diktatorische Zustände einzuführen. Außerdem müssen wir natürlich aufpassen, weil Bill Gates uns ja alle zwangsimpfen und die Menschheit damit dezimieren will.
Nun gut, ich wollte mich möglichst neutral auf diese Form des Paralleljournalismus oder wie immer man es nennen möchte einlassen, so dass ich mir einen Kanal raussuchte, auf dem eine Liveschalte, ganz nach dem Vorbild der legendären Radiokonferenzen beim Fußball, gestreamt wurde, also immer zwischen mehreren Außenreporten in verschiedenen Städten hin- und hergeschaltet wurde. Diese Außenreportagen wurden dann von zwei Kommentatoren im Studio eingeordnet und eben koordiniert, nebenbei lief noch ein Chat, in dem Zuschauer sich rege an der Diskussion über die aktuellen Proteste beteiligten.
Zunächst einmal muss ich sagen, dass die gezeigten Bilder mich erst einmal wenig aus der Fassung brachten. In Berlin und Köln oder wo auch immer liefen die Reporter durch die Stadt und suchten nach den Orten, an denen wohl die Action stattfinden sollte und in Stuttgart stand der Korrespondent vor einem mäßig gefüllten Areal und schwadronierte darüber, dass ja letzte Woche so viel mehr los gewesen sein soll. Zwischendurch wurden Polizisten gefilmt, die irgendwo Absperrungen errichteten und vereinzelte Demonstranten, die diese Polizisten anpöbelten und in wenigen Fällen zurecht gewiesen wurden.
Letzte Woche sei so viel mehr los gewesen, hieß es jetzt auch von den beiden Herren im Studio und ebenso im Chat. Da nämlich wurde schon jetzt über die Polizeigewalt gewettert, über die böse Antifa und natürlich über das Merkel-Regime, das uns alle unterdrückt und dabei von den Systemmedien unterstützt wird. Da vor den Kameras nach wie vor wenig passierte, konzentrierte ich mich mehr und mehr auf den Chat und mehr und mehr wurde mir unwohl bei dem, was ich da las.
Eine Demokratie sei das hier schon lange nicht mehr, so der allgemeine Tenor, die Weltelite habe uns im Griff, wolle uns zwangsimpfen und Corona solle eben davon ablenken, was im Untergrund passiert. Das Stichwort sei Q-Anon antwortete mir jemand auf meine Nachfrage, es gehe dabei um aus Kinderblut gewonnenes Adrenochrom, doch im Chat sei nicht der richtie Ort, um mir das genauer zu erklären.
Im Chat war wohl allerdings der richtige Ort für Meinungsäußerungen wie: „Die Antifa ist eine Terrorgrupe von Merkel bezahlt“ oder „Mainstream-Sender werden Domonstranten wieder in den Rücken fallen“ oder „Bio-Deutsche werden verhaftet, nicht aber Hinzugereiste“. So ging es weiter, voller Hass gegen die Antifa, gegen die Presse und insbesondere gegen die Polizei und das böse System.
Während auf den Straßen immer noch nicht so viel passierte, wurden im Chat die Forderungen lauter, das nächste Mal die Demonstrationen doch nicht mehr anzumelden, denn das bringe ja nichts und man müsse härtere Geschütze auffahren, um etwas zu erreichen. Wenn doch mal eine Festnahme gefilmt wurde, kochte die Wut auf die Polizei hoch und die Festgenommenen wurden ohne Kenntnis der Situation bejubelt. Und als dann einer der Außenreporter doch noch die Wiese erreichte, auf der Attila Hildmann eine Rede halten sollte, wurde der allerdings gerade von einem südländisch aussehenden Mann argumentativ sozusagen in Grund und Boden geredet, worauf im Chat gefordert wurde: „Kann dem mal jemand eine überziehen“ und „Schlagt ihn tot“.
Das war ungefähr der Moment, wo ich es nicht weiter ertragen konnte und wegschalten musste. Tatsächlich habe ich auch noch in einige andere Livestreams reingeschaltet, wo es im Grunde nicht viel anders ablief. Oftmals wurden Passanten bzw. Demonstranten interviewt, von denen ich die wenigstens als „normale Bürger“ bezeichnen würde, denn viele hatten eindeutig entweder eine klar rechte politische Gesinnung und/oder ganz klar den Aluhut auf. Und da ist für mich leider der Punkt erreicht, wo Neutralität aufhört und wo ich immer sage, dass es nicht richtig sein kann, mit solchen Menschen gemeinsam auf die Straße zu gehen oder ihnen auch nur eine breite mediale Bühne zu bieten.
Zwei Dinge bleiben bei mir als Erkenntnis haften: Zum einen habe ich nicht zum ersten Mal festgestellt, wie gut diese angeblich alternativen Medien alle untereinander vernetzt sind und dass man über diese Netzwerke immer auch erschreckend schnell auf eindeutig rechtsextreme Kanäle stößt. Ein paar Klicks genügen und ich finde mich tief in einem Sumpf, den ich ohnehin für verfassungsfeindlich halte.
Zum anderen hat das, was bei den Befürwortern dieser Demonstrationen abgeht, in der breiten Masse nichts mehr mit Angst oder mit Überforderung durch die gegenwärtige Situation zu tun. Es scheint ausschließlich ein neues Ventil für einen schon lange schwelenden Hass zu sein und für eine Propaganda, der jedes Mittel recht ist, um ihr antidemokratisches Gift zu versprühen. Insofern halte ich all das auch nicht für tolerierbar, weil Menschen eben besorgt sind, sondern für hochgradig gefährlich.
Apropos wieder normal: im Moment habe ich das Gefühl, wir haben wieder eine Zweiteilung der Gesellschaft, und zwar in jene, die nach noch mehr Lockerungen schreien und jene, die zur Vorsicht mahnen, damit in ein paar Wochen nicht alles von vorne beginnt. Auch hier sind die Stimmen an den Rändern wieder am lautesten, meiner Wahrnehmung nach insbesondere von denjenigen, die behaupten, Bill Gates wolle die ganze Welt impfen, um sie unter seine Kontrolle zu bringen und damit die Eine-Welt-Regierung der Eliten etablieren.
