Wer soll das alles essen?

Syrische und deutsche Spielregeln - Teil 2

 

Reihum zu würfeln und ausschließlich eigene Spielfiguren dann auf ein klar definiertes Feld zu setzen, kommt mir mit einem Mal sehr deutsch vor. Für die Kinder ist es viel spannender, die Figuren dorthin zu setzen, wo es ihnen am besten gefällt und einfach so lange zu würfeln bis man selbst keine Lust mehr hat oder Bruder oder Schwester einem den Würfel entreißen. Ob das allerdings pädagogisch wertvoll ist und selbst die Entlastung der Eltern bezweifle ich stark. Vor allem, weil der wütend weggeworfene Würfel der gläsernen Schranktür gefährlich nahe kommt.

 

Als F. und D. mitspielen, geht es deutlich besser. So jung sie selber auch sind, sie schaffen es immer wieder spielend, die Kinder zu beruhigen und so zu beschäftigen, dass alle drei zufrieden sind. Nur S. mault noch, weil sie das Spiel doch gerne einmal richtig durchgespielt hätte. „Wir spielen es noch mal, wenn A. und M. nicht dabei sind“, verspreche ich ihr. „Nachher?“, fragt sie und strahlt mich an. Zu gerne würde ich es glaubhaft versprechen, doch da die Kinder beim momentanen Wetter draußen eben nur das gemeinsame Schlafzimmer und das Wohnzimmer zur Verfügung haben, ist es gar nicht so leicht, ihnen allen gerecht zu werden.

 

Ebenso haben wir oft das Gefühl, F. nicht ganz gerecht zu werden. Immerhin ist sie eine junge Frau und – nun ja, wir müssen es uns wohl eingestehen – sind nicht mehr ganz so junge Männer. Sie kümmert sich so rührend um die Kinder, die ja nicht einmal ihre eigenen sind, und gibt sich uns gegenüber so aufgeschlossen, dass wir selbst manchmal vergessen, dass das Frauenbild in ihrer Heimat sich doch deutlich vom hiesigen unterscheidet.

 

Noch dazu geht D. von Anfang an fleißig zu seinen Sprachkursen, doch bis die Mädchen ihren Kindergarten- und M. seinen Krippenplatz hatten, war F. währenddessen zuhause und hatte dementsprechend wenig Kontakte außerhalb der Familie. Auch wenn sie relativ aufgeschlossen ist, denke ich manchmal, dass ihr eine beste Freundin fehlen muss oder überhaupt Frauen, mit denen sie sich über – nun ja – Frauenthemen unterhalten kann.

 

 

Überhaupt glaube ich ja, dass es staaten- und religionsübergreifende Themen gibt, durch die alle Frauen dieser Welt sofort ins Gespräch kommen können und sich dann auch umgehend blendend verstehen. Darum wurden und werden sämtliche Kriege auch immer von Männern geführt. Weil wir diese Männerthemen eben nicht haben. Selbst beim angeblichen Männerthema Fußball kommt es ja schneller zum Streit als ein Schiri überhaupt anpfeifen kann.

 

Wie auch immer, wir sind jedenfalls froh, dass Monika ihren Besuch angekündigt hat und „unsere“ Familie endlich einmal kennenlernen möchte. Auch D. freut sich sehr darüber, doch am meisten leuchten F.s Augen als wir ihnen den Besuch ankündigen. Und das, da bin ich mir sicher, hat nicht nur mit der sprichwörtlichen orientalischen Gastfreundschaft zu tun, sondern eben auch mit diesen ominösen Frauenthemen, von denen ich keine Ahnung habe.

 

Letztere werden mir wohl auch weiterhin verschlossen bleiben, aber von der orientalischen Gastfreundschaft bekommen wir am Wochenende einen bleibenden Eindruck. Schon als wir ins Treppenhaus kommen, empfängt uns ein würzig-vielversprechender Duft. „Du hast doch aber gesagt, dass sie sich bloß keine Umstände machen sollen“, fragt Monika sofort an Rainer gewandt. Selbstverständlich hat er. Und selbstverständlich hat das nichts gebracht.

