We are all from the same blood

Brauchen wir mehr Eurovision Song Contest?

 

 Der Eurovision Song Contest oder damals noch Grand Prix Eurovision de la Chanson hat mich schon als Kind fasziniert. Sehr gut kann ich mich noch an einen Abend erinnern als ich bei Bibi, einer guten Freundin der Familie übernachtet habe – damals liebte ich es an den Wochenenden bei Oma und Opa, meiner Großtante oder anderen Erwachsenen zu übernachten, weil es einfach ein Abenteuer war – und wir abends keinen Zeichentrickfilm, sondern den Grand Prix geguckt haben.


Bibi war eine alleinstehende Lehrerin, vor allem Künstlerin, ein wenig exzentrisch und für mich eben anders als viele andere damals. Vor allem aber liebte ich es, dass sie mich nicht wie ein kleines Kind behandelte, sondern ich mich bei ihr ernstgenommen und dementsprechend erwachsen fühlte. So auch an diesem Abend als ich die bis in die Nacht dauernde Show ganz selbstverständlich und ohne Diskussionen bis zum Ende mit ihr ansehen durfte.


Außerdem begeisterte mich das Konzept, dieser internationale Wettstreit, dieser Blick über den spießig deutschen Tellerrand hinaus, kurzum ich fühlte mich erwachsen und weltgewandt wie selten zuvor. Ehrlich gesagt weiß ich heute nicht mehr, welcher deutsche Song damals teilnahm oder wer den Contest gewann, aber das war ja auch nebensächlich, ging es doch um Völkerverständigung, um Einblicke in fremde Kulturen und um die große weite Welt des internationalen Showgeschäfts.

 

 

Diesen Status hat der ESC für mich im Grunde immer behalten, wenn vielleicht auch mit kleinen Abstrichen in der B-Note. Auf jeden Fall aber habe ich die Show viele Jahre lang gesehen, ein besonderes Highlight war dabei das Public Viewing in einer Kirche. Das Gotteshaus feierte 300-jähriges Bestehen, es sollte etwas Besonderes werden und im Sinne des grenzenlosen Miteinanders gab es eine Predigt mit dem Tenor, dass wir ja alle Gottes Kinder sind und Grenzen etwas absolut Weltliches und eben Menschengemachtes, bevor dann gemeinsam auf einer großen Leinwand der ESC geguckt wurde.


Mich persönlich freute, dass damals Bonnie Tyler für das Vereinigte Königreich antrat, die meisten anderen drückten Cascada für Deutschland die Daumen, gewonnen hat am Ende Emmelie de Forest mit „Only Teardrops“, ehrlich gesagt bis heute einer der besseren Siegertitel. Auf jeden Fall war auch das für mich wieder ein unvergesslicher Abend und letztlich auch eine Bestärkung darin, dass ich ein zusammenrückendes Europa als tolle Idee ansehe, während mir Nationalstolz ehrlich gesagt ziemlich fremd ist.


Nun ist der ESC sicher vielmehr Medienspektakel als gesellschaftsprägend, trotzdem mag ich die Idee dahinter nach wie vor und bin auch nach wie vor überzeugt, dass solche Events über Grenzen hinweg wichtig sind. Es mag sein, dass sie bei einigen genau wie beispielsweise Fußball auf internationaler Ebene den Nationalismus nur noch mehr fördern, bei mir bewirkte es immer klar das Gegenteil. Ich beschäftigte mich dadurch mehr mit mir fremdem Musikgeschmack, versuchte zu verstehen und war ehrlich gesagt äußerst selten Fan der deutschen Beiträge und Teilnehmer.

 

 

Das änderte sich in diesem Jahr. Lord of the Lost höre und mag ich seit zehn Jahren, genaugenommen seit einem Festival, bei dem ich die Band damals live erlebte und ziemlich begeistert war. Noch spannender wurde es für mich als Nik dort als Drummer einsteig, Nik, den ich kenne, seit er quasi Nachbar meiner Ex-Freundin war, und der auch heute wieder kaum drei Straßen von mir entfernt wohnt.


Ja, bei diesem ESC bin ich parteiisch, allerdings mag ich auch „Blood & Glitter“ sehr, den Song und auch das gesamte Album. So war es selbstverständlich, dass wir am vergangenen Freitag zum Vorentscheid unsere eigene kleine ESC-Party gefeiert und Lord of the Lost die Daumen gedrückt haben. Ganz abgesehen vom Ergebnis war es fast wieder so schön und so spannend wie damals bei Bibi.


Noch viel spannender fand ich allerdings am nächsten Tag etliche Kommentare auf Social Media. Manche fanden die Musik schlicht zu laut, okay, das ist einfach der persönliche Geschmack. Andere wünschten sich Nicole zurück, also das typische Früher-war-alles-besser-Gejammere, was ich immer schon ziemlich unerträglich finde. Wieder andere regten sich über die Kostüme auf, die Band und der Song waren ihnen zu wenig deutsch, zu divers, zu linksgrünversifft, was auch immer.

 

 

Da frage ich mich dann immer, ob der Song wirklich der Auslöser ist oder ob solchen Leuten nicht im Grunde alles recht ist, um gegen die da oben etc. zu hetzen. Normale Bürger würden sich nicht von den „pinken Herren“ vertreten lassen wollen, twitterte Frauke Petry. „Keine Sorge, Frauke, euch ‚normale Bürger‘ vertreten wir auch nicht. Haben wir nie, werden wir nie“, antworteten Lord of the Lost. Auch ich konnte es mir nicht verkneifen, das zu kommentieren und schrieb: „Naja, Frau Petry, Lord of the Lost wurden von einer Mehrheit gewählt. Das wurden Sie schon länger nicht mehr, oder?“


Eigentlich mag ich mich an sowas ja gar nicht beteiligen, denn es bringt ja doch nichts. Allerdings finde ich es immer wieder unerträglich, wenn alles, was den eigenen Dunstkreis übersteigt, erst einmal abgelehnt oder gar verteufelt wird. Vor allem, wenn es nur um neue Musik geht oder um vegane Schnitzel oder von mir aus auch um Gendersternchen.


Haben wir keine wirklichen Probleme? Ja, die Frage ist rhetorisch. Aber ich frage mich immer mehr, warum sich Menschen über Kleinigkeiten derart ereifern und letztlich Lager bilden, die zu tiefen Rissen in unserer Gesellschaft führen. Da frage ich mich dann, ob wir nicht noch viel mehr Eurovision Song Contes brauchen, um zumindest in Sachen Musik toleranter zu werden. Und noch viel mehr „Blood & Glitter“, denn da heißt es im Text: „We are all from the same blood.“