Verliebt, verlobt, verheiratet

Leben in unterschiedlichen Welten - Teil 2

 

Irgendwann ein paar Tage später als wir F. und D. besuchen, läuft im Fernsehen mal nicht das übliche Cartoonprogramm der Kinder. Auch, wenn wir uns längst haben belehren lassen, dass Kinder auf diese Weise ja angeblich am besten Deutsch lernen, und auch, wenn ich Tom & Jerry sowie einigen Animeserien durchaus selbst etwas abgewinnen kann, nervt es uns immer noch kolossal, dass die Glotze anscheinend dauerhaft läuft. Diesmal jedoch keine Cartoons, sondern das Video einer arabischen Hochzeit.

 

D. bittet uns, eine Weile mitzuschauen, denn die großen und teuren Hochzeiten sind nun mal ein wichtiger Bestandteil seiner Kultur und gerade in diesem Moment offenbar auch eine wichtige Erinnerung an die Heimat. Tatsächlich lasse ich mich von dem schicken Ambiente, der tollen Musik und den ausgelassenen Menschen im Video sofort mitreißen. Es sind wohl Aufnahmen von der Hochzeit des Freundes eines seiner Cousins oder noch weiter verzweigte Verwandtschaft, für mich aber kaum weniger opulent als so manche Szene aus einem Bollywood-Blockbuster.

 

Alle tanzen in großen Kreisen als folgten sie einer mir unbekannten Choreografie, es wirkt aufeinander abgestimmt und eben wie der Tanz einer großen zusammengehörenden Hochzeitsgesellschaft. Auch das ist meiner Meinung nach ein Unterschied zu uns, denn wenn ich tanze, dann war das meist für mich allein in einer Disco. Dabei konzentrierte ich mich dann auf Beats und Melodien und blendete die anderen Leute oft sogar völlig aus. Und selbst auf hiesigen Hochzeiten gibt es doch allerhöchstens Paartänze, aber es kommt so gut wie nie dieses intensive Gemeinschaftsgefühl auf.

 

 

„Also den ganzen Tag könnte ich mir das Gedudel nicht anhören“, raunt Rainer mir zu, „irgendwie klingt das alles gleich und nervt auf Dauer.“ Mir geht es da völlig anders und ich bekomme sogar Lust zu tanzen. F. und D. bemerken das, freuen sich offenbar darüber und irgendwann stellt er fest: „Du musst auch endlich heiraten.“ Es ist nicht das erste Mal, dass die beiden mir das sagen, im Spaß haben sie sogar schon arrangiert, dass ich eine Cousine heiraten soll, wenn die denn eines Tages nach Deutschland kommen sollte.

 

Dass ein erwachsener Mann nicht verheiratet ist, ist für sie vielleicht nicht gerade unvorstellbar, wohl aber ein Makel, ein Unglück oder irgendetwas dazwischen. Die Familie ist das absolut Größte Glück auf Erden. Dem stimme ich ja auch zu, vor allem, wenn ich diese Rasselbande erlebe und mir im Moment kaum etwas Erfüllenderes vorstellen kann als ihnen deutsche Besonderheiten zu erklären und dabei manches zu hinterfragen, was uns so selbstverständlich erscheint.

 

Trotzdem bin ich im Moment aber auch gerne Single und weiß ehrlich gesagt nicht, wie ich D. und F. das plausibel machen soll. Oft ist es ja schon schwer genug, verheirateten Freunden zu erklären, warum ich nicht verzweifle oder meine Oma zu überzeugen, dass ich weder schwul noch selbstmordgefährdet bin. Schwul zu sein wäre manchmal vielleicht eine Erklärung, die eher akzeptiert würde als meine Beteuerung, dass mir im Moment eigentlich nichts fehlt. Leider bin ich nicht schwul, sondern wohl einfach nur jemand, der kein Problem mit dem Alleinsein hat.

 

„Ich hatte ja mal eine Familie“, erläutere ich, „acht Jahre war ich mit einer Frau zusammen, die zwei Kinder hatte. Wir waren zwar nicht verheiratet, aber in Deutschland muss man nicht unbedingt verheiratet sein.“ Für F. und D. ist das ganz offensichtlich schwer nachvollziehbar. Hier unterscheiden sich unsere Kulturen dann eben doch sehr deutlich. Oder eigentlich nicht die Kulturen, sondern vielmehr die Gesellschaften. Unsere hat sich in den letzten Jahrzehnten sehr viele Freiheiten erkämpft, sehr viel Individualität und dabei viele Traditionen über Bord geworfen.

 

Dabei ist es meiner Meinung nach noch gar nicht so lange her, dass auch bei uns vieles anders war, die Menschen gänzlich anders dachten und vieles, was uns damals unvorstellbar erschien, mittlerweile an der Tagesordnung ist. Zum Beispiel eben die wilde Ehe, die gleichgeschlechtliche Ehe (okay, das ist noch nicht so lange normal und da gibt es leider noch viele, die – neutral ausgedrückt – sehr traditionell denken) oder eben gar keine Ehe. Der unverheiratete Onkel war auch in deutschen Familien noch vor gar nicht allzu langer Zeit jemand, der zumindest bemitleidenswert ist.

 

Überhaupt wird mir in den letzten Monaten häufig sehr deutlich bewusst, welchen Wandel unsere Gesellschaft in den letzten hundert Jahren durchlaufen hat. Vielleicht unterscheidet sich unsere Welt ja gar nicht so sehr von der arabischen, vielleicht ist es nur, dass wir die Freiheit des Einzelnen als höchstes Gut auserkoren haben und uns vielmehr daran orientieren als an religiösen Traditionen. Und letztlich muss ich das erst einmal sehr wertfrei feststellen, denn nicht jede Abkehr von Religion und Tradition muss auch positiv sein.

 

 

Wieder ein paar Tage später bestimmen wieder die Kinder das Fernsehprogramm. Es läuft allerdings keine der üblichen Trickfilmserien, sondern eine Sendung über das Leben von Kindern in Südamerika. Gezeigt wird ein Junge aus einer ärmeren Gegend Brasiliens, der als Schuhputzer auf den Straßen São Paulos unterwegs ist, um Geld für seine Familie zu verdienen, die anders nicht über die Runden kommt.

 

„Viele Kurden in Syrien müssen das auch“, erzählt uns D. Auch er habe früh arbeiten müssen. Immerhin ist er der einzige Sohn in der Familie und da seine Schwestern nun mal nicht arbeiten durften, musste er schon immer zum Unterhalt beitragen. „So lange ist es noch gar nicht her, dass es das auch in Deutschland gab“, sage ich nachdenklich. Heute ist es für viele unvorstellbar, aber ich glaube vor hundert Jahren gehörten Schuhputzer auch in unseren Städten noch zum alltäglichen Straßenbild.

 

Mir wird wieder einmal bewusst, wie gut ich es eigentlich habe, welches Glück es ist, dass ich in dieser Zeit in diesem Land geboren wurde. Kein Verdienst, keine Leistung, sondern einfach ein glücklicher Umstand, zu dem ich nichts beigetragen habe. Als ich in F.s, D.s und auch in die nachdenklichen Gesichter schaue, habe ich den Eindruck, dass auch sie gerade sehr dankbar dafür sind, jetzt hier in dieser manchmal noch etwas fremden, doch friedlichen und weitgehend sicheren Gegend der Welt angekommen sind.