Jedem Verdacht nachgehen

Wenn das Jugendamt zweimal klingelt - Teil 1

 

Das Klingeln des Telefons reißt mich aus dem Schlaf. So früh ist es eigentlich gar nicht, aber ich habe gestern noch lange an einem Text gesessen, den ich unbedingt noch fertig bekommen wollte. Dementsprechend müde bin ich jetzt als ich mich melde. Dann jedoch bin ich schlagartig wach. „Guten Morgen, mein Name ist B. vom Jugendamt“, sagt die Stimme am anderen Ende, „Sie betreuen doch die syrische Familie...“ „Worum geht es denn?“, unterbreche ich die Stimme und bin sofort in Alarmbereitschaft.

 

S. ist heute nicht im Kindergarten und A. hat daraufhin wohl erzählt, sie sei geschlagen worden, berichtet die Stimme vom Amt und will wissen, ob ich übersetzen kann, wenn er der Familie jetzt einen Besuch abstattet. „Sorry, aber dass die beiden ihre Kinder schlagen sollen, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen“, platzt es aus mir heraus. Sie müsse jedem Verdacht dennoch nachgehen, hält die stimme dagegen, wenn ich allerdings nicht übersetzen kann bin ich bei dem Gespräch allerdings auch nicht erwünscht.

 

Einen Moment überlege ich, ob ich trotzdem hinfahre, entscheide mich dann aber dagegen und rufe erst einmal Rainer an. Auch er will aus einem ersten Impuls heraus sofort zu F. und D. fahren und auch er zügelt sich dann erst einmal. „Geben wir dem Jugendamt eine Stunde Zeit und treffen uns dann dort“, entscheiden wir, so viel Unheil werden sie wohl in der Zwischenzeit nicht anrichten.

 

 

Genau sechzig Minuten später stehen wir schließlich beide vor der Tür, F. öffnet auf unser Klingeln und wirkt einigermaßen verstört. Vom Amtsbesuch haben wir erfahren, sie solle sich aber keine sorgen machen, wir kümmern uns, beruhigt Rainer sie, während ich erst einmal nach den Kindern sehe. S. strahlt mich sofort an und zeigt mir ein neues Spielzeug. Auf meine vorsichtige Frage, warum sie nicht im Kindergarten war, erzählt sie, ihr Bett sei zusammengebrochen, sie habe sich den Kopf gestoßen und jetzt eine Beule.

 

Wie bei allen Asylanten wurde die Wohnung ja möbliert zur Verfügung gestellt, allerdings mit den günstigsten Möbeln eingerichtet, die überhaupt erhältlich sind. Gerade über die drei Kinderbetten haben wir uns schon oft geärgert. Statt fester Lattenroste sind sie nur mit billig verbundenen Brettern ausgestattet, die bei jeder größeren Belastung durchrutschen. Gerade bei Kindern, die nun einmal auch auf ihren Betten hüpfen ist das nicht ungefährlich, aber es reicht auch schon, wenn wir Erwachsenen uns auf die Bettkante setzen.

 

Während S. den nächtlichen Unfall inzwischen verdrängt hat, wirkt A. allerdings ziemlich verstört. Zunächst mag sie gar nicht mit mir reden, eigentlich mit niemandem, auch nicht mit D., der jetzt von F. alarmiert vom Sprachkurs nach Hause kommt. Er lässt sich erst einmal die ganze Geschichte erzählen, dann kümmert er sich um seine jüngere Tochter und beruhigt sie etwas. Was die beiden sagen, verstehe ich natürlich nicht, aber ich befürchte, A. hat ein schlechtes Gewissen, weil sie weiß, dass sie das ganze Chaos irgendwie in Gang gesetzt hat, und D. macht ihr klar, dass es nicht ihre Schuld ist. Zumindest beruhigt sie sich bald wieder und ringt sich dann sogar ein Lächeln ab.

 

Für uns ist die Schuldfrage ebenso schnell geklärt. Zum einen regen wir uns darüber auf, dass der Kindergarten nicht zuerst bei uns anruft, obwohl sie uns ja sonst auch kontaktieren, zum anderen macht es insbesondere Rainer wütend, dass das Jugendamt bei einer solchen Geschichte sofort aktiv wird, während sonst oft tagelang niemand erreichbar ist und auf seine Anrufe in einer anderen Sache es auch niemand für nötig hält, mal zurückzurufen.

 

 

„Ganz ehrlich, wenn bei eine ausländischen Familie etwas passiert, stehen die sofort auf der Matte, aber bevor sie bei deutschen Familien den Arsch hochkriegen muss sonstwas passieren.“ Recht hat er ja. Dennoch mahne ich ihn zur Ruhe als er dann zum Smartphone greift und sich beim Amt beschweren will. Der Text, den er auf den Anrufbeantworter spricht, ist dann zum Glück mit Bedacht gewählt, wenn auch unmissverständlich. Damit, dass sich jemand zurückmeldet, rechnen wir allerdings trotzdem nicht.

 

Wenig später ruft Rainer auch noch beim Kindergarten an und macht auch dort seinem Ärger Luft. Ich schlucke solche Dinge meist erst einmal herunter, aber in diesem Fall muss ich schon einsehen, dass es falsch wäre, alles einfach so hinzunehmen. „Und?“, frage ich als er auflegt. „War eigentlich ein gutes Gespräch. Die Leiterin stellt sich zwar vor ihre Mitarbeiter und sagt natürlich, dass jeder Verdacht häuslicher Gewalt ernst genommen werden muss, aber sie hat mir auch wortwörtlich gesagt, dass die sonst auf ihre Hinweise nicht so schnell reagieren und selbst sie manchmal ewig wartet, bevor das Jugendamt sich bei ihr zurückmeldet.“

 

Bevor ich mich aber zu sehr in die Denkweise der Damen und Herren beim Jugendamt und ihre eventuellen Klischees arabischer Erziehungsmaßnahmen hineindenke, kümmern wir uns lieber um D. und F. und beruhigen sie schließlich ist ja alles ein offensichtliches Missverständnis und kann schnell zu den Akten gelegt werden. In dem Punkt haben wir uns allerdings geirrt, wie sich einige Tage später herausstellt.

 

Fortsetzung folgt...