Sicher, das sind Stimmen, die die große Mehrheit als Verschwörungstheoretiker abtut. Doch im Netz sind sie laut wie nie, verknüpfen diese steile These mit diversen rechten Ideologien und haben durchaus die Kraft, unsere ohnehin gespaltene Gesellschaft noch weiter auseinander zu bringen. Immerhin eine Gesellschaft, die ohnehin verunsichert ist, in einer Ausnahmesituation und ja durchaus vor einer realen wirtschaftlichen Bedrohung unbekannten Ausmaßes steht. Die Auswirkungen der Krise werden uns noch viele Jahre, vielleicht Jahrzehnte beschäftigen, der Nährboden für all diejenigen, die das System umkrempeln wollen, ist als fruchtbar wie nie.
Dementsprechend habe ich bei vielen auch das Gefühl, ihnen geht es nicht primär um ihre Grundrechte, sondern vielmehr darum, sich jetzt einer verunsicherten breiten Masse zu präsentieren, deren Ängste zu schüren und am Ende daraus Profit zu schlagen. Sei es rein finanziell, etwas durch verkaufte Kochbücher oder Musik mit schwurbeligen Texten oder was auch immer, sei es durch Einfluss, durch eine Medienblase abseits des sogenannten Mainstreams, die ja im Grunde seit Angela Merkels „Wir schaffen das“ schon existiert und für viele durchaus einträglich ist.
Die Spaltung der Gesellschaft ist also nichts Neues, neu ist nur das Ausmaß, so scheint es mir. Diese im Netz als „Covidioten“ bezeichneten Demonstranten erreichen plötzlich nicht nur ihre üblichen rechten Bubbles, sondern viel mehr Menschen – und sie prägen diese nicht nur in Bezug auf ihre politische und gesellschaftliche Meinung, sondern sähen großes Misstrauen in die Wissenschaft und damit in alles das, was eben nicht Fake News, sondern bewiesener und vor allem beweisbarer Fakt ist.
Darin sehe ich die große Gefahr, die diese Bewegungen bergen. Denn ganz ehrlich, wenn ich ein paar Wochen lang mit Mundschutz zum Einkaufen gehen muss, schränkt das meine Grundrechte nicht wirklich ein, sondern sorgt am Ende höchstens für Segelohren. Wenn aber unserer Bildung die Glaubhaftigkeit entzogen wird, dann kann das eine Gesellschaft langfristig ins Chaos stürzen.
Damit will ich übrigens noch lange nicht alles gutheißen, was an politischen Maßnahmen derzeit durchgedrückt wird. Wenn beispielsweise Selbstständige nur in ihren Betriebskosten unterstützt werden, die sich bei mir im Grunde auf einen Kugelschreiber und ein Blatt Papier belaufen, während die Autoindustrie großkotzig verkünden darf, dass eine Kürzung der diesjährigen Boni für die Aktionäre das allerletzte Mittel wäre, dann läuft da einiges schief, was meiner Meinung nach noch viel mehr angeprangert werden müsste.
Erschreckend fand ich auch, wie schnell unser wunderbares vereintes Europa über den Haufen geschmissen wurde, die Nationalgrenzen dicht gemacht wurden, wohlgemerkt bei einer weltweiten Pandemie und einem Virus, das vermutlich nicht erst einen Reisepass beantragt. Bis heute finde ich erschreckend, dass international kaum zusammengearbeitet wird, jeder plötzlich wieder mit sich selbst beschäftigt ist.
Immerhin ja so sehr mit sich selbst und der Krise beschäftigt, dass an der europäischen Außengrenze nachweislich ein Flüchtling aus Pakistan erschossen wurde und der mediale wie gesellschaftliche Aufschrei über diese Art der Grenzsicherung weitgehend ausbleibt. Ebenso könnte die Situation in den großen und medizinisch kaum darauf vorbereiteten Flüchtlingslagern zur kompletten Katastrophe werden, wenn das Virus dort richtig um sich greift. Und auf dem Mittelmeer ertrinken prozentual gesehen so viele Menschen wie nie zuvor, weil wir uns weder in der Lage sehen, zu helfen, geschweige denn dafür überhaupt ein offenes Ohr zu haben.
Das sind die Werte, die ich momentan bedroht sehe, für die aber kaum jemand seine Stimme erhebt. Verantwortung, weil wir nun mal zu den Reichsten dieser Welt gehören, Hilfsbereitschaft, weil die uns nicht arm macht, anderen aber das Leben rettet, und Nächstenliebe, weil wir doch angeblich ein Land christlicher Werte sind. All das vermisse ich in den letzten Wochen stark. Zugunsten eines seltsamen Struggle of the Fittest, der mir ehrlich gesagt Angst macht.
Dabei sind all die guten Ansätze im Kleinen, im Zwischenmenschlichen ja da. Vielleicht sollten wir die Corona-Krise jetzt einfach als Chance begreifen, um uns unserer Werte bewusst zu werden und um ganz aktiv zu entscheiden, welche Rolle wir als diejenigen, die im schlimmsten Fall der Fälle vermutlich am längsten überleben würden, in der Welt und im Leben spielen wollen.
Ein paar Wochen der Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Pandemie liegen jetzt hinter uns. Ein paar Wochen steht das öffentliche Leben nun mehr oder weniger still, wir spüren, dass wir vieles, was wir für selbstverständlich hielten, von einem Tag auf den anderen vermissen können. Es ist eine Situation, die noch vor wenigen Wochen unvorstellbar schien. Doch in solchen Extremsituationen zeigt sich das Wesen des Menschen, heißt es, und durchaus auch das einer Gesellschaft.
