Fernab der Wirklichkeit

Rufmord, Mord und Nächstenliebe - Teil 1

 

Durch meine Arbeit habe ich viel zu wenig Zeit für D., F. und die Kinder. Rainer fährt in letzter Zeit oft alleine hin, regelt allen Papierkram und was noch so anfällt. Allerdings lässt er allmählich auch durchblicken, wie sehr ihm das stinkt. Zu Recht. Doch die bevorstehenden Wahlen, unser Krimifestival und nicht zuletzt das große Fest zum Lutherjahr nehmen mich beruflich so sehr in Anspruch, dass ich zu nichts anderem mehr komme.

 

Gut, vielleicht habe ich mir im Moment auch etwas zu viel vorgenommen, aber so ist das leider als Selbstständiger. Da zeigt sich wieder einmal, dass ehrenamtliche Arbeit etwas für Frührentner und andere mit zu viel Zeit ist. Allerdings merke ich auch sehr deutlich, wie eng mir „unsere“ Familie inzwischen ans Herz gewachsen ist. Wenn ich sie nicht mindestens einmal in der Woche sehe, fehlen sie mir und auch im Job nehmen sie indirekt immer größeren Raum ein.

 

Bei meiner Arbeit für die Kirche bin ich unglaublich froh, dass die sich damals, als so viele nach Deutschland kamen, sehr eindeutig positioniert hat. Die Nächstenliebe ist das Gebot der Stunde, darum gilt es, Menschen in Not zu helfen. So einfach ist das. Immer wieder kann ich daher also über Hilfen für Flüchtlinge schreiben und über Projekte zur Integration berichten. Na gut, so einfach könnte es sein.

 

 

Politisch sieht es da schon anders aus. Da wird eifrig über gefährlichen Salafismus diskutiert, über die Islamisierung des Abendlandes, über Lügenpresse und alles, was sich sonst noch anbietet. Sicher ist mit der Nächstenliebe nicht alles zu erklären und zu lösen, aber im Grunde doch eine ganze Menge. Politisch hingegen bekomme ich mehr und mehr das Gefühl, dass ganz gezielt Angst geschürt wird, um damit viele Wähler manipulierbar zu machen. Und die etablierten Parteien lassen sich von den Rechten vor sich hertreiben.

 

Natürlich weiß ich, dass uns ein einfaches „ach, die Flüchtlinge warten ja alle nur drauf, sich unserem System anzupassen“ nicht der Realität entspricht. Furcht vor Muslimen zu schüren, die vor gewaltbereiten Islamisten oder anderen Gruppierungen aus ihrem Heimatland fliehen, bringt uns aber auch nicht weiter. Und vor allem bringen uns dich ewig um dieselben Argumente kreisenden Diskussionen nicht weiter. Ich stelle jedenfalls fest, dass ich schon seit Monaten keine Polittalkshow gesehen habe und bilde mir sogar ein, ich könnte, wenn ich den Fernsehton ausstelle, allesamt mitsprechen.

 

Mit dem, was Rainer und ich im Alltag und im Kampf gegen die Hürden der deutschen Sprache und vor allem der deutschen Behörden erleben, hat all das wenig zu tun. Wenn in den Nachrichten über einen islamistischen Terroranschlag berichtet wird, sind F. und D. ebenso entsetzt wie wir und er hat mir schon mehrfach gesagt, dass er überhaupt nicht verstehen kann, dass Menschen, die hier in Deutschland freundlich aufgenommen werden, so etwas tun.

 

Immer mal wieder wird gefordert, Muslime in Deutschland müssten sich deutlicher von solchen Taten distanzieren. Warum sollte sich D. von etwas distanzieren, vor dem er mit seiner Familie geflohen ist. Deutlicher als seine Heimat und alle geliebten Menschen zu verlassen kann man sich doch von den Entwicklungen in einem Land nicht distanzieren, oder?

 

 

Und gibt es ein deutlicheres Zeichen für Integration, als dass wir gemeinsam auf unser Reformationsjubiläum gehen und F. und D. dort sehr interessiert wissen wollen, was es damit eigentlich auf sich hat? Wir feiern 500 Jahre Luther an einem Wochenende in der gesamten Stadt mit Konzerten, Vorträgen, Gottesdiensten und am Samstag auch mit einem großen Markt aller Kirchengemeinden aus der Umgebung.

 

Rainer und Monika kommen her und natürlich treffen wir uns auch mit D. und F. und den Kindern. Für die gibt es viel zu entdecken, Spiel, Spaß, Musik und natürlich noch ein Eis und Kuchen und und und. D. will von mir wissen, wer überhaupt dieser Martin Luther war und ich bemühe mich, ihm zu erläutern, warum es bei uns Christen Protestanten und Katholiken gibt, während er daraufhin versucht, mir die Unterschiede zwischen sunnitischem und schiitischem Islam klarzumachen. Ich befürchte, wir beide sollten mit dem neuerworbenen Wissen lieber in keine Quizshow gehen.

 

Fortsetzung folgt...