Gedanken über Dankbarkeit

Dankbar oder desillusioniert? - Teil 2

 

Wenn er sowas sagt, macht mich das meist recht demütig und ich werde mir mal wieder bewusst, welch unfassbares Glück ich habe, ausgerechnet in diesem Teil der Welt geboren worden zu sein. Dazu habe ich nichts beigetragen, ich hatte einfach richtig Schwein, in einer Zeit und an einem Ort aufzuwachsen, wo ich bisher noch keinen Krieg, keinen Hunger und auch sonst keine lebensbedrohlichen Katastrophen miterleben musste.

 

Das ist ganz sicher nicht mein Verdienst, nichts, worauf ich stolz sein könnte, kein natürliches Privileg meiner Abstammung oder sonst etwas. Es ist purer Zufall oder eben die Gnade Gottes oder was auch immer andere glauben mögen, auf jeden Fall ein Glück, um das mich bestimmt die Mehrheit der Weltbevölkerung beneidet. Also sollte ich dankbar sein, bin es eigentlich auch, doch auch, wenn ich mir das bewusst mache, mein Unbehagen räumt es nicht aus.

 

Vielmehr schäme ich mich manchmal, wenn ich D. wieder mal erklären muss, dass die deutsche Bürokratie eben sehr genau ist und vieles schlicht nicht möglich ist oder aber quälend lange dauert, weil das in unserem System nun mal so unflexibel gehandhabt wird. Vor allem schäme ich mich, wenn er wie neulich auf Facebook einen Post teilt, mit dem er ausdrücken will, wie großartig er seine neue Heimat findet, und ich ihm erklären muss, dass das leider genau von jenen Leuten kommt, die ihn am liebsten loswerden wollen.

 

Ja, es ist tatsächlich so passiert. Im Internet sah ich, dass er ein Bild mit Deutschlandflagge, sprichwörtlichen blühenden Landschaften und einem passenden Slogan geteilt hatte. Als ich mich später mit ihm in der Stadt traf, sprach ich ihn drauf an, wies ihn auf das Parteilogo hin, das eben auch in die blühenden Landschaften eingefügt war, und musste ihm erläutern, dass eben diese Menschen glauben, Deutschland sei nur dann so großartig, wenn Menschen wie er nicht hineingelassen werden.

 

 

In solchen Momenten schäme ich mich für mein Land und für einige Menschen hier, die dieses große Glück, in Frieden und Reichtum zu leben, offenbar für ihren eigenen Verdienst oder mindestens für ein irgendwie gerechtfertigtes Privileg halten. Ja, es mag jetzt weinerlich klingen, aber in letzter Zeit raubt mir sowas viel Kraft, vor allem, wenn ich dann noch sehe, was manche Leute auf Youtube oder sonstwo rausposaunen oder mit welchen Parolen einige auf die Straße gehen.

 

Die Flüchtlinge sind unser Untergang, der Klimawandel ist eine Lüge, Corona ebenso, dies ist ja keine Demokratie mehr, die geheime Weltelite hat uns im Griff, macht uns zu Marionetten und hat längst die Umvolkung in die Wege geleitet. Wenn du das immer und immer wieder hörst, dann zweifelst du am menschlichen Verstand, wirst aber auch irgendwann müde, dagegen zu argumentieren. Aber muss man dem Stuss denn nicht Fakten entgegensetzen? Was passiert, wenn diese Meinungen irgendwann von Mehrheiten geteilt werden? Ist es als Journalist denn nicht genau meine Aufgabe, mich damit auseinanderzusetzen und solche Aussagen immer und immer wieder auf ihre Wahrheit hin zu überprüfen?

 

Vielleicht, ich weiß es ehrlich gesagt im Moment nicht. Es raubt mir nur schlicht die Kraft, weil ich es inzwischen schlicht nicht mehr hören kann. Zum Glück bin ich ja journalistisch auch für die Kirche zuständig und darf mich mitunter anderen Themen widmen. So jetzt beispielsweise dem Erntedankfest, das in diesem Jahr wie so vieles unter besonderen Bedingungen gefeiert wird.

 

Auch monatelang über besondere Bedingungen zu schreiben, macht irgendwann müde, doch das ist ein anderes Thema. In diesem Fall geht es um einen Erntedankgottesdienst, über den ich schreiben soll, so dass ich mit frisch desinfizierten Händen und Maske in der Kirchenbank sitze und der Dinge harre, die da kommen.

 

 

Es geht um die Frage, ob wir angesichts einer weltweiten Pandemie denn überhaupt dankbar sein können. Eine einfach Antwort gibt es darauf wohl nicht. Doch im Gottesdienst werden von mehreren Leuten mehrere Dinge zusammengetragen, für die sie in diesen Zeiten dankbar sind. So beispielsweise für die Webcam, die es trotz Abstand möglich macht, Gemeinschaft zu erleben. Für den Einkaufskorb, den im Frühjahr viele spontan gegriffen haben, um für andere einzukaufen und der damit zum Symbol gelebter Nächstenliebe in Zeiten wie diesen geworden ist.

 

Der Kirchenmusiker sagt, er sei dankbar für seine Trompete, denn in den Monaten, in denen Konzerte und andere Veranstaltungen abgesagt werden mussten, hätten viele festgestellt, wie wichtig die Musik und die Kultur allgemein ist. Das sagen ihm jetzt, wo allmählich einiges wieder stattfinden darf auch einige Menschen, was ihn natürlich freut, so erzählt er. Und der Pastor hat sein Fahrrad mitgebracht als Symbol für die Entdeckung der Langsamkeit in diesen Tagen, ein intensiveres Erleben der Natur und vor allem für die Freiheit. Jene Freiheit, die er hat, weil er unterwegs sein kann und keinem strengen Lockdown unterworfen ist, aber auch die Freiheit in diesem Teil der Welt, die es manchen sogar erlaubt, eben diese Freiheit laut auf den Straßen anzuzweifeln.

 

Es sind nur kleine Beispiele und pointierte Aussagen, doch sie bringen mich zum Nachdenken. Vor allem dann aber die Predigt, die einen Gedanken ausformuliert, den ich so ehrlich gesagt noch nie hatte und bei dem ich mich frage, ob ich nun dankbar oder doch eher desillusioniert sein soll. Es geht um die biblische Speisung der Fünftausend, also jene Geschichte als Jesus und seine Jünger für die Menge an Zuhörern gerade einmal fünf Brote und zwei Fische hat, diese sich aber auf wundersame Weise vermehren.

 

Damals gab es wenig, es wurde verteilt und reichte am Ende für alle, heute hingegen gibt es Lebensmittel im Überfluss, wir könnten problemlos die ganze Welt davon ernähren, doch es scheitert an der Verteilung.