Am Anfang wurde Corona von vielen als Panikmache abgetan, während andere, nun ja, Panik verbreiteten. So weit, so normal. Doch schon da gab es im Grunde nur zwei Lager. Die berühmte Mitte, die nicht sofort weiß, ob das Virus komplett harmlos oder unweigerlich tödlich ist, und erst einmal abwartet, was verschiedene Experten sagen, die war wie so oft nicht zu hören. Ganz ähnlich war es dann bei den drastischen politischen Maßnahmen, die mehr oder weniger den Stillstand des öffentlichen Lebens anordneten.
Den einen war das viel zu lasch und sie forderten den konsequenten Lockdown, die anderen sahen sich in ihren Grundrechten eingeschränkt und riefen die Diktatur aus. Allerdings muss man hier auch zugeben, dass es durchaus eine Mehrheit gab, die mit #bleibzuhause zu Solidarität und Besonnenheit aufriefen, besonders – und das hat mich wirklich positiv überrascht – in den sozialen Netzwerken. Diese Stimmen gibt es auch nach wie vor, ich vermute sogar, dass sie auch immer noch die Mehrheit ausmachen.
Doch die Stimmen von den Rändern werden eben lauter. Interessant dabei finde ich, dass bestimmte populistische Parteien erst einmal die Regierung beschimpften, sie hätte viel zu spät gehandelt, während sie selbst schon viel früher eindeutige Maßnahmen ergriffen hätten. Seltsam, dass sie diese Maßnahmen zuvor nicht wenigstens zur Diskussion stellten, und seltsam auch, dass sie, als sie damit wenig Gehör bei ihren Anhängern fanden, ziemlich schnell umschwenkten und laut tönten, es sei doch bloß eine normale Grippewelle und alles viel zu übertrieben. Aber gut, das spricht für sich, denke ich.
Viel interessanter fand ich, dass nach dem Ausbremsen der Wirtschaft zwar die Solidarität beschworen wurde, jedoch im Detail jeder nur danach fragte, wie denn nun seine Branche unterstützt werde, was der Staat für ihn tun werde, oft verbunden mit dem Vorwurf, alle anderen seien ja viel besser dran. Zugegeben, als selbstständiger Journalist habe ich mir auch Sorgen gemacht, da ich ohne Aufträge, und das sind nun mal überwiegend Berichte über öffentliche Veranstaltungen, nun mal auch kein Einkommen habe. Doch es war schon erschreckend, wie eng der Horizont bei manchen wurde und die weltweite Pandemie plötzlich auf die eigenen beruflichen Einschränkungen heruntergebrochen werden konnte. Selbst globale Unternehmen mussten ja plötzlich Mietzahlungen aussetzen, weil die Milliardengewinne nicht mehr ganz so sprudelten.
Ganz zu schweigen von denen, die plötzlich wie irre Klopapier horten mussten, damit... ja, warum eigentlich. Ehrlich gesagt habe ich das bis heute nicht verstanden und bin bloß froh, dass Klopapier kein Mindesthaltbarkeitsdatum hat und auch noch tadellos ist, wenn diese Leute ihren Vorrat in dreißig Jahren ihren Enkeln vererben.
Auf der anderen Seite gibt es dann aber die, die plötzlich kreativ wurden. Da gibt es Menschen, die einen ehrenamtlichen Einkaufsservice für ältere und kranke Menschen anboten, damit diese sich nicht der Gefahr einer Ansteckung aussetzen müssen. Es gibt (überwiegend) Frauen, die hörten, dass in Krankenhäusern, bei Pflegediensten etc. die Schutzmasken knapp wurden und zu nähen begannen. Und es gibt beispielsweise die Jugendlichen, die in der Zeit, in der sie eh nicht zur Schule können, die Ausgabe bei der Tafel übernommen haben, weil diejenigen, die das sonst tun, eben selbst zur Risikogruppe gehören.
Kurz gesagt, es ist teils unglaublich, wie schnell Bewegung in die Gesellschaft kam und da sind all die kreativen Ideen von Kulturschaffenden noch nicht einmal eingeschlossen. Musiker veranstalten Wohnzimmerkonzerte, die sie in die Welt streamen, Autoren entdecken, dass auch Lesungen online funktionieren und sogar und vor allem die Kirche geht mit Videoandachten und einigem mehr ganz ungewohnt moderne Wege.
An einem Abend habe ich beispielsweise an einem Stream teilgenommen, bei dem der Streamer ein Rollenspielbuch vorgelesen hat und im Chat dann gemeinsam über die jeweiligen Entscheidungsmöglichkeiten in der Geschichte abgestimmt wurde. Es war ein interaktiver Spieleabend mit Freunden und für mich ein großartiges Format, das ich auch gerne häufiger miterleben möchte, wenn alles wieder normal ist.
Fortsetzung folgt...
Alles fühlt sich so surreal an. Die Stadt ist nahezu menschenleer, nur vor der Apotheke stehen drei Menschen vor der Tür Schlange. Nun ja, eine Schlange mit ziemlich großem Abstand. Weil das nun mal das Gebot der Stunde ist. Darum dürfen ja auch nur zwei Kunden gleichzeitig hinein. Nur durch diesen Abstand zu anderen Menschen lässt sich die Pandemie einigermaßen in den Griff bekommen, heißt es. Ich hoffe, die Virologen liegen damit richtig.
Als Dauerzustand ist dieses an die Zombieapokalypse erinnernde Szenario nämlich nicht empfehlenswert, finde ich. Obwohl ich ja auch sagen muss, dass wir es relativ gut getroffen haben, wenn die Zombies nur Klopapier hinterherjagen und von allen Menschen mindestens einen Meter Abstand halten. Überhaupt habe ich das Gefühl, dass weitestgehend Solidarität vorherrscht, von den üblichen Panikmachern oder Verschwörungstheoretikern einmal abgesehen.
Auch vor der Apotheke standen wir Kunden geduldig an bis jemand heraus kam und der nächste eintreten konnte. Als ich an der Reihe war, stellte ich mich vor die Plexiglasscheibe, die als Spuckschutz diente und orderte in aller Ruhe eine Flasche Hustensaft. D. hatte mich nämlich angerufen und darum gebeten, ihm und den Kindern den Hustensaft vorbeizubringen.
