Wie Rollenspieler Weihnachten feiern
Als Lokaljournalist suchst du ja immer nach Geschichten, die noch nicht erzählt wurden. Viele Kollegen stöhnen immer, dass das nicht so leicht sei, da in einer ländlichen Region wie unserer schon über alles und jeden berichtet wurde. Ein Chefredakteur einer Zeitung sagte mir mal: „Jeder Mensch in deiner Region hat eine Geschichte. Wenn du es schaffst, dass nur ein Zehntel von ihnen dir ihre Geschichte erzählt, hast du für mehr als zehn Jahre genug Stoff.“
Nach diesem Motto versuche ich immer wieder Menschen zu finden, die besondere Schicksale, Berufe, Fähigkeiten oder Hobbys haben. Oft ist es gar nicht so schwer, jemanden zu finden. So vor
etwa zwei Wochen eine Frau, die sich in der LARP-Szene engagiert, also Live-Rollenspiele macht.
Das ist schon lange ein Thema, über das ich mal schreiben wollte, auch wenn es Reportagen von LARP-Events natürlich schon gibt. Sie aber erzählte mir von ihrer Weihnachtsfeier, die eben nicht
normal, sondern als Rollenspiel ablaufen sollte, und lud mich dazu ein. Es wurde einer der ungewöhnlichsten Texte, die ich in diesem Jahr geschrieben habe und darum möchte ich ihn euch auch nicht
vorenthalten:
„Es gibt nichts Intensiveres, als im LARP von sich selbst Urlaub zu machen“, sagt Ralf Okunick. LARP, das bedeutet Live Action Role Play. Seit 30 Jahren ist Ralf dabei, heute in Osterode, wo der Allerronn e. V. zum Tavernenabend eingeladen hat. Somit ist Ralf nicht als Ralf hier, sondern als Magier Ibondil Weland, einer von drei Charakteren, die er regelmäßig spielt.
Für den Tavernenabend hielt er den Magier für passend, auch wenn er eigentlich nicht weiß, was am Abend passieren wird. Anders als beim Theater – im wahren Leben ist Ralf freier Schauspieler aus
Hildesheim – wissen die Spielenden beim LARP nämlich nicht, was auf sie zukommt. Das mache ihre Rolle umso lebensechter und intensiver. „Im Theater stehst du auf der Bühne und spielst für das
Publikum“, erläutert Ralf, „hier spielst du für dich, blendest dein Alltagsleben aus und bist ganz der Charakter.“
Was das bedeutet, zeigt sich, als immer mehr Mitspielende eintreffen. Sobald sie sich in ihre Gewänder geworfen haben, reden sie plötzlich anders, erzählen einander, welch Wagnisse sie in letzter
Zeit auf sich genommen haben oder schlicht wie sie heute mit der Kutsche angereist sind. Moderne Begriffe werden vermieden, Dinge aus dem echten Leben werden verklausuliert beschrieben. Zu
erzählen gibt es viel, zum Beispiel hat Ralf (und Ibondil somit auch) einen anderen Mitspielenden seit fast zehn Jahren nicht mehr getroffen.
Von außen betrachtet mag es kurios sein, wenn sich Menschen in aufwendigen und meist sehr detailverliebten Gewandungen über Geschehnisse im Herzogtum Allerronn unterhalten, in dem neben Menschen auch Elfen, Feen, Zwerge oder Orks leben. Zwischendurch bestellten sie an der Theke des Gasthauses Dernedde auch mal alkoholfreies Bier, ob es das in Allerron auch gibt oder ob es dort als Hexenwerk gilt, bleibt ihnen überlassen.
Was an diesem Abend weiterhin passiert, weiß wie üblich beim LARP nur die Spielleitung. Das ist Janina op de Beeck in der Rolle einer Bardin, die zu diesem Abend in die Taverne eingeladen hat.
Sie selbst ist seit 28 Jahren Rollenspielerin, organisiert mit dem Verein regelmäßig große Events in der Region. So beispielsweise im Waldpädagogikzentrum in Pöhlde , auf dem Gelände des
Harzklubs und der Kirche in Wildemann oder auf der Burg Lohra bei Nordhausen.
Doch zurück nach Allerronn: Das Jahr neigt sich dem Ende entgegen, das wird auch im Herzogtum gefeiert. Echte Religion ist ebenso wie echte Politik nach den Regeln des Rollenspiels nicht gerne
gesehen, somit kann es natürlich auch keine christliche Weihnachtsfeier geben. Die Bardin hat daher zum Will-ich-nicht-mehr-haben-Tag eingeladen, alle Gäste gebeten, etwas zu verpacken und
mitzubringen, was er loswerden möchte.
Was sich nach dem gemeinsamen Essen abspielt könnten Unwissende als Schrottwichteln interpretieren, doch natürlich hat die Bardin noch viel mehr geplant. So gibt es nämlich für die Anwesenden weitere Geschenke, einige davon mit einer unvorhersehbaren magischen Wirkung. Um diese Geschenke wird gewürfelt, es bleibt also spannend, wer welchen Zaubertrank probieren muss.
In einer weiteren Runde werden die Geschenke dann nach den Regeln der Würfel wild hin und her getauscht, was vor allem für viel Spaß und einige kuriose Wendungen sorgt. Keine Kämpfe also, keine
wilden Schlachten, keine aufwendig gebauten Steingolems, die sie überfallen, sondern ein gemütliches Beisammensein mit viel Lachen. Auch das kann LARP sein: eine Weihnachtsfeier ohne Weihnachten,
von Anfang bis Ende in der Rolle und im Spiel und dennoch ein schöner Ausklang des Jahres.
Einige übernachten am Ende in der Taverne und werden sich erst am nächsten Morgen mit der Kutsche auf den Heimweg machen. Ralf nach Hildesheim, andere sogar noch weiter. Vielleicht sehen sie sich
ja beim nächsten Event Anfang Mai wieder. Wer auch einmal reinschnuppern möchte, kann sich gerne beim Verein melden (https://allerronn.jimdofree.com). Die Mitglieder sind für jeden Neuzugang offen und auch, wenn manches recht kompliziert und klingt, sei es gar nicht so
schwer, sich in die Welt einzufinden.