 

Die Kinder machen uns sofort die Tür auf, fallen erst uns und dann Moni völlig unbefangen um den Hals. D. ist auf dem Balkon und grillt, F. ist in der Küche und brutzelt irgendetwas. Dabei ist der Tisch im Wohnzimmer schon jetzt so voll, dass er sich beinahe durchbiegt. Es mag syrische Tradition sein, vielleicht auch Dankbarkeit oder auch der Wunsch, einmal zu zeigen, was sie kulinarisch drauf haben. Ganz offensichtlich nämlich eine Menge. Zumindest sehen all die verschiedenen Gerichte, bei denen wir nur von wenigen wissen, was es genau ist, verführerisch aus. Trotzdem sehen wir uns an und sagen wie aus einem Mund: „Wer soll das denn alles essen?“

 

 

Kurz darauf serviert D. sein Grillfleisch und F. bringt noch drei weiter Schüsseln aus der Küche, dann setzen wir uns und beginnen damit, uns genüsslich durch alles durchzuprobieren. Besonders das wie eine Mischung aus Spinat und Grünkohl schmeckende Grünzeug hat es uns angetan und wir rätseln noch, was es denn nun genau ist. „Molokhia“, erklärt F., doch wie das genau auf Deutsch heißt, weiß sie leider auch nicht*. „Egal, ist gesund“, beendet D. die Diskussion und füllt jedem von uns noch einen Löffel auf.

 

Es schmeckt wirklich hervorragend, doch es ist eben wirklich auch eine durchaus für 20 Personen ausreichende Menge. Irgendwann müssen wir die Segel streichen, ob das nun nach syrischer Tradition unhöflich ist, oder nicht. „Wenn wir in Syrien Gäste haben, dann essen alle so viel, bis sich keiner mehr bewegen kann“, erklärt D. und bietet uns noch einmal Nachschlag an. „Ich kann mich jetzt schon nicht mehr bewegen“, wehrt Moni ab und ich erkläre, ich würde mich so langsam wie ein gestrandeter Wal fühlen. Als ich F. und D. das entsprechende Foto im Bildwörterbuch rausgesucht habe, können auch sie darüber lachen und nehmen es uns offenbar nicht übel, dass wir Deutschen so früh schlapp machen.

 

Fürs Verdauungskoma bleibt allerdings keine Zeit, denn auch die Kinder wollen etwas von uns haben und jetzt endlich mit uns spielen. Als Überraschung hat Moni ein Mikadospiel mitgebracht, eigentlich ja auch eine gute Idee. Trotzdem befürchten Rainer und ich nach unseren jüngsten Erfahrungen, dass die Kinder mit den spitzen Stäbchen allerlei Dinge anstellen könnten, für die sie nicht gedacht sind. Also bilden wir erst einmal Teams, so dass jedem Erwachsenen ein Kind zugeordnet ist und wir im Zweifelsfalle eingreifen können.

 

Was dann passiert habe ich ehrlich gesagt schon seit Jahren nicht mehr erlebt. Wo wir am Anfang noch darauf achten, den Kindern die Regeln begreiflich zu machen, steigern wir uns mehr und mehr in das Spiel hinein, vergessen die Zeit völlig und spielen Runde um Runde mit wachsender Begeisterung. Vielleicht braucht es manchmal gar keine Frauenthemen, vielleicht gibt es sogar Dinge, die Männer und Frauen auf der ganzen Welt verbinden. Gemeinsam Spaß haben gehört auf jeden Fall dazu.

 

 

*Später google ich, dass Molokhia auf Deutsch „Langkapselige Jute“ heißt. Bei manchen Dingen ist es wohl besser, sie nicht zu übersetzen.