Die Mädchen waren letzte Woche schon krank gewesen, jetzt ging es ihnen wieder besser, doch sie hatten M. angesteckt, der nun hustete und Fieber hatte. Auch D. selbst war nicht ganz auf dem Posten und war schon beim Arzt gewesen, der ihn umgehen krank geschrieben hatte. Von Corona keine Rede. Auch nicht als ich wegen der Kinder beim Kinderarzt angerufen hatte.
Die Sprechstundenhilfe ließ sich die Symptome schildern, die mich ehrlich gesagt schon ein wenig beunruhigten, sie jedoch nicht aus der Fassung brachten. Wir sollten Fiebersaft geben, riet sie, und erst einmal beobachten. „Und wenn es bis Montag nicht besser ist, melde ich mich noch einmal bei ihnen“, schlug ich vor. Sie jedoch wehrte ab. „Nein, melden sie sich nur, falls es noch schlimmer wird.“ Na super. Wie sollte ich denn übers Telefon entscheiden, ob es schlimmer wurde?
F. und D. behielten zum Glück auch die Ruhe, kauften Fiebersaft und bekamen das Fieber so auch tatsächlich herunter. Das beruhigte uns alle erst einmal. Heute Morgen aber rief D. bei mir an und meldete, das Fieber sei nun zwar weg, doch er bekomme M.s Husten nicht in den Griff. „Warst du denn in der Apotheke und hast Hustensaft gekauft?“, fragte ich. Nun ja, er habe es versucht, erklärte er mir, dreimal sei er in einer Apotheke gewesen und habe versucht zu erklären, was sein Kind plagte. Da ihm aber das Wort Hustensaft nicht eingefallen sei, habe er dreimal Fiebersaft bekommen und wisse jetzt nicht mehr weiter.
Tatsächlich musste ich darüber erst einmal lachen, sagte dann aber schnell zu, den Einkauf für ihn zu erledigen. „Aber ich werde nicht lange bei euch bleiben, sondern dir nur an der Tür das Medikament überreichen“, warnte ich ihn vor. Er verstand, bedankte sich und war erst einmal beruhigt. Ich weniger, denn ich ahnte schon, dass es nicht so leicht werden würde.
In der Apotheke allerdings ist es sehr leicht, ich lege das Geld auf den Tresen, eine Tüte wird mir rübergeschoben, alles ohne Körperkontakt, aber auch ohne überzogene Angst, sondern einfach ruhig und vorsichtig. Ja sicher, ich hätte die Tüte nun auch bei D. vor die Tür stellen und mich vom Acker machen können, bevor er öffnete. Da ich mich aber wenigstens kurz erkundigen will, ob er alles richtig verstanden hat, was gerade an Maßnahmen angesagt ist, möchte ich doch mit ihm sprechen und das eben auch mit Augenkontakt, damit ich sicher sein kann, dass er am Ende nicht ebenso ratlos dasteht wie in der Apotheke.
Als er die Tür öffnet, sind die Kinder natürlich sofort da, springen an mir hoch und umarmen mich. Sicher nicht im Sinne eines Kontaktverbotes und ganz sicher eine wahre Einladung vor Viren, doch wie sollte ich erklären, dass sie mich nicht berühren dürfen? Ich hoffe einfach drauf, dass ich es bis nach Hause schaffe, mir nicht unbewusst im Gesicht herumzufuchteln und dass gründliches Händewaschen dann ausreicht.
M. freut sich über den Hustensaft, von dem F. ihm auch sofort einen Löffel verabreicht. Dann wendet er sich schnell wieder D.s Smartphone zu, auf dem er offenbar als Entschädigung spielen darf. Im ersten Moment denke ich, ich sehe nicht richtig. Der kleine M. zockt routiniert eine Runde PUBG, ballert Gegner weg und hält mir das Ergebnis dann stolz unter die Nase.
„Meinst du, dass das das richtige Spiel für ihn ist?“, frage ich D. Der lächelt verlegen, schüttelt den Kopf und erklärt dann aber: „Die Kinder dürfen nicht in die Schule, dürfen nicht raus und sich mit Freunden treffen, was soll ich machen?“ Ja, ich verstehe ihn. „Außerdem – das“, fügt er bedeutungsschwanger hinzu, „das ist nur ein Spiel.“ Auch hier verstehe ich, was er meint und beschließe, das Thema damit gut sein zu lassen.
Für D. und F. ist es aber noch nicht so ganz abgehakt. Wir reden erst eine Weile über die Pandemie, über die Maßnahmen, die in Deutschland ergriffen werden, dann aber kommen wir auf die Flüchtlingslager zu sprechen. Hier sitzen wir in unseren Häusern fest und müssen uns vielleicht wirtschaftliche sorgen machen. Das alles ist schlimm genug. Viele Lager aber sind hoffnungslos überfüllt, es gibt mancherorts nicht mehr ausreichend sauberes Trinkwasser, von Hygienevorschriften und medizinischer Versorgung einmal ganz abgesehen.
Auf dem Weg nach Hause lasse ich mir all das noch einmal durch den Kopf gehen. Sicher, für uns ist es eine unbekannte Situation voller Angst. Dort aber muss es sich wirklich wie die Zombieapokalypse anfühlen, wenn jemand das Virus einschleppt und weder etwas gegen die Ausbreitung, noch gegen die Symptome getan werden kann. Ehrlich gesagt will ich es mir gar nicht genauer vorstellen. Ich hoffe nur, dass wir bei all unseren eigenen Sorgen all diejenigen nicht vergessen, für die die Pandemie noch viel bedrohlicher ist.
