Kloß im Hals

Auf gute Nachbarschaft - Teil 2

 

Wenige Stunden später sitzen die beiden mit F. und D. sowie Rainer und mir im Wohnzimmer und wir gehen Schritt für Schritt die Angebote der Sprachschule durch, wir erklären, dass einer von uns beim ersten Mal mitfährt, um ihnen die Haltestellen zu zeigen und ihnen auch eine Monatskarte für den Bus zu kaufen. Manches übersetzen die beiden zugegebenermaßen etwas holprig, aber immerhin so, dass F. und D. es verstehen. Also hoffe ich jedenfalls.

 

Irgendwann merke ich jedoch, dass die türkische Übersetzung der Nachbarin und D.s und F.s Antworten immer länger dauern als das, was wir zu erklären versuchen. Zuerst werfen Rainer und ich uns noch stirnrunzelnde Blicke zu, dann frage ich die Tochter, ob sie denn gerade wirklich noch über die Sprachkurse reden.

 

„Naja“, sagt sie, „meine Mutter erklärt gerade, dass die beiden bei uns klingeln können, wenn mal etwas ist und dass auch schräg gegenüber noch eine türkische Familie wohnt, die bestimmt auch mal helfen kann.“ Außerdem frage sie nach, woher aus Syrien die beiden genau kommen und solche Dinge. Eigentlich gibt es noch einige Formalien, die wir unbedingt noch klären müssten, doch die persönliche Geschichte interessiert uns natürlich auch.

 

So erfahren wir endlich mal, dass die beiden froh über diese Wohnung und über Deutschland sind, dass sie vor fast drei Monaten nach Europa kamen und dass sie von der Erstaufnahmestelle aus nach Osterode verteilt wurden, ohne zu wissen, wo die Stadt liegt und wie groß sie ist. Nach den Ursachen oder Umständen ihrer Flucht zu fragen, trauen wir uns in diesem Moment alle nicht. In den kommenden Wochen wird sich vielleicht noch eine Gelegenheit dazu bieten oder aber es sind Erlebnisse, über die sie vielleicht gar nicht sprechen wollen. Außerdem sind wir schließlich Fremde für sie, die sie erst ein paar Tage kennen.

 

 

Stattdessen reden wir über die Kinder und dass es schön wäre, wenn die noch ein paar mehr Spielsachen hätten, gerade jetzt, wo sie sich überwiegend in der Wohnung und miteinander beschäftigen müssen. Rainer und ich werfen noch einmal ein, dass wir uns um die Anmeldung im Kindergarten kümmern, die sich leider noch etwas hinzieht und die elfjährige Nachbarstochter verspricht, ihre alten Spielsachen auszusortieren und gleich morgen einiges, was sie nicht mehr braucht, vorbeizubringen. Ich habe einen dicken Kloß im Hals.

 

In der Vorbereitung für diese Patenschaft wurde uns immer wieder geraten, dass wir ehrenamtlichen Helfer uns nur soweit wie nötig einbringen, sprich die Flüchtlinge nicht entmündigen sollen. Außerdem sollten wir aufpassen, nicht zu schnell einen zu emotionalen Kontakt aufzubauen, da es eben auch immer sein kann, dass einige Familien bald wieder abgeschoben werden. In der Theorie klingt das alles ganz logisch. Wenn wir aber mit den Kindern herumtoben und wie jetzt gerade eben auch die Dankbarkeit der Eltern erleben, fällt es schwer, nüchtern zu bleiben. Wir können wohl darauf achten, sie als mündige Erwachsene zu behandeln und nicht zu bevormunden, können aufpassen, dass wir Ratschläge geben und keine Anordnungen, aber einen emotionalen Abstand bewahren, das können wir nicht.

 

 

Bevor wir an diesem Abend nach Hause fahren, schauen wir noch einmal im Kinderzimmer vorbei, um uns von den dreien zu verabschieden. Sofort hängen die Kinder an uns, wollen auf den Arm genommen werden, Ballspielen, gekitzelt werden und das alles am liebsten gleichzeitig. Wer könnte dazu schon nein sagen?

 

Überhaupt finde ich diese Kinder bemerkenswert. Sobald wir uns mit ihnen beschäftigen, können sie vom Toben gar nicht genug bekommen. Wenn wir aber ins Wohnzimmer gehen, um etwas mit D. und F. zu besprechen, bleiben sie meist ruhig in ihrem gemeinsamen Kinderzimmer. Sie spielen und streiten wir alle anderen Geschwisterkinder auch, doch sobald F. sie ruhig ermahnt, ist jede Rangelei sofort beendet. Dabei ist F. selbst erst 22 Jahre alt und nicht einmal die leibliche Mutter der drei, wie wir heute erfahren haben. Als wir nach ihrem laut offiziellen Dokumenten anderen Nachnamen fragten, erklärte D. uns, dass sie seine zweite Frau sei.

 

Ich habe nicht die blasseste Ahnung, wie üblich oder unüblich Scheidungen in Syrien sind und ich will auch nicht zu viel bohren, erst recht nicht nach dem Grund für die Trennung. Fürs erste reicht mir zu sehen, wie liebevoll F. und D. mit den Kindern umgehen und welch zufriedenen Eindruck S., A. und M. machen. Nur manchmal, wenn ich die beiden Mädchen aus dem Augenwinkel beobachte, fällt mir auf, wie gedankenverloren sie ins Nirgendwo starren und ich frage mich, was diese großen, dunklen Kinderaugen in ihrem noch so jungen Leben wohl schon alles gesehen haben.