Was wollen wir für Europa?

Geografisch nur wenige Meter voneinander entfernt, weltanschaulich so weit, dass es weiter kaum geht

 

„Es ist jetzt Schluss mit lustig, die rechten Parteien kommen und ich bin stolz, ein rechter Politiker zu sein, ich bin stolz, ein Rechtspopulist zu sein“, sagte Jens Kestner, Europakandidat der AfD, in Northeim. Zwei Tage vor der Europawahl hatte die AfD zur Abschlusskundgebung des Wahlkampfes mit Europa-Kandidaten, Bundestagsabgeordneten, Fraktionsvorsitzenden und Landesvorsitzenden auf dem Münsterplatz eingeladen.


„Wir werden Europa vom Kopf auf die Füße stellen, für ein Europa der Vaterländer und nicht für die Europaflagge. Wir brauchen diese EU nicht“, so Kestner weiter. Seine Parteikollegen wetterten gegen die „Altparteien“, gegen die Regenbogenflagge, die über dem Platz gehisst ist, und auch gegen die Gegendemonstranten, die durch Absperrungen und Polizeikräfte getrennt ganz andere Ansichten und Visionen für unsere Gesellschaft und für Europa vertreten.

 

Das Bündnis für soziale Gerechtigkeit und gegen Rechtsextremismus im Landkreis Northeim hatte zur „Meile der Demokratie“ aufgerufen, an der sich neben den demokratischen und pro-europäischen Parteien unter anderem die Omas gegen Rechts, die evangelische Jugend und zahlreiche andere Institutionen und Gruppierungen beteiligten. Eröffnet wurde sie von Bürgermeister Simon Hartmann, der sagte: „In Northeim leben über 4000 Menschen, die eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzen. Noch viel mehr Menschen haben Wurzeln in anderen Ländern. Sie sind unsere Nachbarn, unsere Kolleginnen und Kollegen, sie sind wichtiger Bestandteil unserer Gemeinschaft, die auf der Idee eines freien und liberalen Europas basiert.“ Dann fügte er noch hinzu: „Wir stehen zusammen und wir passen gut aufeinander auf.“


120 bis 130 AfD-Anhänger auf der einen und 500 Gegendemonstranten auf der anderen Seite, so die Zahlen der Polizei. Geografisch nur wenige Meter voneinander entfernt, weltanschaulich so weit, dass es weiter kaum geht. Zu Zwischenfällen kam es nicht, so sagte es mir ein Polizeisprecher am Abend, wenigstens das.


Ist ja leider nicht mehr selbstverständlich, wie wir in diesem Wahlkampf besonders schmerzlich gelernt haben. In Mannheim musste ein Polizist sterben, weil er in seinem Dienst einen islamistischen Extremisten nach einer Messerattacke auf einen islamfeindlichen Hetzer fixieren wollte. In Göttingen wurde die grüne Politikerin Marie Kollenrott bei einer Wahlkampfveranstaltung angegriffen und verletzt, so wie zahlreiche weitere Wahlkämpfer*innen in anderen Städten auch.

 

 

Der Ton in unserer Gesellschaft wird schärfer, die Bereitschaft zu Gewalt offenbar geringer. Zudem scheint es, als müssten wir uns zwischen einem freien und liberalen Europa und einem Europa der Vaterländer entscheiden. Und wenn wir uns für eine vielfältige und tolerante Gesellschaft entscheiden, müssen wir sie offenbar verteidigen gegen diejenigen, die so viele Werte ablehnen, die dieses Europa sich in den letzten Jahrzehnten mühsam erkämpft hat.


Wir leben in einer Gesellschaft, die uns Freiheiten lässt wie nie zuvor in der Geschichte. Minderheiten werden geschützt, auch wenn einige aus einer konservativen und rechten Bubble das wohl als Bedrohung empfinden. Dieses Europa könnte sich auf den Weg in eine moderne, globalisierte Zukunft machen, in der der einzelne Mensch und nicht seine Herkunft zählt.


Noch dazu stehen wir mit dem Klimawandel und einer von Standorten losgelösten Wirtschaft vor Herausforderungen, die uns alle als Weltbürger, als Menschen betreffen. Warum also pochen so viele immer noch auf Nationalismus, auf eine Welt von gestern, die im Grunde jetzt schon vollkommen überholt ist? Warum ist jemand stolz darauf, Populist zu sein?


Vielleicht bin ich ja zu naiv, vielleicht zu linksgrünversifft, vielleicht zu christlich geprägt, so dass ich alle Menschen als Kinder Gottes und uns als eine Einheit sehe. Aber mir fehlt jegliches Verständnis für die Weltanschauungen der Rechten und Rechtsextremen. Mir ist es egal, ob mein Gegenüber deutsch ist oder was auch immer, viel wichtiger ist mir, das er mein Nachbar, mein Kollege, mein Freund ist. Wenn ich mit jemandem reden, lachen, vielleicht sogar weinen kann, dann ist doch alles andere egal. Lasst uns doch einfach nur Menschen sein.