Was ist denn da bei unseren Nachbarn in Thüringen los? Sicher, die Wahl im Oktober brachte das Ergebnis mit sich, dass ausgerechnet die Partei, die politisch am weitesten links steht und die Partei des rechten Spektrums die meisten Stimmen haben. Dass das schwierig für eine Regierungsbildung ist, muss nicht extra erklärt werden. Doch muss das denn gleich dazu führen, dass sich sämtliche Parteien selbst zerlegen?
Zunächst gab es Anfang des Monats jene unsägliche Wahl zum Ministerpräsidenten, bei der der Kandidat der kleinsten Fraktion im Landtag sich am Ende völlig überrascht gab, dass die Rechten lieber ihn wählen als den „Klassenfeind“ zu akzeptieren. Der Tabubruch war da, ein Aufschrei ging durch die Republik und sämtliche Erklärungsversuche der FDP wirkten einfach nur lächerlich und hilflos.
An dieser Stelle sei aber auch ganz ernsthaft erwähnt, dass der Tabubruch des Paktierens mit den Rechten in den Medien, aber vor allem auch in der Bevölkerung eine Empörung lostrat, die einmal deutlich zeigte, wie die Mehrheit in diesem Land denkt und auch, dass solch ein Aufschrei der breiten Masse durchaus etwas bringt. Hätte es diesen nicht gegeben, wäre nämlich Thomas Kemmerich immer noch thüringischer Ministerpräsident, ins Amt gehoben von der AfD und damit durchaus Vorbild für andere, denen auch alles egal ist, wenn sie bloß ein Stück vom Kuchen der Macht abbekommen können.
Gerade für die CDU ist all dies eine durchaus existenzielle Frage. Wollen sie in Koalitionsfragen auch künftig auf ihrer klaren Ablehnung der Linken beharren? Das könnte aber bedeuten, dass sie früher oder später direkt oder indirekt mit den Rechten zusammenarbeiten und damit Linke und AfD auf eine Stufe stellen. Oder erkennen sie an, dass die Linke zwar viele grundsätzliche Themen komplett anders beurteilt, aber ja immerhin eine demokratische Partei ist, während die andere Seite durch die Duldung von Faschisten in ihrer Mitte dem sicher nicht entspricht? Genau das ist die Kernfrage, die insbesondere die CDU für sich zu klären gehabt hätte.
Statt einer Antwort trat dann aber wenig später die Vorsitzende zurück und lenkte die Diskussion damit von Landes- auf Bundesebene, von einer Auseinandersetzung über die Frage des Umgangs mit den Rechten hin zu einer Personaldebatte. In dieser zeigte sich, dass die Partei derzeit wenig zu bieten hat, wohl aber großes Potenzial, sich in internen Machtkämpfen aufzureiben. Ein Schelm, wer dabei an die letzten Jahre der SPD denkt, die damit in Thüringen ja immerhin noch acht Prozent der Wähler für sich begeistern konnten.
Nun meldete sich der frühere Ministerpräsident Bodo Ramelow zu wort, sicher auch nicht ganz uneigennützig, aber immerhin mit einem lösungsorientierten Vorschlag, der ausgerechnet die noch frühere CDU-Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht ins Spiel brachte. Sicher, damit setzte er der CDU sozusagen die Pistole auf die Brust, indem er eigentlich fordert, sie sollen sich jetzt entscheiden, ob sie lieber mit den Linken oder den Rechten zusammenarbeiten.
Von Ramelow ist das ein durchaus kluger Schachzug, denn zum Einen bringt es die Regierungsbildung weiter, zum Zweiten fordert er die CDU zu einer klaren Aussage auf und zum Dritten ist dies natürlich eine generell für die Linken nicht ganz unbedeutende Frage für die politische Arbeit der nächsten Jahre. Leider eierte die CDU erst einmal nur herum, wirklich klare Aussagen blieben aus.
Ausgerechnet Christine Lieberknecht selbst ist es nun, die zur Vernunft mahnt und ganz offen eine Zusammenarbeit mit der Linken fordert. Weil es endlich weitergehen muss, weil es hier in erster Linie um Sachfragen und nicht um Posten geht und weil am Ende aus all diesem Chaos eben vor allem die Rechten profitieren und sich nun schon seit Wochen ins Fäustchen lachen können. Ihre Partei solle Ramelow unterstützen und damit Politik sich nicht noch weiter unglaubwürdig macht. Denn das ist es, worum es in erster Linie geht. „Ich habe mir das so nie träumen lassen“, wird sie im Spiegel zitiert, „aber wir müssen realpolitisch handeln, um das Land zu beruhigen.“
In den Innenstädten herrscht Konsumtrubel wie jedes Jahr und in den Medien wird wieder einmal darüber diskutiert, ob wir Flüchtlinge in Deutschland aufnehmen oder einfach im Mittelmeer ertrinken lassen sollten. Überspitzt gesagt jedenfalls. Mich jedenfalls kotzt all das mehr und mehr an. Uns geht es gut, doch all das könnte ein Ende haben, denn „die“ uns unseren Wohlstand wegnehmen wollen. Wer immer „die“ auch sind.
Wir fühlen unsere Zukunft nicht etwa durch eine Industrie bedroht, die nicht radikal umdenken will, weil es ja teurer wäre, und auch nicht durch eine Politik, die keine Maßnahmen ergreift, weil es ja der Industrie schaden könnte. Nein, wir lassen uns von jugendlichen Klimaaktivisten triggern und von rechten Hetzern aufstacheln.
Seit Jahren geht das jetzt so, so kommt es mir vor. Seit Jahren lassen sich viele Menschen und Medien die Themen von jenen diktieren, die Angst vor dem Neuen oder vor dem Fremden schüren und damit ein Narrativ erschaffen, das uns in einer Opferrolle darstellt. Wir sind nicht das reiche Land, das den Klimawandel vorantreiben könnte, wir sind nicht das reiche Land, das noch viel mehr Menschen in Not helfen könnte, nein, wir sind diejenigen, die bald nichts mehr zu melden haben.
Wir tragen nicht etwa eine Mitschuld an der Welt, so wie sie ist, nein, wir müssen verteidigen, um nicht unterzugehen. Dabei werden Idealbilder heraufbeschworen, die es längst nicht mehr gibt und im Grunde auch nie gegeben hat. Und um diese Bilder zu verteidigen, sind alle Fake News recht und jede noch so absurde Verschwörungstheorie billig.
Inzwischen sind die Gräben in unserer Gesellschaft und selbst in meinem eigenen Umfeld so tief, dass ich nicht mehr daran glaube, sie noch überwinden zu können. Und es macht mich mehr und mehr mürbe, es überhaupt zu versuchen.
In den letzten Jahren habe ich viel für die Kirche gearbeitet und dabei festgestellt, dass es nicht nur wichtig ist, christliche Nächstenliebe aktiv zu leben, sondern auch unsere Pflicht. Vor allem gilt diese Nächstenliebe nicht nur für eine diffuse Gruppe, die einige durch Herkunft oder nationale Grenzen definieren wollen, sondern ganz nach dem Gleichnis des barmherzigen Samariters insbesondere auch für jene, die uns fremd und vielleicht auf den ersten Blick nicht einmal sympathisch sind.
Im Privaten habe ich mit D., F. und den Kindern zum Glück Menschen kennengelernt, die mir sehr sympathisch sind, die von Fremden zu Freunden wurden und bei denen ich spüre, was ein wenig Hilfe doch bewirken kann. Folglich sind sie auch diejenigen, mit denen ich in der Weihnachtszeit Zeit verbringen und die Welt da draußen manchmal ein Stück weit vergessen möchte.
Natürlich dreht sich bei S., A. und M. auch alles um Geschenke und sie sagen mir mehr als einmal, was sie sich alles wünschen würden. Allerdings haben gerade sie auch Verständnis dafür, wenn ich ihnen erkläre, dass eben nicht alle Wünsche erfüllt werden. Bei F. und D. gibt es keinen Weihnachtsbaum und keine sonstige kitschige Deko, dafür aber echte Freude, wenn wir uns treffen und durchaus intensive Gespräche.
Zum Beispiel fragte mich D. neulich, was es bei uns mit dem Nikolaus und dem Weihnachtsmann auf sich hat. Und warum kommt der eine am 6., der andere am 24. Dezember, beide bringen sie den Kindern Geschenke und zwischendurch gibt es noch einen Adventskalender, der möglichst auch mehr zu bieten haben muss als jeden Tag nur ein Stückchen Schokolade.
Anfangs tat ich mich schwer, ihm das zu erklären, ohne dabei wieder nur auf die Konsumgesellschaft zu schimpfen. Der Nikolaus, so erklärte ich, geht eben auf den real existierenden Bischof Nikolaus zurück, der Weihnachtsmann hingegen auf die wohl erfolgreichste Marketingidee der Welt und dann gibt es in Deutschland eigentlich auch noch das Christkind, das am Heiligen Abend die Geschenke gebracht hat. Das wiederum geht auf Jesus Christus zurück, was ja logisch ist, warum das Christkind hier in Deutschland allerdings ein blondgelocktes Mädchen ohne Migrationshintergrund sein muss und warum sich mancher aufregt, wenn es nicht so ist, kann ich leider nicht logisch erklären.
Jesus, Maria und Josef und die Weihnachtsgeschichte kennt D. als Kurde auch. Ebenso den Bischof Nikolaus, denn den gebe es in Syrien auch, erklärt er mir. Bei den Christen dort käme an Weihnachten der Weihnachtsmann „Baba Noel“, der auf eben jenen Bischof zurückgeht, doch der habe den Rest des Jahres, einschließlich des 6. Dezembers, frei. Das leuchtet mir ein, klingt für mich logisch und ergibt ja eigentlich auch mehr Sinn als eine erfundene Werbefigur.
Wir überlegen dann noch gemeinsam, wie es denn in anderen Ländern ist. F. weiß, dass der Weihnachtsmann in den USA Santa Claus und in Frankreich Père Noel heißt. Ob sich dahinter allerdings der Bischof oder der Coca-Cola-Mann verbirgt, wissen wir alle nicht. Ebenso wenig, ob ich anderen Ländern auch sowohl Nikolaus und Weihnachtsmann kommen oder doch das blondgelockte Christkind oder wer auch immer. Ist ja eigentlich auch egal.
Wichtig ist doch, dass wir alle bestimmte Traditionen haben, die uns wichtig sind und dass wir die Traditionen anderer respektieren. Wenn wir uns darüber austauschen, dann können wir entdecken, dass sie letztlich alle doch Gemeinsamkeiten haben. So zum Beispiel die, dass wir unseren Lieben gerne eine Freude machen und dass es beim Schenken eigentlich darum geht, dass wir uns und anderen gerade zum Jahresende Glück, Gesundheit und Frieden wünschen.
Der rechte Terroranschlag in Halle hat uns in dieser Woche erschüttert und betroffen gemacht. Dennoch war vieles, was in den Medien zitiert wurde, absolut vorhersehbar. Von einigen wurde natürlich sofort betont, dass es Angriffe auf Synagogen in Deutschland nie mehr hätte geben dürfen und dass nun endlich vehement gegen Rechtsextremismus vorgegangen werden müsse. Soweit richtig. Ebenso wurde der Mörder schnell als Einzeltäter deklariert, was ja auch schon beinahe reflexartig passiert, um Spekulationen vorzugreifen.
Dennoch gab es die natürlich. Im Chat zu einem „patriotischen“ Video auf Youtube habe ich mitgelesen, wie sofort vermutet wurde, es handle sich um eine Tat, die den Rechten nur in die Schuhe geschoben werden soll, dass es so kurz vor der Landtagswahl in Thüringen passierte, spreche doch dafür, denn so könnte die AfD am besten diskreditiert werden. Im besagten Chat wurde das natürlich zum Teil noch etwas drastischer ausgedrückt.
Der Videomacher und Host betonte zwar, dass er die Tat verurteile, allerdings immer mit dem Nachsatz: so wie er jegliche Gewalt verurteile, auch die von islamistischer oder linker Seite. Warum, frage ich mich, muss man das jedes Mal so plakativ betonen? Im Grunde doch nur, wenn man darauf hinweisen will, dass ja die anderen auch schlimm sind und um die Morde damit zu relativieren, oder nicht?
In den sozialen Medien passierte dann meiner Meinung nach genau das. Auf Twitter antwortete ich beispielsweise auf den Tweet eines jungen Mannes, der sinngemäß schrieb, er hoffe, der Rechtsextremismus werde nun nicht wieder verharmlost, indem Leute wieder schreiben, die Linken seien genauso doof. Er jedenfalls habe noch keinen Linken in Kampfmontur auf offener Straße schießen sehen. In meinem Kommentar gab ich mich zynisch und vermutete, wir könnten doch leider wieder Bullshit-Bingo spielen und es sei nur eine Frage der Zeit bis genau das Argument mit den Linken komme. Es dauerte nur wenige Stunden, dann postete jemand anderes darunter: „Bei jeder Straftat eines Flüchtlings können wir aber auch Linken-Bullshit-Bingo spielen.“
Viel schlimmer als das finde ich allerdings, wenn die Bundesvorsitzende einer großen Regierungspartei dann öffentlich sagt, dieser Anschlag sei ein „Alarmzeichen“ und wenn in etablierten Fernsehsendungen darüber diskutiert wird, ob eventuell Killerspiele eine Ursache für die Radikalisierung des Täters sein könnten. Nein, liebe Annegret, das ist kein „Alarmzeichen“, das ist Ausdruck des Versagens eines Staates, der die Gefahr des Rechtsextremismus seit Jahren und Jahrzehnten systematisch kleinredet. Und es hat auch nichts mit Videospielen zu tun, die ebenso verbreitet sind wie Krimis im Fernsehen oder Bogenschießen im Sportunterricht der zehnten Klasse in der Schule. Was diese Menschen radikalisiert ist eine rassistische Ideologie.
Klar, jeder Fundamentalismus kann in Extremismus umschlagen und dann ist es nur noch ein kleiner Schritt vom Denken zum Handeln. Das gilt für Religionen, für Linke, aber eben auch genauso für Rechte. Gegen all das sollten Polizei und andere Behörden vorgehen. Allerdings sprechen die Fakten nun einmal eine recht deutliche Sprache. Da gibt es Islamisten, die Attentate verüben. Daher gehören sie eingesperrt. Da gibt es Linke, die Autos anzünden. Auch sie gehören bestraft.
Aber die meisten extremistischen bzw. politisch motivierten Straftaten begehen eindeutig Rechte. Das belegt jede Polizeistatistik und die Amadeu-Antonio-Stiftung listet Fall für Fall und namentlich 198 Todesopfer rechter Gewalt seit 1990 auf. Darunter die beiden jüngsten Opfer der Anschläge von Halle oder der ermordete Kasseler Regierungspräsident Walter Lübke.
All diese Menschen wurden von Einzeltätern patriotischer oder völkischer Gesinnung ermordet, von sogenannten Reichsbürgern, von der Terrorvereinigung NSU, die ja angeblich auch nur als Trio agierte. Und all das soll bloß ein „Alarmzeichen“ sein? All das steht in keinerlei Zusammenhang? Nach all diesen Taten haben wir in unserem Staat kein Problem mit rechter Gewalt?
Offenbar ja nicht, denn bereits jetzt gibt es in den sozialen Netzwerken Tweets und Posts, die erläutern, dass letztlich Merkels Flüchtlingspolitik an allem Schuld ist. Weil unsere Regierung so viele Fremde ins Land lässt, müssen wir uns nicht wundern, wenn manche Bürger eben nicht nur besorgt reagieren, sondern auch zur Tat schreiten. Sorry, differenzierte kann ich die Gedankengänge hier nicht ausdrücken, weil ich sie nun mal absolut nicht nachvollziehen kann.
An dieser Stelle kann ich nur noch sagen, wie unfassbar ich all das finde, wie sehr es mich entsetzt. Mehr denn je bin ich froh, dass es D. und seine Familie hierher in den verschlafenen Harz gezogen hat, weil ich hier zum Glück überwiegend Leute kenne, die all das ebenso wenig nachvollziehen können. Und ich bin auch nach wie vor überzeugt, dass es der überwiegenden Mehrheit in ganz Deutschland so geht. Aber damit das so bleibt, dürfen wir die Argumentationen der Rechten nicht stillschweigend hinnehmen oder ihnen mediale Plattformen bieten. Denn eine Ideologie des Hasses erzeugt letztlich hasserfüllte Taten.
Neulich schrieb ich für unser tägliches News-Portal einen Text. "Bloß nicht von der Klimahysterie anstecken lassen", nannte ich ihn. Um allen Unklarheiten vorzubeugen habe ich ihn gleich in der Unterzeile ganz deutlich als Glosse gekennzeichnet. Eigentlich groß genug, eigentlich im Journalismus auch keine ungewöhnliche Textform und meiner Meinung nach eigentlich auch ohne den Hinweis deutlich als solche zu erkennen. Aber okay. Bevor ich erzähle, was weiterhin passierte, hier erst einmal der Text:
"Extreme Hitze in ganz Deutschland und auch im Harz. Beinahe stündlich werden neue Temperaturrekorde vermeldet, die Medien überschlagen sich mit Tipps wie viel trinken oder in der Sonne keinen Hochleistungssport zu betreiben und in den sozialen Netzwerken gibt es kaum noch ein anderes Thema. Die einen posten Fotos aus dem Schwimmbad, die anderen lamentieren über den Klimawandel. Da kann das Gehirn dann schon mal Feuer fangen.
Wetter und Klima, das sind zwei verschiedene Dinge, betonen einige vehement. Stimmt ja auch. Schon immer gab es regionale Temperaturschwankungen, holen sie weiter aus, das hat nichts mit menschengemachtem Klimawandel zu tun. Ach. Also gibt es den gar nicht?
Naja zumindest lässt er sich nicht beweisen. Bei immer mehr Messstationen in Deutschland dürfen wir uns über neue Hitzerekorde nicht wundern. Aber was ist mit den Auswirkungen, die wir selbst regional spüren? Also trockene Böden und kahle Wälder hier im Harz und trockene Talsperren, die letztlich ja die Trinkwasserspeicher für große Teile Norddeutschlands sind. Dazu immer wieder Starkregenfälle, von denen selbst Nationalparkmitarbeiter behaupten, es habe sie in so kurzen Abständen früher nicht gegeben. Ist das nicht alarmierend?
Nicht unbedingt. Leere Talsperren gab es früher auch immer mal wieder, Regen sowieso, vieles hat auch mit unserer wachsenden Akribie des Datensammelns zu tun. Außerdem sind es ja nur regionale Phänomene und daher ist es Wetter und kein Klima.
Okay, gut. Nur gibt es diese Phänomene ja auch in anderen Regionen. Zum Beispiel in Afrika, wo durch die Dürre immer größere Gebiete zu unbewohnbaren Wüsten werden. Oder in der Arktis, wo der Permafrostboden langsam auftaut. Oder in Australien; dort werden gerade die schlimmsten Dürrekatastrophen seit Beginn der Aufzeichnungen vermeldet. Alles nur regionale Phänomene? Zumindest einige Forscher in der Schweiz sehen das anders und haben genau das jetzt auch in einer Studie veröffentlicht.
Sicher. Studien sogenannter Experten, die in den Mainstream-Medien veröffentlicht werden. All das ist doch Teil der Klimahysterie, die gerade von der links-grünen Mehrheitsgesellschaft angeheizt wird. Es lassen sich immer auch Wissenschaftler finden, die das Gegenteil beweisen. Und wenn nicht die, dann gilt eben immer noch, dass man sich ohnehin nicht auf die Lügenpresse, sondern vielmehr auf das eigene Urteilsvermögen verlassen sollte.
Ach und das eigene Urteilsvermögen stellt bei 35 Grad im Schatten dann fest, dass es keinen menschengemachten Klimawandel gibt? Zumindest bei einigen, die auf den verschiedenen Plattformen sehr aktiv sind, ist das der Fall. Oft sind das auch genau die Leute, die sich bei kühleren Temperaturen über mangelnden Schweinefleischkonsum in deutschen Kitas, über die Diskriminierung von durch den Verfassungsschutz beobachteten patriotischen Gruppierungen oder über gemeingefährliche Schlepperbanden im Mittelmeer aufregen. Und natürlich über Greta Thunberg, die neben Angela Merkel und einigen anderen für all das verantwortlich zu sein scheint.
Warum eigentlich sind es ausgerechnet diese völlig harmlosen völkischen Patrioten, die den Klimawandel absolut nicht wahrhaben wollen? Könnten die Themen vielleicht sogar zusammenhängen? Mal angenommen, wir wäre wirklich für die hohen Temperaturen und damit auch für die Dürren und so weiter verantwortlich. Dann könnte es ja sogar unsere moralische Pflicht sein, jenen Menschen, die aus unbewohnbar gewordenen Gebieten fliehen, irgendwie unter die Arme zu greifen. Und wenn das, was sich gerade andeutet, in den nächsten Jahren so weitergeht, dann hätte Europa ja irgendwann gar keine sachlichen Argumente mehr, um sich gegen Menschen aus jenen Regionen, die wir über Jahrhundert ausgebeutet haben, abzuschotten.
Puh, das wäre aber ziemlich blöd. Dann sollten wir wohl doch besser jene Expertenmeinungen, die globale Zusammenhänge darstellen, als Hysterie darstellen und lieber unserer eigenen Wahrnehmung vertrauen, dass die Hitze nur regional und auch nicht von Dauer ist. Na, stimmt ja auch, denn wenn ich mich aus den sozialen Netzwerken ausklinke und vielleicht auch noch den Computer herunterfahre, wird es schon merklich kühler"
Soweit der Text also, ich hoffte, damit vielleicht doch einige Leser zum Nachdenken bringen zu können. Und ein bisschen Provokation darf ja wohl sein, vor allem von mir, wo ich mich in den sozialen Netzwerken durchaus als linksgrünversiffter Mainstream-Journalist betiteln lassen muss. (Eigentlich auch seltsam, dass das Wort "Mainstream" zum Schimpfwort werden kann, aber das ist eine andere Geschichte.)
Am nächsten Tag aber erreichte mich und auch die Redaktion eine bitteböse Mail. Eine Leserin empörte sich, wie wir einen solchen Text veröffentlichen könnten und warum die Redaktion mit jemandem wie mir zusammenarbeite, sie werde uns von nun an jedenfalls nicht mehr lesen. Was sie störte, war allerdings nicht etwa die vermeintliche linksgrünversiffte Provokation, nein, sie schrieb: Da können Sie ja auch gleich Werbung für die AfD machen!" Als ich das las, musste ich mehrfach schlucken. Nicht, weil ich nicht mit Kritik umgehen kann, damit hatte ich ja gerechnet, aber weil ich nicht erwartet hatte, dass jemand den Text als rechte Propaganda verstehen könne.
Noch einmal traf mich dann der Schlag als ich den Namen der Leserin in eine Suchmaschine eingab. Sie ist Lehrerin, so das Ergebnis. An einer Berufsschule. Deutschlehrerin! Sorry, aber dazu fiel mir leider nichts mehr ein. Seitdem frage ich mich aber, ob wir mittlerweile so sehr in unseren Bubbles gefangen sind, ob unjsere Gesellschaft so sehr gespalten ist, dass wir allein bei bestimmten Signalworten vielleicht schon überreagieren und nicht mehr fähig sind, einen Text rational zu begreifen. Ist es wirklich so weit gekommen?